Die unfehlbare Vision des fehlbaren Menschen
Gerechtigkeit ist die Nullstelle der Gesellschaft. Niemand weiss, was Gerechtigkeit ist, aber jeder spricht darüber.
Niemand kann Gerechtigkeit allgemeingültig bestimmen, aber jeder klagt sie ein. Niemand kann exakt erklären, was gerecht sein soll, aber fast jeder fühlt sich ungerecht behandelt. Eine belastbare Definition dessen, was Gerechtigkeit sei, gibt es so wenig, wie es gültige Prinzipien oder einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was gerecht ist (klammern wir die verordnete Gerechtigkeit diktatorischer Despotien aus).
Kein anderer Begriff muss dieser Tage grös-sere weltanschauliche Pfunde schultern. Er trägt zeitweise die gesamte Last gesellschaftspolitischer Diskussionen, weil Interessenvertreter, Lobbyisten und Parteipolitiker das Wort «Gerechtigkeit» mit allzu leichter Hand in den Circus Maximus der Erregungsgesellschaft schleudern, Demoskopen diesen Wurf mit guten Noten honorieren und manche Massenmedien die Raffinesse beherrschen, in gemachte Nester zu springen und sich wahlweise in deren behaglicher Wärme einzurichten oder dieselben zu beschmutzen (was man gleichermassen «Chronistenpflicht» nennt).
Gerechtigkeit wird permanent thematisiert, in Stellung gebracht, benutzt, ausgenutzt, instrumentalisiert, ideologisiert, zerrüttet, gedehnt, verzerrt. Der Begriff ist das philosophisch aufgegossene Fundament einer ratlosen Gegenwartsgesellschaft und eine der zentralen Ideen einer gewünschten Ordnung.
Immer geht es zugleich um alles: soziales Verhalten, praktizierte Ethik, gesetzliches Recht, gesellschaftliche Selbstorganisation; um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit und das Spannungsfeld zwischen individueller Tugend und staatlicher Institution. Der Begriff, so leer wie deshalb verlockend, ist ein modisch gewordenes Füllhorn für diverse Erwartungen, diffuse Wünsche und widersprüchliche Ansprüche. Grössere Hoffnungen gibt es womöglich nur nur noch auf die Liebe, die bekanntlich so herrlich wie ungerecht sein kann.
Wer das G-Wort zur rechten Zeit ausspricht, erregt in jedem Fall Aufsehen und schlägt daraus politisch Kapital. Er ist immer auf der sicheren Seite. Er ist der Held einer gewissen Masse, der Volkstribun in der politischen Arena. Oder nicht? Nein, er ist ein feiger Hund, denn Gerechtigkeit zu fordern ist die wohlfeilste Angelegenheit, die in unseren denkfaulen Tagen denkbar ist.
Ich behaupte, dass es Gerechtigkeit nicht gibt. Gerechtigkeit ist ein Mythos. Eine Hoffnung. Ein Ideal. Ein schöner, edler, vielleicht der schönste, vielleicht der edelste Traum der Menschheit. Das himmlisch-güldne, gelobte Jerusalem. Die unfehlbare Vision angesichts des fehlbaren Menschen. Die romantischste Idee neben der Liebe, hoffnungstrunken, poetisch, unerfüllbar. Aus logischen, psychologischen und intellektuellen Gründen aber ist eine gerechte Gesellschaft nicht möglich.
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Der vorliegende Text ist ein Ausschnitt aus Christian Schüles «Abrechnung» mit der Illusion einer umfassenden Gerechtigkeit. Am Schluss seiner Abrissarbeit kommt der Autor allerdings zu einem versöhnlichen Schluss: «Alles ist nichts ohne Gerechtigkeit. Sie liegt allem zugrunde und schwebt über allem. Sie steckt in uns, in Ihnen, in mir, in den Tiefenschichten der Leibseele (um den Terminus Identität zu vermeiden). Vermutlich ist sie das edelste Instrument, das dem Menschen zur Verfügung steht, weil sich in ihm alles synthetisiert: Gefühl, Vernunft, Moral, Klugheit, Verstand, Ichheit, Wirheit, Tugend, Kompetenz, Bildungsgut, Lernprogramm, Geschichte, Gegenwart, Hoffnung […] – eine Art Gleichgewichtsorgan des menschlichen Wesens in allen Zeiten.»Ein intelligentes Buch. Red.
Christian Schüle (*1970) hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Er hat bisher sechs Bücher veröffentlich, u.a. «Deutschlandvermessung – Abrechnungen eines Mittdreissigers» (Piper, 2006), «Das Ende der Welt – von Ängsten und Hoffnungen in unsicheren Zeiten» (Pattloch, 2012) und «Wie wir sterben lernen – ein Essay» (Pattloch 2013).
