Die Stadt schrumpft, der Mensch wächst

Die ehemalige Autostadt Detroit ist mit 200 Gemein­schaftsgärten eine Art Mekka des «urban gardening». In den Gärten gedeiht nicht nur Gemüse, sondern eine neue post-industrielle Kultur.

Nach zehn Stunden Fahrt im Nachtbus ohne Heizung steige ich tiefgefroren am Detroiter Busbahnhof aus und ahne, dass mir hier eine ganz neue ästhetische und auch soziale Erfahrung bevorsteht. In der Stadt mit ehemals zwei Millionen Einwohnern leben heute noch gerade 800 000 Menschen, 83 Prozent Schwarze und über 25 Prozent Arbeitslose. Begonnen hatte die «Flucht der Weissen» (white flight) mit den schwarzen Aufständen 1967. Weiter entvölkert wurde die Stadt, als die nordamerikanische Automobilindustrie in den darauf folgenden Jahrzehnten langsam zusammenbrach.

Ich ziehe los, die Sinne offen für Neues. Und es fängt auch gleich an – eine Stadtlandschaft, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Der Busbahnhof liegt am Rande der Innenstadt, deren typisch amerikanische Hochhaussilhouette sich in die Morgensonne erhebt und zumindest auf Distanz noch ganz bewohnt aussieht. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, und hier sieht alles ganz anders aus, ein zentrumsnahes Einfamilienhaus-Wohngebiet mit kleinen Villen aus Holz, von kitschig bis fantasievoll im Stil des frühen 20. Jahrhunderts, mal neo-viktorianisch, neo-kolonial oder neo-barock. Etwa ein Drittel der Häuser ist heruntergekommen, die Farbe und die angeklebten Ziegelsteinverblendungen blättern ab.
Was jedoch stärker verwirrt, sind die vielen leeren Grundstücke. Anscheinend werden in Detroit leerstehende Häuser abgerissen, Bäume, Sträucher und Zäune auf dem Grundstück entfernt, der Boden eingeebnet und dann Gras angesät, um alles übersichtlich zu halten und keine Versteckmöglichkeiten für Obdachlose zu bieten. Diese Stadtlandschaft erinnert an Neubaugebiete, in denen noch nicht alle Häuser gebaut sind und die Pflanzen die Brache noch nicht übernommen haben. Der weite blaue Himmel mit ein paar Wolken und das klare Licht tragen mit dazu bei, dass man wie durch eine Kulisse immer tiefer in den Film «Detroit» eintaucht.

«Couchsurfing» im Trumbullplex, einem Hausprojekt, bestehend aus zwei herrschaftlichen Häusern aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, mit rund zehn zweibeinigen BewohnerInnen sowie Katzen, Hunden, Hühnern, Bienen und Ratten, einer Bühne mit Galerie und Fahrradwerkstatt und zwei grossen Gärten. Vor über zwanzig Jahren von einem KünstlerInnen-Kollektiv für 18 000 Dollar gekauft, wird es seitdem von unterschiedlichsten Leuten bewohnt. Angeschlossen ist ein Netzwerk von Leuten, die die Veranstaltungsräume bespielen oder hier arbeiten, drucken, rumhängen, gärtnern. Die meisten sind weiss, jung, punkig, schräg, ‹queer›.
Wir fühlen uns sofort zuhause in diesem anarchistischen feministischen Trumbullplex mit all den Postern und Flyern und ihrer internationalen Agitationssprache und Symbolik. Ich denke an meine hausbesetzenden FreundInnen daheim in Kreuzberg und Friedrichshain und fange an zu kochen und zu putzen, denn hier wie dort wird gemeinsam lecker gegessen, und es ist dreckig. Es ist gerade Erntezeit und es gibt Unmengen von Tomaten, Kürbissen, Pfirsichen, Basilikum und Salaten aus dem Garten. In einem Nachbargarten grasen Ziegen, die gemolken werden, auch wenn die Milch anscheinend keinen grossen Absatz im Haus findet.
Eine eigenartige Vorstellung: Während wir Häuser besetzen müssen, könnten wir uns hier eines leisten, nach Belieben kreativ gestalten, und die Nachbarschaft freut sich über neue BewohnerInnen. Die nächsten Tage werden wir noch mehrere ähnliche Haus- und Nachbarschaftsprojekte kennen lernen. Die niedrigen Lebenshaltungskosten und der reichliche Freiraum ziehen experimentierfreudige junge Menschen aus aller Welt an, viele sind Künstler und alle gärtnern sie auf die eine oder andere Art. Oft werden ganze Häuserblocks in Gesamtkunstwerke verwandelt.
Ich bekomme sogar ein eigenes Zimmer, da dessen Bewohnerin den Sommer über sowieso im ausgebauten Schulbus im Garten unter der grossen Eiche wohnt. Ich finde ein Fahrrad, auf dem ich die nächste Woche Detroit unsicher mache, nach einem einzigen erfolglosen Versuch mit den unzuverlässigen öffentlichen Bussen und der darauf folgenden Fahrt mit einem betrunkenen fluchenden Taxifahrer. Durch diese Fahrradtouren auf den autofreien breiten Detroiter Strassen tauche ich immer tiefer ein in die surreale post-industrielle Landschaft aus Leerstellen, bewohnten und verlassenen Hausruinen, vielen Kirchen und immer wieder Gärten dazwischen. Am Horizont zeugen nicht selten Rauchsäulen von «warm abgerissenen» Häusern.

