Ein Manko des Gehirns oder: Vom Reiz der Umwege

Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können. Was oft nervt, kann auch manchmal ein Vorteil sein.

Eine Entdeckung muss ich unbedingt festhalten, damit sie mir nicht schneller verloren geht, als ich sie aufschreiben kann. Wenn ich etwas tun will, z.B. hier am Laptop, dann sieht die logische Abfolge so aus: Reiz => Absicht => Handlung. Den Reiz lassen wir jetzt mal weg, denn ohne Umweltreize würden wir für alle Zeiten auf der Couch liegen bleiben und uns nicht rühren. Unser Gehirn ist eine auf Reiz-Auswertung programmierte Satellitenschüssel.

Aber sehr oft funktioniert die Reizreaktionskette eben nicht in der Abfolge: Absicht => Handlung, sondern so: Absicht => Umweg => Handlung. Noch häufiger sogar so: Absicht => Umweg => Umweg => Erinnerung => Handlung, und nicht selten so: Absicht => Umweg => Umweg => Erinnerungsversuch => Rückkehr zur ursprünglichen Absicht => Handlung.

Die Struktur des Internets – nämlich ständig woanders hinspringen zu können als dorthin, wo ich eigentlich hinwollte – beweist dieses Manko unseres Gehirns täglich milliardenfach und kostet uns aberbillionen Stunden.

Das, was in der alltäglichen Praxis schon eine Schwierigkeit darstellt (wer kennt das nicht: Man geht mit einer bestimmten Absicht in ein Zimmer und fragt sich: Was wollte ich hier eigentlich?), wird bei Handlungen, die vorwiegend im Kopf stattfinden, noch sehr viel vertrackter (denn unser Gehirn unterscheidet nicht bzw. selten zwischen äusseren und inneren Reizen).

Beispiel: Ich sitze in einem voll besetzten Café an einem kleinen Einzeltisch mit zwei Stühlen. Jemand fragt, ob er oder sie sich dazusetzen könne. Mit anderen Worten: Ich muss mich innerlich dieser Person zuwenden. Rein faktisch betrachtet, könnte ich einfach sagen: Ja (Reiz => Reaktion), und die Situation wäre abgehakt.

Aber jetzt kommt mir das Gehirn dazwischen. Es könnte denken: «Hm … wenn ich jetzt ‚Ja‘ sage und er setzt sich, dann ist kein Platz mehr frei für einen netten Bekannten, der auch hier verkehrt.» Oder: «Hm … wenn der mich jetzt volllabert, kann ich nicht in Ruhe in meinem Buch lesen.» Oder, oder. Schon ist es geschehen: Reiz => Umweg => Reaktion. Letztere könnte dann in diese Antwort münden: «Tut mir leid, aber ich erwarte noch jemanden.» Der abgewiesene Caféhaus-Gast würde sich abwenden und nach einem anderen Platz suchen; ich hingegen würde erleichtert darüber aufatmen, wie gut meine Lüge funktioniert hat.

Dabei weiss ich gar nicht, ob ich mich nicht gerade selbst ausgetrickst habe. Vielleicht war die Person ja der Prinz oder die Prinzessin, auf die ich seit Jahre warte und wegen der ich in diversen Kontaktbörsen unterwegs bin. Oder er/sie hätte mir den Traumjob meines Lebens angeboten. Oder ich hätte einfach nur ein fantastisches Gespräch gehabt.

Wie auch immer. Aus der Situation hätten tausendundeine Möglichkeiten schlüpfen und sich entfalten können, aber der «Umweg» in meinem Kopf hat genau das verhindert. Ich habe der Zukunft regelrecht eins auf den Deckel gegeben, und der Deckel blieb zu.

Vollends ärgerlich und hinderlich werden die Umwege in meinem Kopf, wenn der Reiz nicht von aussen, sondern von innen angeflogen kommt. Vielleicht ist da eine gute Idee aufgepoppt (wen ich mal wieder anrufen sollte | was ich schon lange mal lesen wollte | ein guter Tipp von X, den ich unbedingt umsetzen sollte usw.); aber während ich die Idee noch zu fassen versuche, kommen mir Assoziationen in die Quere, die die Idee bis zur Unkenntlichkeit verwässern oder verdrängen, bis sie mir verloren geht. Weg ist sie – und hätte mich vielleicht vom Tellerwäscher zum Millionär gemacht. So ein Mist aber auch!

So ähnlich funktionierte auch dieser kleine Essay. An dessen Anfang standen zwei Erkenntnisse: Erstens funken mir regelmässig «Umwege» dazwischen, und zweitens: Würde ich mehr Energie in die Umsetzung der Absicht investieren, dann könnte ich mein Leben noch viel wirkungsvoller leben, Träume umsetzen, Kontakte vertiefen, meinen Vorurteilen weniger schnell aufsitzen, bessere Geschichten schreiben, Intuitionen besser auswerten, länger schlafen usw.

Ach, diese Umwege. Aber um zu erklären, was ich damit meine, ist schliesslich dieser kleine Essay entstanden, womit bewiesen wäre, dass auch Umwege ihren Reiz haben und gelegentlich sogar zu produktiven Ergebnissen führen.


 

Über

Bobby Langer

Submitted by cld on Mi, 04/05/2023 - 07:30
Bobby Langer

*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».