Christian Schüle: Was ist Gerechtigkeit heute? Eine Abrechnung. Pattloch Verlag, 2015. 368 S. Geb.€ 20.–. Das Buch erschien Anfang März.
Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone
Kein anderer Begriff muss dieser Tage grös-sere weltanschauliche Pfunde schultern. Er trägt zeitweise die gesamte Last gesellschaftspolitischer Diskussionen, weil Interessenvertreter, Lobbyisten und Parteipolitiker das Wort «Gerechtigkeit» mit allzu leichter Hand in den Circus Maximus der Erregungsgesellschaft schleudern, Demoskopen diesen Wurf mit guten Noten honorieren und manche Massenmedien die Raffinesse beherrschen, in gemachte Nester zu springen und sich wahlweise in deren behaglicher Wärme einzurichten oder dieselben zu beschmutzen (was man gleichermassen «Chronistenpflicht» nennt).
Gerechtigkeit wird permanent thematisiert, in Stellung gebracht, benutzt, ausgenutzt, instrumentalisiert, ideologisiert, zerrüttet, gedehnt, verzerrt. Der Begriff ist das philosophisch aufgegossene Fundament einer ratlosen Gegenwartsgesellschaft und eine der zentralen Ideen einer gewünschten Ordnung.
Immer geht es zugleich um alles: soziales Verhalten, praktizierte Ethik, gesetzliches Recht, gesellschaftliche Selbstorganisation; um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit und das Spannungsfeld zwischen individueller Tugend und staatlicher Institution. Der Begriff, so leer wie deshalb verlockend, ist ein modisch gewordenes Füllhorn für diverse Erwartungen, diffuse Wünsche und widersprüchliche Ansprüche. Grössere Hoffnungen gibt es womöglich nur nur noch auf die Liebe, die bekanntlich so herrlich wie ungerecht sein kann.
Wer das G-Wort zur rechten Zeit ausspricht, erregt in jedem Fall Aufsehen und schlägt daraus politisch Kapital. Er ist immer auf der sicheren Seite. Er ist der Held einer gewissen Masse, der Volkstribun in der politischen Arena. Oder nicht? Nein, er ist ein feiger Hund, denn Gerechtigkeit zu fordern ist die wohlfeilste Angelegenheit, die in unseren denkfaulen Tagen denkbar ist.
Ich behaupte, dass es Gerechtigkeit nicht gibt. Gerechtigkeit ist ein Mythos. Eine Hoffnung. Ein Ideal. Ein schöner, edler, vielleicht der schönste, vielleicht der edelste Traum der Menschheit. Das himmlisch-güldne, gelobte Jerusalem. Die unfehlbare Vision angesichts des fehlbaren Menschen. Die romantischste Idee neben der Liebe, hoffnungstrunken, poetisch, unerfüllbar. Aus logischen, psychologischen und intellektuellen Gründen aber ist eine gerechte Gesellschaft nicht möglich.
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Der vorliegende Text ist ein Ausschnitt aus Christian Schüles «Abrechnung» mit der Illusion einer umfassenden Gerechtigkeit. Am Schluss seiner Abrissarbeit kommt der Autor allerdings zu einem versöhnlichen Schluss: «Alles ist nichts ohne Gerechtigkeit. Sie liegt allem zugrunde und schwebt über allem. Sie steckt in uns, in Ihnen, in mir, in den Tiefenschichten der Leibseele (um den Terminus Identität zu vermeiden). Vermutlich ist sie das edelste Instrument, das dem Menschen zur Verfügung steht, weil sich in ihm alles synthetisiert: Gefühl, Vernunft, Moral, Klugheit, Verstand, Ichheit, Wirheit, Tugend, Kompetenz, Bildungsgut, Lernprogramm, Geschichte, Gegenwart, Hoffnung […] – eine Art Gleichgewichtsorgan des menschlichen Wesens in allen Zeiten.»Ein intelligentes Buch. Red.
Christian Schüle (*1970) hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Er hat bisher sechs Bücher veröffentlich, u.a. «Deutschlandvermessung – Abrechnungen eines Mittdreissigers» (Piper, 2006), «Das Ende der Welt – von Ängsten und Hoffnungen in unsicheren Zeiten» (Pattloch, 2012) und «Wie wir sterben lernen – ein Essay» (Pattloch 2013).
Christian Schüle: Was ist Gerechtigkeit heute? Eine Abrechnung. Pattloch Verlag, 2015. 368 S. Geb.€ 20.–. Das Buch erschien Anfang März.
Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone
26. April 2015
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