Die Hoffnung pflegen
Ja, wenn wir die Hoffnung nicht hätten! Sie ist so etwas wie unsere seelische Atemluft, auch wenn wir ihr Vorhandensein meist nicht bemerken. Und wie gut, dass sie kein Ergebnis logischen Denkens ist, denn sonst wäre sie uns längst ausgegangen. Die Samstagskolumne.
Hoffnung scheint angeboren zu sein. Verlören wir sie, wir würden sterbenskrank und verirrten uns in Einsamkeit. Die Hoffnung ist die Energie, die uns alle zusammennäht zu einem geheimnisvollen, schillernden Puzzle aus Energien. Und je verzweifelter uns die Lage erscheint, desto mehr brauchen wir davon – und bekommen sie meistens auch. Ohne Hoffnung kämen wir morgens nicht aus dem Bett, der Appetit verginge uns und der Durst, die Liebe erschiene uns als sinnloses Unterfangen, jede Aussicht auf Glück würde versiegen.
Und umgekehrt: Ich hege den Verdacht, dass lieblose und glücksferne Menschen entweder gerade dabei sind, alle Hoffnung zu verlieren oder sie schon verloren haben. Wir sollten uns vor ihnen in Acht nehmen.
Anspruch statt Hoffnung
Hoffnung ist keine zur Konsumgesellschaft passende Qualität. Wer in den Supermarkt geht, hofft nicht auf volle Regale; vielmehr beansprucht er sie als sein Konsumentenrecht. Und wenn dann einmal das Toilettenpapier knapp wird, stellt sich das nackte Entsetzen ein. Am Ende müsste man sich mit kleingeschnittenem Zeitungspapier sauber machen oder sich gar reinigen mit den Fingern der linken Hand und Wasser, wie es gläubige Muslime so vorbildlich tun.
In der Konsum- und Wegwerfgesellschaft sind wir hoffnungsnackt, jeder Hoffnung entkleidet; die Hoffnung erscheint uns absurd; denn man hat sie durch Geld ersetzt. Von Hoffnung kann man sich nämlich nichts kaufen. Und wenn es sie in unserer Welt überhaupt noch gibt, so hat sie sich auf die Seite der Verkäufer und Kapitalisten geschlagen, die sich gute Umsätze und gute Renditen erhoffen. So betrachtet sind die Aktiennachrichten so etwas wie kondensierte Hoffnung und die Wall Street ein Highway der Hoffnung.
Hoffnung als Friedensgrundlage
Hoffnung hat Nelson Mandela zum Präsidenten Südafrikas gemacht. Ohne Hoffnung wäre er im Gefängnis verschmachtet, ohne Hoffnung hätte er zur Gewalt gegriffen und seine Leute in den Krieg geführt. Hoffnung ist eine Qualität des Friedens. Wem die Hoffnung ausgeht, der schlägt leichter zu. Denn anstelle der Hoffnung stellt sich ihr Gegenteil ein: die Verzweiflung. Und mit ihr sinkt unser moralisches Niveau, Hoffnungslosigkeit frisst die Seele auf und wird zum Nährboden von Gewalt, Aggression und Krankheit. Wollen wir Frieden bringen, wird das ohne Hoffnung nicht funktionieren. Hoffnung ist kein naiver Glaube ans Gute, sehr wohl aber an die Möglichkeit des Guten bzw. eines guten Endes.
Hoffnung setzt die Welt in Bewegung
Jedes Kind hofft auf die Liebe der Mutter, und jede Mutter hofft, dass die Saat ihrer Liebe im Kind aufgeht und Frucht trägt. Wir legen uns schlafen in der Hoffnung, wieder zu erwachen. Unser ganzer Leib ist Zelle für Zelle Ausdruck der Hoffnung, gesund zu bleiben oder wieder zu werden. Nur als Hoffende begegnen wir dem Tod auf Augenhöhe. Hoffenden begegnen wir als Bettlern in den Fussgängerzonen. Die Hoffenden fliehen vor der Dürre und siedeln in die grossen Städte um; die Müllkippen der Dritten Welt sind von Hoffenden besiedelt.
Hoffende glauben dem Werteversprechen von Hoffnungslosen und machen sich auf den Weg ins «Gelobte Land» – auf der Balkanroute oder übers Mittelmeer, wo sie von jenen abgefangen werden, die ihre Hoffnung gegen Bares getauscht haben. Die Gründe des Mittelmeers sind getränkt von der Hoffnung der Ertrunkenen. Ihre Wellen schwappen an die Küste der Adria, wo die Hoffnungslosen surfen und baden.
Nicht mehr derselbe Mensch sein
Dieser Text ist ein Ausdruck der Hoffnung, dass ihn jemand liest und sich seiner ganz persönlichen Hoffnungslosigkeit stellt. Jedes Wort in jeder Sprache ist das Ergebnis der Hoffnung, der Angesprochene möge diese Kombination aus Buchstaben verstehen, und jeder Satz hofft, den anderen zu erreichen, hofft, nicht am anderen abzuperlen und in den Sand zu seinen Füssen abzurinnen. Und jeder Lesende hofft, wenigstens für die Zeit des Lesens seine Hoffnungslosigkeit zu vergessen, vielleicht sogar etwas dazuzulernen und sich selbst im Idealfall ein Stückchen näher zu kommen.
Als junger Mann hatte ich über die Frage nachgedacht, was eigentlich ein gutes Buch sei, mit dem Ergebnis: Nur ein Buch, das mich so verwandelt hat, dass ich nach der letzten Seite nicht mehr derselbe Mensch bin wie zu Beginn der Lektüre, darf als «gutes Buch» bezeichnet werden. Bis heute entschliesse ich mich erst dann zu einer Lektüre, wenn ich mir genau dies erhoffe.
Aber was meine ich mit «nicht mehr derselbe Mensch sein»? Am Ende eines Buches möchte ich meinen Horizont geweitet, mich vertieft haben, möchte ich mich durch die Augen des Autors ein wenig besser kennengelernt und vielleicht ein wenig mehr Hoffnung geschöpft haben, dass meine Mühen und der Gang der Welt doch nicht so sinnlos sind, wie sie mir oft erscheinen.
Menschen sind wie gute Bücher
So betrachtet durchschreite ich von Tag zu Tag, von Buch zu Buch, von Seite zu Seite und von Wort zu Wort die Universität der Hoffnung. Im Laufe der Jahre habe ich die Menschen diesem Studium hinzugefügt. Denn auch am anderen kann ich wachsen. Jeder Kontakt zu einem Menschen ist so etwas wie ein gutes Buch aufschlagen. So wie gute Bücher sind auch Menschen Expeditionen. Du weisst nie, welchen Abenteuern du begegnest, welches Tier oder welche Pflanze hinter der nächsten Krümmung deines Pfads dich erwartet.
So kann jede noch so kleine Begegnung wertvoll sein und von Anfang an hoffnungsvoll im exakten Sinn des Wortes: voll von Hoffnung. Und wie beim Lesen stellt sich im Austausch mit Menschen die Hoffnung erst dann ein und vertieft sich von Seite zu Seite und von Wort zu Wort, wenn ich aktiv werde und bereit bin zu einer mehr als äusserlichen Begegnung; wenn ich bereit bin, mich umarmen zu lassen.
von:
Über
Bobby Langer
*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».
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