Die kleine Welt der Amazone
Wer sich mit den Entwicklungen menschlicher Organisationsstrukturen auseinandersetzt, kommt mit verschiedenen Bereichen der Gesellschaftswissenschaften, Systemtheorien, Science-Fiction-Literatur und früher oder später mit staatenbildenden Insekten in Berührung. Zum Beispiel mit der Amazonenameise.
Foto: Ameisenportal.de
Fütterung vor einem Polyergus-Nest mit der sehr seltenen Kombination v. Hilfsameisen aus F. fusca und F. cunicularia, Foto: Ameisenportal.de

Das Sozialverhalten dieser Tiere erreicht zwar nicht im Ansatz die Komplexität menschlicher Gesellschaften, bei einigen Arten finden sich aber erstaunliche Parallelen zum Zivilisationsprozess. Die Art Polyergus rufescens zum Beispiel, die unter dem Namen Amazonenameise bekannt ist, hat den Einsatz von Propaganda perfektioniert und ihre ganze Existenz auf Raub, Mord und Sklavenhaltung aufgebaut.

Die Instinkte für Nestbau, Brutpflege und Nahrungsbeschaffung sind bei der Amazonenameise völlig verkümmert (1). Die Männchen taugen nur zur Fortpflanzung. Die Königinnen und Arbeiterinnen sind voll und ganz auf Kriegsführung und Raub spezialisiert. Ihre Mundwerkzeuge sind zu fürchterlichen Waffen ausgeformt mit denen sie effektiv töten, aber keine Nahrung aufnehmen können. Die Amazone muss gefüttert werden, damit sie nicht verhungert.

Um diese und die Vielzahl anderer Arbeiten zu erledigen, ohne die ein Ameisenstaat nicht existieren kann, beschafft sich die Amazonenameise Sklaven. Deren Anteil an der Gesamtpopulation beträgt bis zu 90 Prozent. Regelmäßig werden bestimmte Ameisenarten, sogenannte Sklavenameisen, überfallen. Sie sind der Amazone, die mit einer Körperlänge von bis zu 9 Millimetern kein Gigant ist, militärisch deutlich unterlegen.

Die Angegriffenen werden nicht nur mit den mächtigen Beißwerkzeugen in Schach gehalten. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kommen bei den Überfällen auch Pheromone zum Einsatz, die normalerweise zur Informationsübertragung zwischen den Individuen innerhalb einer Art dienen. Dadurch stiftet die Amazonenameise in den Reihen der Verteidiger Verwirrung und bricht ihren Willen zum Widerstand. Sie kann dann praktisch ungehindert die Brut, das wertvollste Gut, das ein Ameisenvolk besitzt, stehlen und in ihr Nest schleppen.  

Der geraubte Nachwuchs wird von anderen gefangenen Ameisen aufgezogen. Damit die Häftlinge ihre Identität vergessen und nicht revoltieren, werden sie mit Propagandapheromonen zugedröhnt. Ihnen wird suggeriert, dass sie ein Teil der Gemeinschaft sind und zu den Amazonen gehören. Die lassen sich von ihren gestohlenen Dienern, die arbeiten müssen, bis sie tot umfallen, liebevoll umsorgen.

Um den Nachschub an Sklaven zu sichern, werden Kundschafter ausgeschickt. Die suchen nach Nestern, die ausgeraubt werden können, und legen eine Duftspur zum Ziel. Um sich als Art zu verbreiten, beteiligen sich junge Königinnen an den Raubzügen. Im Idealfall dringt eine von ihnen in den Bau der Sklavenameisen ein. Dort sucht sie nach der Königin, um die lästige Konkurrentin zu ermorden und den Thron zu besteigen. Das gelingt nicht immer.

Die Beziehung zwischen den Sklavenjägern und den Sklavenvölkern findet langsam ein Ende. Die Amazonenameise ist in Mitteleuropa vom Aussterben bedroht. Die fortschreitende Umweltzerstörung und der wachsende Widerstand der Sklavenvölker machen ihr zu schaffen. Die einen verstecken ihren Nachwuchs unter Blättern oder auf Grashalmen, in der Hoffnung, er wird nicht entdeckt. Andere verbarrikadieren die Eingänge zu ihren Nestern – sofern sie schneller sind als die anrückende Amazonenarmee. Und dann gibt es noch Ameisen, die einen Befreiungskrieg führen. Sie sind gegenüber der Amazone besonders aggressiv, greifen ihre Scouts an und bringen sie um.

So ungefähr stellt sich auch die Lage in der Welt dar. Die Basis von Frieden ist Freiheit. Ihr voraus geht die Befreiung von der Unfreiheit. Solange aber Unfreiheit für die Masse der Menschen die Realität darstellt, ist das Wort Frieden nichts weiter als Propaganda.


Quellen und Anmerkungen

(1) Ameisenportal: Die Amazonenameise Polyergus rufescens. Verfügbar auf https://ameisenportal.de/viewtopic.php?f=48&t=506, abgerufen am 25.4.2025.

Gunther Sosna

Gunther Sosna
Gunther Sosna

Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er arbeitete als Handballtrainer und ab Ende der 1990er-Jahre als Journalist für Tageszeitungen und Magazine. Später war er als leitender Redakteur für Fachpublikationen tätig sowie in der Unternehmenskommunikation, Werbung und international in PR und Marketing. Er ist Initiator entkommerzialisierter Medienprojekte sowie verschiedener gesellschaftspolitischer Video- und Audioformate (Neue Debatte, Reiner Wein, Arts & Culture usw.) und der Zukunftskonferenz, die 2021 und 2022 unter dem Slogan „Weil es anders geht" in Wien stattfand. Als Autor, Co-Autor und Ghostwriter publizierte er zahlreiche Artikel und Essays über soziologische Themen, Militarisierung, gesellschaftlichen Wandel und die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems auf Natur und Menschheit. Im westafrikanischen Mali engagiert er sich in der Initiative „Caravan – Dialog of Cultures" und beim Aufbau des Global Discussion Club.

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