Die Lämmer zum Schweigen bringen – oder: Wie Propaganda funktioniert

Das erste Opfer in einem Krieg ist immer die Wahrheit, heisst es. Der erfahrene und vielfach prämierte australische Journalist John Pilger zeigt an vielen Beispielen, wie die Kriege zuerst in unseren Köpfen entstehen. Am Ende ist es das Mitläufertum und das Schweigen der Lämmer, das darüber entscheidet, ob es Krieg gibt. Der Beitrag stand zuerst in MintPress News, wir haben ihn auf deutsch übersetzt und ganz leicht gekürzt.

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In den 1970er Jahren traf ich eine der führenden Propagandisten Hitlers, Leni Riefenstahl, deren epische Filme die Nazis verherrlichten. Wir wohnten zufällig in der gleichen Hütte in Kenia, wo sie einen Fotoauftrag hatte. Sie war dem Schicksal anderer Freunde des Führers entgangen. Sie sagte mir, dass die «patriotischen Botschaften» ihrer Filme nicht durch Befehl von oben möglich gewesen seien. Sondern durch das, was sie die «unterwürfige Leere» des deutschen Publikums nannte.

Gehörte dazu auch das liberale Bildungsbürgertum? fragte ich. «Ja, vor allem sie», sagte sie.

Daran denke ich, wenn ich mir die Propaganda ansehe, die die westlichen Gesellschaften derzeit überschwemmt. Natürlich sind wir ganz anders als Deutschland in den 1930er Jahren. Wir leben in Informationsgesellschaften. Wir sind Globalisten. Nie waren wir bewusster, mehr in Kontakt, besser vernetzt.

Sind wir das wirklich? Oder leben wir in einer Mediengesellschaft, in der die Gehirnwäsche heimtückisch und unerbittlich ist und die Wahrnehmung nach den Bedürfnissen und Lügen der Staats- und Konzernmacht gefiltert wird?

Einige Fakten: Die USA dominieren die Medien in der westlichen Welt. Bis auf eine Ausnahme haben alle der zehn grössten Medienunternehmen ihren Sitz in Nordamerika. Das Internet und die sozialen Medien - Google, Twitter, Facebook - sind grösstenteils in amerikanischem Besitz und unter amerikanischer Kontrolle.

Zu meiner Lebenszeit haben die USA mehr als 50 Regierungen gestürzt oder versucht zu stürzen, die meisten davon Demokratien. Sie haben sich in demokratische Wahlen in 30 Ländern eingemischt. Sie haben Bomben auf Menschen in 30 Ländern abgeworfen, die meisten von ihnen arm und wehrlos. Sie hat versucht, die Führer von 50 Ländern zu ermorden. Sie haben die Unterdrückung von Befreiungsbewegungen in 20 Ländern bekämpft.

Über das Ausmass und den Umfang dieses Gemetzels wird weitgehend nicht berichtet. Es wird nicht anerkannt. Und die Verantwortlichen beherrschen immer noch ungestört die Politik Amerikas.

In den Jahren vor seinem Tod im Jahr 2008 hielt der Dramatiker Harold Pinter zwei aussergewöhnliche Reden, mit denen er dieses Schweigen brach.

«Die US-Aussenpolitik», sagte er, «lässt sich am besten wie folgt definieren: Küss meinen Arsch oder ich trete dir den Kopf ein. So einfach und so grob ist das. Dabei ist sie unglaublich erfolgreich. Sie verfügt über die Mittel der Desinformation und der Sprachverzerrung, die sehr überzeugend sind, aber in Wirklichkeit nichts als Lügen sind. Sie haben das Geld, die Technologie und alle Mittel, um damit durchzukommen, und sie tun es.»

Und dann, bei der Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur sagte Pinter: «Die Verbrechen der USA waren systematisch, konstant, bösartig, unbarmherzig. Aber nur sehr wenige Menschen haben darüber gesprochen. Das muss man den Amerikanern lassen: Sie haben weltweit Macht manipuliert, während sie sich als eine Kraft des universellen Guten ausgaben. Das ist ein brillanter, höchst erfolgreicher Akt der Hypnose.»

Pinter war ein Freund von mir und möglicherweise der letzte grosse politische Weise. Ich fragte ihn, ob die «Hypnose», auf die er sich bezog, die von Leni Riefenstahl beschriebene «unterwürfige Leere» sei.

«Das ist dasselbe», antwortete er. Es bedeute, dass die Gehirnwäsche uns gründlich darauf programmiert hat, Lügen zu schlucken. Wenn wir die Propaganda nicht erkennen, akzeptieren wir sie und glauben sie. Das ist die unterwürfige Leere.»

