Die Strategie der friedlichen Umwälzung

Wer soll das Steuer herumreissen? Die allmächtigen Banker oder die ohnmächtigen Politiker? Oder vielleicht sogar wir selbst?

Wie soll das nur weitergehen? Rettungen in Billionenhöhe, Wachstumsprogramme und Reformen – alles vielleicht gut gemeint, aber nicht nur wirkungslos, sondern sogar schädlich. Sanktionen gegen Schurkenstaaten und hin und wieder ein chirurgischer Krieg – haben sie die Welt sicherer gemacht? Überwachung zur Wahrung der Freiheit, Grenzwerte zum Schutz unserer Gesundheit, Optimierung von der Wiege bis zur Bahre – wird das Leben für die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner der Erde wirklich besser?


Wer will, kann zwar einen gewissen Fortschritt durchaus erkennen: Die Handys werden smarter, wir sind vernetzt mit unbekannten Freunden, klicken auf Petitionen zur Rettung der Welt und kaufen Produkte mit dem richtigen Logo. Und natürlich sind – ganz ohne Ironie – an vielen Orten gutwillige Menschen am Werk, die sich alle Mühe geben, den berühmten Schmetterling am Leben zu halten, damit sein Flügelschlag am anderen Ende der Welt vielleicht den reinigenden Sturm auslöse, der die Teppichetagen der grossen Abräumer leer fegt.


Aber mal ganz nüchtern: Können wir den Durchhalteparolen der Politiker noch glauben? Dass es uns schlechter gehen muss, damit es uns besser geht? Dass wir unfrei werden müssen, um frei zu sein? Sind wir noch auf dem Weg zu einer Welt der Gerechtigkeit, in der die Menschen selbstbestimmt leben können? Oder bewegen wir uns nicht schon so lange in die entgegengesetzte Richtung, dass wir es gar nicht mehr bemerken? Und wer soll das Steuer herumreissen? Die allmächtigen Banker oder doch eher die ohnmächtigen Politiker? Das Volk, das wir doch angeblich sind? Lauter Fragezeichen und nichts als enttäuschende Antworten.


Zur Abwechslung ein paar Zahlen: Nach jüngsten Berechnungen des McKinsey Global Institute stehen die weltweiten Schulden zur Zeit bei 199 Billionen Dollar – Staaten, Banken, Firmen und private Haushalte zusammengenommen.


Darin sind nicht eingerechnet: die Spezialgesellschaften, die ausserbilanziellen Verpflichtungen, die impliziten Schulden (z. B. künftige Rentenverpflichtungen) und die gigantische Derivatblase von nochmals 1700 Billionen. Dabei handelt es sich um komplizierte Wetten auf die Zukunft, deren Ausgang naturgemäss nicht bekannt ist. Niemand kann also wissen, was per saldo an Verpflichtungen bleibt. Und vielleicht müssen wir es auch nicht wissen.


Die offiziellen Zahlen sind schlimm genug: Bei einem globalen Bruttosozialprodukt von 70 Billionen Dollar müssten wir Erdenbewohner also 2,9 Jahre umsonst arbeiten und von Luft und Liebe leben, um die Schulden ganz abzubauen. Unmöglich! Aber auch ein sanfterer Sparkurs wird uns nirgendwo hinführen. Warum? Wenn all die hochverschuldeten Staaten, Banken, Firmen und Haushalte sparen, bedeutet dies automatisch, dass weniger Geld verdient werden kann und logischerweise auch weniger Schulden abgebaut werden können. Griechenland illustriert diese Sackgasse deutlich: Seine Schulden sind seit 2010 nur moderat gewachsen, aber sein Bruttosozialprodukt ist um rund 30 Prozent gesunken und damit auch seine Fähigkeit geschwunden, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Und: Schlussendlich sind wir alle Griechen!


Der Grund für diese ausweglose Misere liegt in der Geldschöpfung. Alles Geld besteht aus Schulden. Das Problem ist, dass wir nicht nur die Schulden zurückzahlen müssen, sondern auch noch Zins und Zinseszinsen, die in diesem Geldschöpfungssystem fehlen und nur durch weitere Schulden entstehen können. Ein klassisches Schneeballsystem.


Wie viele Versuche wollen wir noch unternehmen, bis wir endlich erkennen, dass wir in einer Sackgasse stecken, bzw. mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit auf deren Ende zurasen? Es ehrt den Menschen, dass er mit seinen Problemen immer irgendwie fertig wird. Aber meistens arbeiten wir uns hart, aber wirkungslos um sie herum, anstatt die Ursachen zu beheben. Oder wir machen ein Geschäft aus ihnen oder hoffen auf einen technischen Trick, der sie beseitigt. Zurzeit sehr beliebt: Lösungen, die keine sind – dafür «alternativlos». Und wir gehen mit, brav, zäh und mit einer Resthoffnung, die eigentlich Mutlosigkeit ist. Wer will schon hinsehen, wenn die Erde ausgepresst wird wie eine Zitrone, deren letzter Tropfen unser Blut sein wird.