Die Yes Farm ist ein Projekt, das die «Bejahung» anbaut, züchtet und fördert. Am nächsten Morgen treffe ich «KT» Andresky, die sie zusammen mit zwei Freunden 2008 gegründet hat. Es ist manchmal eine Galerie, ein Atelier, ein Konzertraum, ein selbstorganisierter Jugendclub und auch ein Gesamtkunstwerk. In der Strasse stehen noch sämtliche Häuser. Ein paar Leute, die dort schon vor vierzig Jahren lebten, haben ihren wegziehenden Nachbarn ein Haus ums andere abgekauft. Damit sie nicht ganz alleine in der Strasse mit lauter leeren Häusern bleiben, vermieten sie diese. Auch hier wieder das komische Gefühl, in einer irrationalen Welt gelandet zu sein: Eine ganze Strasse für Künstler umgeben von Brachen und eine von Drogendealern und Zuhältern kontrollierte Gegend, in der die Polizei kaum Streife fährt und einzig die Müllverbrennungsanlage ohne Abgasfilter noch funktioniert, gegen die die Zurückgebliebenen gemeinsam kämpfen. Auch hier wieder zwei grosse Gärten, deren Ertrag teilweise auf den Bauernmärkten der Stadt verkauft wird.
Wir sind voller Bewunderung für den Elan und den Mut von KT, hier einen Gegentrend zum Verfall – immer noch zieht weg, wer kann – zu starten mit Kunst-, Jugend- und Gartenprojekten und die couragiert mit dem Zuhälterboss von nebenan verhandelt und Alternativen ausprobiert. Gleichzeitig sind wir auch ein bisschen skeptisch, schliesslich ist sie Teil eines weissen bürgerlichen Netzwerks, das sich in dieser von 83 Prozent Schwarzen bewohnten Stadt niederlässt, sich selbst verwirklicht, nette Nachbarschaftsinseln schafft und ab und an auch mal missioniert, auch wenn alle die Absichten gut sind. Weckt das nicht Missstimmungen?

Die ausgedehnten Radtouren kommen mir immer mehr wie eine Reise in die Zukunft der post-industriellen Stadt vor. Die zweihundert Gemeinschaftsgärten, deretwegen ich nach Detroit gekommen bin, sind zum Grossteil in den letzten fünf Jahren überall zwischen den Hausruinen entstanden. Dort wächst Gemüse und Tiere werden gehalten, meist Hühner, manchmal auch Ziegen und Pferde. Die Gartennutzungen sind zwar formell nicht erlaubt, aber die Stadtverwaltung schaut wohlwollend weg. Überhaupt scheint es, als ob eine Stadtplanung in Detroit nicht existierte. Seit über vierzig Jahren entleert sich die Stadt und ausser neuen Abrissplänen scheint es keinen Umgang mit der Schrumpfung zu geben. Angeblich wird im Moment zum ersten Mal an einem Strategiepapier gearbeitet. Umso wichtiger sind die basisorganisierten Gärten und das Netz der Bauernmärkte zum Verkauf der angebauten Produkte. Zum einen wegen der wohnungsnahen Versorgung mit Nahrungsmitteln, aber auch, um den öffentlichen Raum zu gestalten und zu sichern. In der Stadt, in der Geschäfte und soziale Zentren schliessen, sich Kriminalität ausbreitet, die menschenleeren Strassen teilweise nicht mal mehr beleuchtet werden, geschweige denn von Polizeistreifen befahren werden, ist es um so wichtiger, öffentliche Räume selber und sicher zu gestalten und Treffpunkte aufzubauen.