Im heutigen, von Konzernen gelenkten System ist der Krieg eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Es ist die perfekte Verbindung von öffentlichen Subventionen und privatem Profit: Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für die Armen. Am Tag nach 9/11 stiegen die Aktienkurse der Kriegsindustrie in die Höhe. Mehr Blutvergiessen war absehbar: gut fürs Geschäft.

Heute werden die profitabelsten Kriege «Ewige Kriege» genannt: Afghanistan, Palästina, Irak, Libyen, Jemen und jetzt die Ukraine. Sie alle beruhen auf Lügen.

Der Irak ist von ihnen der berüchtigtste – mit seinen Massenvernichtungswaffen, die es nie gab. Die Zerstörung Libyens durch die Nato im Jahr 2011 wurde mit einem Massaker in Benghazi gerechtfertigt, das nicht stattgefunden hat. Afghanistan galt als Rachefeldzug für 9/11 – mit dem die Menschen in Afghanistan nichts zu tun hatten.

Heute geht es in den Nachrichten aus Afghanistan darum, wie böse die Taliban sind – und nicht darum, dass Joe Bidens Diebstahl von 7 Milliarden Dollar der Bankreserven des Landes grosses Leid verursacht. Kürzlich widmete das National Public Radio in Washington Afghanistan zwei Stunden - und 30 Sekunden den hungernden Menschen dort.

Auf ihrem Gipfeltreffen im Juni diesen Jahres in Madrid verabschiedete die (von den USA kontrollierte) NATO ein Strategiedokument. Es sieht vor, den europäischen Kontinent zu militarisieren und die Aussicht auf einen Krieg mit Russland und China zu verschärfen. Vorgeschlagen wird ein «Multidomänenkrieg gegen atomar bewaffnete Konkurrenten». Mit anderen Worten: ein Atomkrieg.

Es heisst darin, die Erweiterung der Nato war ein historischer Erfolg. Das konnte ich kaum glauben. Denn eine Folge dieses 'historischen Erfolges' ist der Krieg in der Ukraine. Über diesen wird kaum wirklich berichtet. Was wir statt dessen hören, ist eine einseitige Litanei aus Hurra-Patriotismus, Verzerrung und Auslassung. Ich habe schon über eine Reihe von Kriegen berichtet, aber eine derart pauschale Propaganda habe ich noch nie erlebt.

Im Februar marschierte Russland in die Ukraine ein und reagierte damit auf fast acht Jahre des Mordens und der kriminellen Zerstörung in der russischsprachigen Region Donbass an der Grenze zu Russland.

Im Jahr 2014 hatten die Vereinigten Staaten einen Putsch in Kiew gesponsert, der den demokratisch gewählten, russlandfreundlichen Präsidenten der Ukraine beseitigte und einen Nachfolger einsetzte, den die Amerikaner eindeutig als ihren Mann sahen.

In den letzten Jahren wurden in Osteuropa, Polen, Slowenien und der Tschechischen Republik, amerikanische «Verteidigungsraketen» installiert, die mit ziemlicher Sicherheit auf Russland gerichtet sind. Immer begleitet von Zusicherungen, – angefangen von James Bakers «Versprechen» an Gorbatschow im Februar 1990 – dass die Nato niemals über Deutschland hinaus expandieren würde.

Heute ist die Ukraine die Frontlinie der NATO. Die NATO hat faktisch genau das Grenzgebiet erreicht, durch das Hitlers Armee 1941 gestürmt war. Sie hatten mehr als 23 Millionen Tote in der Sowjetunion hinterlassen. Im vergangenen Dezember schlug Russland einen weitreichenden Sicherheitsplan für Europa vor. Dieser wurde in den westlichen Medien verspottet oder unterdrückt. Wer hat seine schrittweisen Vorschläge gelesen? Am 24. Februar drohte der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyi mit der Entwicklung von Atomwaffen, falls Amerika die Ukraine nicht bewaffne und schütze. Dies war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Am selben Tag marschierte Russland ein – nach Ansicht der westlichen Medien ein unprovozierter Akt von angeborener Infamie. Die Geschichte, die Lügen, die Friedensvorschläge und die feierlichen Vereinbarungen von Minsk zum Donbass zählten nichts.

Am 25. April flog der US-Verteidigungsminister, General Lloyd Austin, in Kiew ein und bestätigte, dass es Amerikas Ziel sei, die Russische Föderation zu zerstören. Das Wort, das er benutzte, war «schwächen». Amerika hatte den Krieg bekommen, den es wollte, geführt von einem von den USA finanzierten und bewaffneten Stellvertreter und einer entbehrlichen Marionette.