Worauf es hinausläuft: Wir sind nicht mehr zu retten. Das ist zwar zunächst eine sehr unangenehme Erkenntnis, aber sie hat nichts mit Defätismus oder Weltuntergangsstimmung zu tun, im Gegenteil. Denn erst wenn wir erkennen, dass wir nicht mehr zu retten sind, können wir uns retten. Wie andere grundlegende Paradoxien des Lebens, erschliesst sich auch diese nicht auf Anhieb. Wer zieht schon gerne in Betracht, dass das Gegenteil wahr sein könnte? Mit der Rettung verhält es sich wie mit der Freiheit: Sie ist erst zu gewinnen, wenn wir darauf verzichten.


Denn mit dieser Erkenntnis kann sich das Blatt wenden. Die Aufgabe eines sinnlosen Kampfes bedeutet ja nicht Tatenlosigkeit, sondern die grosse Chance auf eine strategische Wende. Es braucht also einen Plan.


Damit wir an der richtigen Stelle ansetzen können, müssen wir zunächst die schwächste Stelle  des Systems erkennen, das uns gefangen hält. Wo wird es zuerst brechen, wenn die Spannung weiter zunimmt? Beginnt die heisse Phase der Krise mit dem Untergang der politischen Institutionen? Kippt zuerst das Klima, oder die öffentliche Ordnung? Werden Wirtschaft und Gesellschaft durch Hyperaktivität und Stress lahmgelegt? Verlässt ein Akteur die Spielregeln und wendet Gewalt an, beginnt einen Krieg? Oder liegt die schwächste Stelle im Finanzsystem? Vieles spricht dafür, dass die grosse Umwälzung mit dem Geldsystem beginnt. Es ist seit Jahrzehnten krank und liegt schon so lange auf der Intensivstation, dass es als tot gelten kann. Die Ärzte können jederzeit den Stecker ziehen.


Tatsächlich hat unser Geldsystem seine Funktion zur Erleichterung der Wertschöpfung längst aufgegeben und dient bloss noch der Umverteilung, ist also gewissermassen funktionstot. Wann der Stecker gezogen wird, wissen wir nicht. Wir kennen nicht einmal die Ärzte und wie sie entscheiden. Aber dass sie den Stecker ziehen müssen, ist unausweichlich. Und dann kann es schnell gehen, vielleicht ein paar Monate, Wochen oder Tage, vielleicht auch nur Minuten. Vielleicht erfahren wir an einem Montagmorgen, dass alles ganz anders ist und ab sofort ein neues Geld gilt, die ultimativ-totalitäre alternativlose Lösung.


Die vielen Varianten des Geldsturzes sind ein erhebliches Risiko: Wer sich nicht nur auf einen unbekannten Zeitpunkt einstellen muss, sondern auch auf die verschiedensten Spielarten, kann es nur mit Glück richtig machen – und dieses wird mit Sicherheit nicht eintreten. Denn: Bereiten wir uns auf einen einzigen wahrscheinlichen Ablauf vor, werden wir mit Bestimmtheit falsch liegen. Die Leute auf der Intensivstation werden schon dafür sorgen. Fassen wir dagegen alle Eventualitäten ins Auge, fehlen uns die Ressourcen. Wenn wir also warten, bis der Stecker gezogen wird, liegen wir mit Sicherheit auf verlorenem Posten.


Eigentlich haben wir strategisch nur eine einzige Chance: das Gesetz der Tat anwenden, die Krise beschleunigen und den Zusammenbruch des Geldsystems bewusst herbeiführen. Und – wichtig! – gleichzeitig den Übergang und den Neuanfang planen. Wer sich in Strategie auskennt, wird erkennen: Dies ist nun wirklich alternativlos. Wenn wir nicht wollen, dass die andern es machen, müssen wir es selbst tun.


Wie bringt man ein Geldsystem zum Einsturz? Wir haben ja keinen Zugang zur Intensivstation. Die Antwort finden wir, wenn wir auf das Wesen des Geldes blicken. Geld ist im Grunde ein Recht auf Gegenleistung. Wir leisten etwas und erhalten ein Anrecht auf spätere Gegenleistung. Durch die Übertragbarkeit dieses Rechtes – durch kollektives Vertrauen, dass es honoriert wird! – entsteht Geld. Der Kern des Geldes besteht  also aus Vertrauen. Wird es entzogen, hört das Geld auf, zu existieren. Dass dieses Vertrauen längst nicht mehr gerechtfertigt ist, zeigt die astronomische Verschuldung. Das Geldsystem zerstört sich selber. Wir brauchen zu seiner Beendigung also nichts zu tun! Aus-ser mit der Dummheit aufzuhören, den Beteuerungen der Geldkapitäne zu vertrauen. Aber wir müssen ihnen zuvorkommen, um das Neue gestalten zu können.


