Die Schule gehört der Gemeinde

Ein Lehrer, der alles weiss und nichts lernt, kann auch nichts lehren. Wohin diese Überzeugung führt, zeigt das Gespräch mit dem portugiesischen Reformpädagogen José Pacheco

José Pacheco, 63, ist in Portugal eine Symbolfigur für alternative Schulbildung. Der kleine, grauhaarige Herr mit Silberblick und Schnauzbart sieht aus wie der nette Lehrer aus dem Bilderbuch. Doch seine Worte sind radikal: «Heute werden Menschen des 21. Jahrhundert von Lehrern des 20. Jahrhunderts nach Methoden des 19. Jahrhunderts unterrichtet.»  Jahrgangsklassen, Prüfungen und Zeugnisse haben nach seiner Auffassung weder eine wissenschaftliche noch eine gesetzliche Grundlage. Vor allem weiss er: Es geht auch ganz anders.
Als junger Lehrer begann er vor fast vierzig Jahren, gemeinsam mit zwei Kollegen, eine staatliche Schule nach und nach zu reformieren. So entstand die «Escola da Ponte» (deutsch: Schule der Brücke) bei Porto, ein Vorzeigeprojekt und eine Referenz für freie Schulen weltweit. Heute lebt José Pacheco in Brasilien.

Zeitpunkt: Aufgrund welcher persönlicher Erfahrungen setzten Sie sich für die Gründung einer neuen Schule ein?
José Pacheco: Ich bin in armen Verhältnissen in Porto unter der portugiesischen Militärdiktatur aufgewachsen. Meine Mutter starb vor Erschöpfung, mein Vater wurde von der PIDE ins Gefängnis geworfen. Ich lernte früh, dass nur radikales Denken eine Veränderung bringen kann. Ich wurde Lehrer, hielt es aber im normalen Schulsystem gerade einmal ein Jahr aus. Wie jeder Lehrer konnte ich nicht glücklich werden, wenn auch nur einer meiner Schüler nicht lernte. Immer fragte ich mich: Warum war das so? Schliesslich wurde mir klar: Es lag an mir. Ein Lehrer, der alles weiss und nichts lernt, kann auch nichts lehren. Heute weiss ich: Ein Charakteristikum eines guten Lehrers ist es, unvollständig zu sein.

Die Gründung der Escola da Ponte geschah kurz nach der Nelkenrevolution. Wie kam es dazu?
Nach der Revolution kamen viele neue Ideen nach Portugal, es war ein sehr lebendiges geistiges Klima. Zur Schulgründung waren wir vor allem inspiriert durch den Befreiungspädagogen Paulo Freires aus Brasilien, aber auch durch Krishnamurti und andere. Die Escola da Ponte ist eine staatliche Schule, in dieser besonderen Zeit war so ein radikaler Ansatz im bestehenden System noch möglich. Wir begannen mit 185 Schülern und drei Lehrern, unterstützt von vielen Freiwilligen. Statt Schulklassen entstanden Projektgruppen, betreut von Lehrern und Laien. Ein grosser Teil des Unterrichtes fand ausserhalb der Schule statt, überall dort, wo das Interesse der Schüler sie hinzog und wo sie Menschen fanden, die ihnen etwas zeigen und auf ihre Fragen antworten konnten. Lernen kann überall stattfinden, auf dem Bauernhof, in der Bäckerei, in der Fabrik. So wurde die ganze Gemeinde zu Lehrern: Fabrikarbeiter, Handwerker, Bettler und Hausfrauen.

Sie sind 2004 mit dem Ordem da Instrução Pública, einer Art Portugiesischem Verdienstkreuz, ausgezeichnet worden, haben aber gleich darauf das Land verlassen, um Ihre Ansätze in Brasilien weiter zu führen. Wie weit sind Sie dort gekommen?
In Brasilien gibt es viel mehr Freiheit. Ich habe dort inzwischen ein Netzwerk von 50 Schulen und 2500 Lehrern und Laien aufgebaut. Auch dort gibt es grosse Herausforderungen. Es gibt vier Millionen Kinder, die gar nicht zur Schule gehen, Strassenkinder in Slums, die als Wegwerfprodukt behandelt werden, die nie Respekt erfahren haben. Sie alle reagieren positiv auf unsere Lernangebote. Während die staatlichen Schulen mit hohen Mauern und elektronischen Toren gesichert sind, sind unsere Schulen immer offen – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Es gibt für sie keinen Grund, Ferien zu machen – ein Krankenhaus macht ja auch keinen Urlaub, ebenso wenig die Neugier und Lernbegierde. So etwas ist möglich in Brasilien, denn dort haben die Gemeinden die Autonomie und Freiheit, die Schule aufzubauen, die ihnen entspricht.

Was ist der zugrunde liegende Gedanke einer alternativen Schule?
Jeder Schüler ist ein einzigartiges Wesen, in Gemeinschaft mit anderen einzigartigen Wesen. Wenn Kinder so behandelt und respektiert werden, lernen sie alles sehr schnell. Wenn ein Schüler nicht lernen will, ist entweder er krank oder die Schule ist krank.

