Ein «Patensystem» für Flüchtlinge

Eine Migrationsexpertin stellt sich die Frage: Was wäre wenn?

Wenn jeder Flüchtling beim Eintritt in die Schweiz eine Patin oder einen Paten zugeordnet bekommen würde, dann wäre auch Youssef sehr zufrieden. Er würde nicht schier verzweifelt und nervös einen halben Tag vergeuden, um bei «chekes» nachzufragen, wann der wegen eines Behördentermins versäumte Deutschtest nachgeholt werden kann. Die Patin würde ihm sagen, dass die gemeinte Organisation «HEKS» ausgesprochen wird, und dass die immer wieder gewählte Nummer diejenige der Organisation ist, welche die Deutschkurse vermittelt und nicht die der durchführenden Organisation. Für diese Information müsste Youssef nicht auf den Termin beim überarbeiteten Sozialarbeiter in zweieinhalb Wochen warten.


Sowieso wäre Youssef viel entspannter. Er würde gelegentlich der stickigen unterirdischen Unterkunft entkommen und mit der Patin, ihrer Familie und dem Familienhund spazieren und plaudern. Youssef würde erstaunt erfahren, dass er sich in der Schweiz keinen solchen Hund halten könnte, ohne einen Kurs zu belegen (Was in ihm wohl die Frage wecken würde, ob auch dieser in der Wohnung Finken tragen müsste, wie er, wenn er jeweils bei der Patin zu Besuch ist). Durch die Patin würde er neue deutsche Wörter lernen, wie z.B. «Velo», von manchen auch «Fahrrad» oder «Bike» genannt. Welches der drei Wörter er sich merken wollte, müsste er sich noch überlegen.


Ausserdem könnte er mit einem Freund der Patin sprechen, einem Wirt, der dringend eine Arbeitskraft in der Küche braucht. Die Patin würde mit ihm besprechen, was bei der Arbeit in einem Schweizer Betrieb wichtig ist, so könnte es klappen mit dem ersten Job beim kennengelernten Wirt. Aber auch die anderen Freundinnen und Freunde der Patin könnten Youssef das Gefühl geben, irgendwie dazuzugehören. So hätte ihm das Konzert, zu welchem er vom besten Freund der Patin und dessen Fussballkollegen mitgenommen worden wäre, sehr gefallen. Er wäre froh zu sehen, dass sogar die Schweizer sich manchmal auf die Füsse treten. Vor allem täte ihm aber die Ablenkung gut. Die langen, einsamen Abende in der Notunterkunft lassen nämlich so viel Raum für Sorgen und dunkle Gedanken.


Am allerschönsten fände Youssef aber sicher, wenn er jeweils bei der Patin und ihrer Familie zum «Znacht» eingeladen wäre (auch wenn der geschmolzene Käse ihm nur mässig schmecken würde). Er würde finden, dass es heimelig bei der Patin sei, warm und friedlich. Manchmal würde er auch seine beiden besten Freunde und Landsleute aus der Unterkunft mitbringen dürfen. Dann würde er das Gefühl bekommen, dass er das alles packen kann, hier in der Schweiz. Mit seinen Freunden, mit denen er seine Kultur und Sprache bewahren kann, und mit der neuen Patenfamilie, die ihm den schwierigen Weg in die Zukunft in der Schweiz ebnen würde.


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Silvana Menzli ist Verantwortliche Information und Kommunikation bei der Kirchliche Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen (KKF). Als Youssef an diesem Novembertag verzweifelt anrief, fand sie, dass ein national verankertes Patensystem eine wunderbare Sache wäre.


Die KKF ist eine Fachstelle im Asyl- und Integrationsbereich, welche von den Staatskirchen und vom Kanton Bern getragen wird. Die Organisation unterstützt vorläufig aufgenommene Menschen und berät Fachpersonen des Asylbereichs. Bernerinnen und Berner, denen die Vorstellung eines Patensystems gefällt, können im Rahmen des KKF-Projekts «Flüchtlinge zum Essen einladen» Eigeninitiative zeigen und mit einem gemeinsamen Essen beginnen (Anmeldungen an [email protected]).


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