Es gibt kein 'Aber' – bis auf eines: Wann hat der gegenwärtige Krieg in der Ukraine begonnen und wer hat ihn ausgelöst?

Fast nichts davon wurde den westlichen Zuhörern erklärt. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist mutwillig und unentschuldbar. Es ist ein Verbrechen, in ein souveränes Land einzufallen. Es gibt kein 'Aber' – bis auf eines: Wann hat der gegenwärtige Krieg in der Ukraine begonnen und wer hat ihn ausgelöst? Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zwischen 2014 und diesem Jahr etwa 14.000 Menschen im Bürgerkrieg des Kiewer Regimes im Donbass getötet. Viele der Angriffe wurden von Neonazis verübt.

Sehen Sie sich einen ITV-Nachrichtenbericht von Mai 2014 an! Darin wird der erfahrene Reporter James Mates zusammen mit Zivilisten in der Stadt Mariupol vom ukrainischen Asow-Bataillon (Neonazis) beschossen.

Im selben Monat wurden Dutzende russischsprachige Menschen in einem Gewerkschaftshaus in Odessa von faschistischen Schlägern, den Anhängern des Nazi-Kollaborateurs und antisemitischen Fanatikers Stephen Bandera lebendig verbrannt oder erstickt. Die New York Times bezeichnete die Schläger als «Nationalisten».

«Die historische Mission unserer Nation in diesem kritischen Moment», so Andreiy Biletsky, Gründer des Asow-Bataillons, «besteht darin, die Weissen Rassen der Welt in einen letzten Kreuzzug für ihr Überleben zu führen, einen Kreuzzug gegen die von den Semiten geführten Untermenschen."

Seit Februar versucht eine Kampagne selbst ernannter "Nachrichtenüberwacher" (die zumeist von den Amerikanern und Briten mit Verbindungen zu den Regierungen finanziert werden) die absurde Behauptung aufrechtzuerhalten, dass es in der Ukraine keine Neonazis gäbe.

Airbrushing (auf deutsch etwa: Wegretuschieren) ist ein Begriff, der einst mit Stalins Säuberungen in Verbindung gebracht wurde. Jetzt ist es zu einem Instrument des Mainstream-Journalismus geworden. In weniger als einem Jahrzehnt wurde ein «gutes» China wegretuschiert und ein «schlechtes» China an seine Stelle gesetzt: von der «Werkbank der Welt» zu einem neuen Satan.

Ein Grossteil dieser Propaganda hat ihren Ursprung in den USA und wird über Vertretungen und «Denkfabriken» wie das berüchtigte Australian Strategic Policy Institute, das Sprachrohr der Rüstungsindustrie, verbreitet. Und über eifrige Journalisten wie Peter Hartcher vom Sydney Morning Herald. Er bezeichnet diejenigen, die chinesische Argumente aufgreifen, als «Ratten, Fliegen, Moskitos und Spatzen» und rief dazu auf, diese «Schädlinge» «auszurotten».

Im Westen dreht sich die Berichterstattung über China fast ausschliesslich um die Bedrohung durch Peking. Doch was ist mit den 400 amerikanischen Militärstützpunkten, die den grössten Teil Chinas umgeben, eine bewaffnete Kette, die sich von Australien über den Pazifik bis nach Südostasien, Japan und Korea erstreckt? Die japanische Insel Okinawa und die koreanische Insel Jeju sind de facto geladene Geschütze, die direkt auf das industrielle Herz Chinas gerichtet sind. Ein Beamter des Pentagon bezeichnete dies als eine «Schlinge».

Auch über Palästina wird, so lange ich denken, kann falsch berichtet. Für die BBC gibt es den «Konflikt» zwischen «zwei Narrativen». Die längste, brutalste und gesetzloseste militärische Besatzung der Neuzeit bleibt dabei unerwähnt. Auch die geplagten Menschen im Jemen existieren kaum in der Presse. Sie sind ein mediales Un-Volk. Während die Saudis ihre amerikanischen Streubomben abwerfen und britische Berater an der Seite der saudischen Zieloffiziere arbeiten, sind mehr als eine halbe Million Kinder vom Hungertod bedroht.

Gehirnwäsche durch Weglassen hat eine lange Geschichte. Das Gemetzel des Ersten Weltkriegs wurde von Reportern unterdrückt, die für ihr Entgegenkommen zum Ritter geschlagen wurden und dies in ihren Memoiren erwähnten: 1917 vertraute der Herausgeber des Manchester Guardian, C.P. Scott, dem Premierminister Lloyd George an: «Wenn die Menschen [die Wahrheit] wirklich wüssten, wäre der Krieg morgen beendet, aber sie wissen es nicht und können es nicht wissen.»