Denn mit dem Ende des jetzigen Geldes ist es nicht getan; es braucht auch einen Neustart. Das stellen wir uns unnötig kompliziert vor – wobei es natürlich nicht ganz einfach sein wird. Aber es gibt ein paar leuchtende Beispiele in der jüngeren Geschichte. In Irland waren 1970 die Banken wegen eines Streiks während sechs Monaten geschlossen und Firmen und Menschen bezahlten sich mit Schecks, die erst viel später eingelöst werden konnten. Die Wirtschaft brach nicht zusammen, sie wuchs sogar, allein aufgrund von Vertrauen. In Argentinien brach Ende 2001 das Finanzsystem mit einem Staatsbankrott zusammen. Drei Monate später wurde bereits ein Drittel des Bruttosozialprodukts über alternative Währungen abgewickelt, die wie Pilze aus dem Boden schossen. In Island stellte der Staat nach dem Kollaps seiner Banken 2009 den Zahlungsverkehr sicher und brachte das Land wieder zum Funktionieren, allerdings ohne die Ansprüche der Gläubiger seiner überdimensionierten Banken zu honorieren.


Das volkswirtschaftliche Haus ist also schnell zu bauen, auch ohne internationale Finanzarchitektur. In der Schweiz haben wir ausgezeichnete Voraussetzungen: genossenschaftliche Grossverteiler mit eigener Inlandproduktion und eigenen Banken und einer direktdemokratischen Tradition zur Abwehr hegemonialer Ansprüche und für den erforderlichen konstruktiven Konsens.


Damit ein kollektiver friedlicher Vorstoss auf das Geldsystem funktioniert, muss er gleichzeitig offen erfolgen und unsichtbar bleiben. Offen muss er sein, damit der Austritt aus der Geld-Kirche ansteckende Wirkung entfalten kann. Denn nach Generationen der Verlockungen des Kreditgeldes in Verbindung mit dem wachsenden Mangel, den es zwingend mit sich bringt, wird ein vernünftiges und entspanntes Verhältnis zum Monetären nicht so leicht zu haben sein. Geld wirkt stärker auf unsere Überzeugungen und Handlungen als jede bekannte Religion. Da braucht es Vorbilder, den Bann zu brechen.


Unsichtbar muss der Vorstoss sein, damit er nicht gekontert wird. Denn die Hüter des Glaubens sind wachsam und seine Prediger in der Meinungsindustrie bereit. Unsichtbar wird der Vorstoss sein, wenn er von Individuen und kleine Gruppen getragen wird, mit informeller Koordination, ohne gemeinsame Begriffe, ohne Demonstrationen, die man verbieten oder zusammenschlagen könnte, und ohne Netzwerke, die leicht zu kontrollieren oder lahmzulegen sind. Aber eng verbunden durch die Kraft der Seele und den Elan der Befreiung, die allen Menschen guten Willens gegeben sind – eine Ausbreitung des revolutionären Feuers, nicht durch Gewalt, sondern durch das in sich ruhende Bewusstsein und die tätige Liebe. Die langersehnte Vereinigung von Geist und Gemeinschaft.


Die Frage nach dem Beginn ist bereits beantwortet: Es hat bereits angefangen – in den Köpfen der zahlreicher werdenden Menschen mit der Erkenntnis, dass es so nicht mehr weitergeht, wenn es so weitergeht, um mit Erich Kästner zu sprechen. In der Tat begegnet man in allen gesellschaftlichen Schichten Menschen, selbst Bankern, die im vertraulichen Gespräch zugeben, dass sie den Glauben an die Reparaturfähigkeit des Systems aufgegeben haben. Warum sprechen wir nicht einfach offen und öffentlich darüber? Der Wahrheit ins Auge zu blicken tut immer gut, gerade wenn sie unangenehm ist.



(Vielleicht sind diese Überlegungen etwas naiv, romantisch und grössenwahnsinnig zugleich. Naiv, weil Aufklärung über Geld schon in unzähligen Schriften erfolglos versucht wurde; romantisch, weil die Kraft der Ideen und Gefühle immer bemüht wird, wenn keine Tat mehr zu helfen scheint; und grössenwahnsinnig, weil man einen solchen Text nur in der Erwartung schreiben kann, dass er tatsächlich etwas bewirkt. Ich schliesse deshalb mit dem bescheidenen Wunsch, dass die Lektüre wenigstens Spass gemacht hat.)

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Mehr zur Strategie der friedlichen Umwälzung im Buch des Autors «Das nächste Geld», das im Juni in der edition Zeitpunkt erscheint.


Über

Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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