Fünfzehn Kilometer durch menschen- und autoleere Strassen quer durch Detroit radle ich ein paar Tage später zu einem Interview in der D-Town Farm des «Detroit Black Community Food Security Network». Auch dieses Projekt ist rund um einen Garten entstanden, geht aber weit über das einfache Gärtnern hinaus. 2006 hat ein Kollektiv schwarzer AktivistInnen angefangen, die eigene Grundversorgung mit Nahrungsmitteln selber an die Hand zu nehmen. Auf über einem Hektar werden ökologisch Gemüse angebaut, Pilze gezüchtet, Bienen gehalten und es wird kompostiert. Die Gemüse werden direkt im Garten, auf Bauernmärkten, in einem mobilen Gemüsebus oder per Lastenfahrrad vertrieben. Ausserdem werden einige Schulküchen beliefert. Im Garten finden Schulungen und Gesundheitschecks statt; er übernimmt damit die Funktion der in den letzen Jahren geschlossenen Gemeindezentren. Der Garten ist also nicht nur Ort der Nahrungsmittelproduktion und Symbol der Unabhängigkeit von staatlichen Hilfeleistungen, sondern auch Ort der politischen Organisation und des Widerstands.
Gartenarbeit zu leisten ist für Schwarze in den USA nicht selbstverständlich, denn Landarbeit ist mit vielen Traumata beladen. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war Landwirtschaft in den USA mit Sklaverei verbunden und die Erinnerung daran ist wach. Die Gärtner der D-Town Farm transformieren dieses kulturelle Trauma und beginnen Landwirtschaft als Selbstermächtigung zu beschreiben.
Mit den zahlungskräftigeren Weissen hat 2004 die letzte Supermarktkette Detroit verlassen, viele Quartiere gelten inzwischen als «Lebensmittel-Wüsten». Dort sind die einzigen Geschäfte «Liquor Stores», deren Angebot sich fast nur auf Fertigprodukte beschränkt und die oft bereits abgelaufene Lebensmittel verkaufen.
Doch seit einigen Jahren entsteht ein alternatives Ernährungssystem. Um die in den unterschiedlichen Gemeinschaftsgärten angebauten Produkte und auch Eier, Milch und Honig zu vermarkten, ist ein Netz unterschiedlicher «Farmers Markets» in der Stadt entstanden.

Das «Detroit Black Community Food Security Network» ist Teil der politischen und sozialen Bewegung für Ernährungsgerechtigkeit, die in den letzten Jahren in ganz Nordamerika aktiv ist. All die Kräfte, die an der offiziellen Politik verzweifeln, scheinen sich bei diesem Thema zu finden: Gesundheits-, Ernährungs- oder Ökologiefragen, Gender-, Ureinwohner- oder Migrantenrechte – alles wird in und durch Gärten und Ernährung verhandelt. In dieser Gruppe, auch schon «Black Panter der Food Justice Bewegung» genannt, werden die Missstände klipp und klar benannt und Alternativen entwickelt.  
Malik Yakini, Vorsitzender und die Geschäftsführerin Monika White beschreiben, wie immer mehr junge, gutmeinende NGOs mit ihren jungen, weissen Mitarbeitern in mehrheitlich schwarzen Nachbarschaften Ernährungsprojekte durchführen. Sie sehen darin manchmal Missionierungsversuche ohne echtes Selbstermächtigungspotiential für die Schwarzen. Ihnen wäre es lieber, diese jungen Menschen würden die schon existierenden lokalen Basisbewegungen unterstützen, deren Ideen folgen und darauf hinarbeiten, sich selber überflüssig zu machen, anstatt weiterhin Fördergelder im Namen der Armen abzuschöpfen.
Immerhin gibt es in Detroit seit einem Jahr ein monatliches Treffen von weissen und schwarzen Ernährungsaktivisten, um sich über die Rassismen innerhalb der Ernährungsgerechtigkeitsbewegung auszutauschen.

Die Erfahrungen in Detroit sind lehrreich. Die postindustrielle Schrumpfung einer Stadt läuft in den neoliberalen USA und ohne sichtbare Stadtplanung besonders drastisch ab. Gleichzeitig entwickelt sich eine widerständigere Basisbewegung. Die Stadt schrumpft, der Mensch wächst.

Ella von der Haide ist Dokumentarfilmerin und Gartenaktivistin. Sie forscht und filmt seit vielen Jahren weltweit in Gemeinschaftsgärten. Infos zu den Dokumentarfilmen über urbane Landwirtschaft in Buenos Aires, Südafrika, Berlin und Nordamerika: www.eine-andere-welt-ist-pflanzbar.de [email protected]
15. März 2011
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