Die Weigerung, Menschen und Ereignisse so zu sehen, wie die Menschen in anderen Ländern sie sehen, ist ein Medienvirus im Westen – und mindestens so lähmend wie Covid. Es ist, als ob wir die Welt durch einen einseitigen Spiegel sehen, in dem 'wir' moralisch und gut sind und 'sie' nicht. Das ist eine zutiefst imperiale Sichtweise.

Die Geschichte, die in China und Russland gegenwärtig ist, wird selten erklärt und selten verstanden. Für den Westen ist Wladimir Putin Adolf Hitler. Xi Jinping ist Fu Man Chu. Epische Errungenschaften wie die Beseitigung der bitteren Armut in China sind kaum bekannt. Das ist pervers und erbärmlich.

Wann werden wir es uns erlauben, das zu verstehen? Die rein funktionale Ausbildung von Journalisten ist nicht die Antwort. Genauso wenig wie die wundersame Digitalisierung der Medien.

In den letzten Jahren wurden einige der besten Journalisten aus dem Mainstream verdrängt. «Defenestriert» ist das Wort, das verwendet wird (wörtlich: aus dem Fenster werfen). Die Räume, die einst für Aussenseiter, für Journalisten offen waren, die gegen den Strom schwimmen, haben sich geschlossen.

Der Fall Julian Assange ist der schockierendste. Als Julian und WikiLeaks noch Leser und Preise für den Guardian, die New York Times und andere selbstgefällige Zeitungen gewinnen konnten, wurde er gefeiert. Als der Staat sich wehrte, die Vernichtung von Festplatten forderte und Julian einen schlechten Charakter nachsagte, wurde er zum Staatsfeind erklärt. Vizepräsident Biden nannte ihn einen «High-Tech-Terroristen». Und Hillary Clinton fragte: «Können wir diesen Kerl nicht einfach mit einer Drohne töten?»

Die darauf folgende Kampagne der Beschimpfung und Verunglimpfung von Julian Assange bezeichnete der- UN-Berichterstatter für Folter als «Mobbing». Es war der Tiefpunkt der liberalen Presse. Ich betrachte sie als Kollaborateure: als Vichy-Journalisten. (Benannt nach der französischen Vichy-Regierung, die mit den deutschen Nazis kollaborierten.)

Wann werden echte Journalisten aufstehen? Ein inspirierender Samisdat (ein Wort für die Untergrund-Medien der Dissidenten in Osteuropa) existiert bereits im Internet. Einige Beispiele: Consortium News, gegründet von dem grossartigen Reporter Robert Parry, Max Blumenthals Grayzone, MintPress News, Media Lens, Declassified UK, Alborada, Electronic Intifada, WSWS, ZNet, ICH, Counter Punch, Independent Australia, die Arbeit von Chris Hedges, Patrick Lawrence, Jonathan Cook, Diana Johnstone, Caitlin Johnstone und anderen, die mir verzeihen werden, wenn ich sie hier nicht erwähne.

Und wann werden die Schriftsteller aufstehen, wie sie es gegen den Faschismus in den 1930er Jahren getan haben? Wann werden Filmemacher aufstehen, so wie sie es in den 1950er Jahren gegen den Kalten Krieg taten? Wann werden die Satiriker aufstehen, wie sie es vor einer Generation taten?

Ist es nicht an der Zeit, dass diejenigen, die 82 Jahre lang in der offiziellen Version des letzten Weltkriegs gebadet haben, ihre Unabhängigkeit erklären und die Propaganda entschlüsseln? Die Dringlichkeit ist grösser denn je.

 

 

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John Pilger, geboren 1939 in Sidney, hat zweimal die höchste britische Auszeichnung für Journalismus erhalten und wurde zum Internationalen Reporter des Jahres, zum Nachrichtenreporter des Jahres und zum Beschreibenden Autor des Jahres gewählt. Er hat 61 Dokumentarfilme gedreht und wurde mit einem Emmy, einem BAFTA, dem Preis der Royal Television Society und dem Sydney Peace Prize ausgezeichnet. Sein Film «Cambodia Year Zero» wird zu den zehn wichtigsten Filmen des 20. Jahrhunderts gezählt. Dieser Artikel wurde am 22. September bei MintPress News veröffentlichtund ist die überarbeitete Fassung einer Ansprache beim Trondheim World Festival, Norwegen. Er kann unter www.johnpilger.com kontaktiert werden.

 

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01. Oktober 2022
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