Worin besteht die Rolle des Lehrers?
Ein Lehrer, der allein vor einer Klasse steht, ist verloren – und versucht, seine Einsamkeit und seine Angst hinter Strenge oder dem Lehrplan zu verbergen. Lehrer sind nicht dafür da, den Kindern fertiges Schulbuchwissen zu vermitteln, sondern ihre Fragen zu wecken und ihnen dann zu zeigen, wo sie die Informationen herbekommen können, um sie zu beantworten. So entstehen fächerübergreifende Lehrprojekte, die den Wünschen und der Begeisterung der Kinder folgen. Noch einmal: Der Lehrer soll selbst keine Projekte starten oder Pläne machen. Der Ausgangspunkt des Unterrichtes ist die Aktion des Schülers. Der Lehrer hilft ihm, Information in Wissen umzuwandeln.

Folgen Sie einem Lehrplan?
Wenn wir einem vorgegebenen Curriculum folgen, verlieren wir die Fähigkeit zuzuhören. Es gibt aber ein subjektives Curriculum, das jedem Kind innewohnt und dem es mit Liebe und Begeisterung folgt. Begeisterung ist das Geheimnis wirklich effektiven Lernens. Mit jeder Frage, die wir ernst nehmen und nicht gleich mit einer fixen Antwort abspeisen, sondern aufgreifen – z.B. warum lebe ich in einer Favela, woher kommen die Favelas überhaupt? – haben wir einen Einstieg in alle Unterrichtsfächer, von Geographie über Geschichte bis hin zu Ökonomie und Botanik. Aber nicht der Lehrer soll sie beantworten. Die Kinder ziehen los, forschen und befragen alle möglichen Menschen, bis sie ein Wissen zutage fördern, das kein Lehrer ihnen hätte erzählen können und das in keinem Schulbuch steht. Der Lehrer kann ihnen aber zeigen, wie sie das Wissen kommunizieren, verwenden, bewerten – und in Aktion umsetzen.

Welche Rolle hat die Gemeinde, in der die Schule liegt?
Die Schule gehört nach meiner Auffassung der Gemeinde. Die Gemeinde sollte Autonomie in der Schulbildung erhalten – aber im Netzwerk mit anderen Schulen des Landes und den Bildungsbehörden. Autonomie heisst, zu wissen, was man tut und warum man es tut. Kein Staat hat meiner Meinung nach das Recht, eine Gemeinde zu etwas zu zwingen, das gegen das Wohl ihrer Kinder ist. Wenn ein Gesetz Veränderung nicht zulässt, müssen wir halt die Gesetze verändern. Jede Gemeinde ist anders, und so ist auch jede Schule anders. Die Grenzen zwischen Schule und Gemeinde sollen verschwinden. In einer Favela mobilisierten die Kinder einer unserer Schulen Nachbarn, Freunde, Familien und organisierten die Reinigung, Müllbeseitigung und einen Spielplatzbau in ihrem Viertel. Was die Kinder bei einer solchen Aktionen lernen, ist fächerübergreifend und direkt aus dem Leben. Sie lernen Bürgerrechte und Bürgerbeteiligung nicht in Büchern und Hausaufgaben, sondern indem sie es real tun – und das werden sie nie vergessen.

Was tun, wenn ein Kind gar keine Neugier zeigt?
Da gibt es für mich die Grenze der antiautoritären Erziehung. Wenn Kinder geschädigt sind und ihre Neugier verschüttet wurde, muss manchmal der Lehrer eingreifen und es mit Fragen provozieren: Was willst du? Das geht nur mit Respekt und Kontakt. Die Qualität des Lernens folgt der Qualität der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.

Sie nennen das Schulsystem unbeugsam. Wie kann dennoch eine Veränderung geschehen?
So wie alle Kinder lernen können, können alle Erwachsenen lernen zu lernen. Es wird am Anfang nur wenige Lehrer geben, die zu einer Veränderung bereit sind, denn viele sagen: Ich habe nur Frontalunterricht gelernt, nichts anderes. Wenn ein Lehrer aber in aller Bescheidenheit beschliesst, sich zu verändern, dann ändert sich alles um ihn herum. Der Auslöser für die Veränderung muss aber durch Elterninitiativen kommen. Ernsthaft besorgte Eltern können erreichen, dass an einigen Orten Prototypen für neue Schulen entstehen. Dort wird man ganz praktisch erfahren, was Erfolg hat und was nicht. Der Erfolg wird andere Lehrer anziehen, und so breitet sich das Modell aus und wird mit der Zeit einen politischen Wandel herbeiführen. Natürlich müssen wir auch lernen, mit den Vertretern der Staatsmacht zu kommunizieren. Wir sollten nie ein Projekt starten, in dem die regionalen Behörden nicht repräsentiert sind. Oder jemand von der Universität, denn sie haben viel von Schulen zu lernen.
Wichtig ist die Vernetzung der neuen Schulen. Jede Schule ist unterschiedlich, das ist richtig, aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Diese möchten wir zusammenfassen zu einer Charta der gemeinsamen Prinzipien, die ein neues Bild der Gesellschaft reflektieren. Konkrete Schulmodelle und Netzwerkarbeit, Dialog mit den Vertretern der Systeme und Theoriebildung für das Neue, das sehe ich als den Weg der Veränderung.

Das Gespräch führte Leila Dregger.

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José Pacheco hat einen Master in Pädagogik und ist Autor verschiedener Bücher: Quando eu for grande, quero ir à Primavera (2000); Sózinhos na Escola (2003); Caminhos para a Inclusão (2006). Alle nur auf portugiesisch lieferbar.



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28. August 2014
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