Ein sinnloses Tun
Was wir zufällig einmal beginnen – eine Verrichtung im Haushalt, eine Ordnung im Kleiderschrank, eine Reihenfolge beim Frühstück –, begleitet uns lebenslänglich von da an und wird zu einer Marotte, die wir liebevoll aufrechterhalten, auch wenn der Sturm der Aktualität an die Hausmauern brandet. Unsere Mitmenschen bemerken unser Tun gar nicht. Und wenn sie es doch registrieren, müssen sie lächeln oder ein bisschen spotten. In diesem speziellen Fall geht es um Preisetiketten. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Die explosive, uns alle beunruhigende Weltlage ändert nichts daran, dass der Mensch weiterhin seine grossen und kleinen Gewohnheiten pflegt, die für die Friedensförderung ohne jede Bedeutung sind, den Einzelnen aber dennoch beschäftigen, als wären sie wichtig und sinnvoll.
Mit Preisetiketten stehe ich auf dem Kriegsfuss. Sehe ich auf dem Küchentisch ein Taschenbuch liegen, auf dem noch der Sonderpreis klebt, kann ich daran nicht vorbeigehen. Ich muss die Etikette entfernen, selbst dann, wenn das Buch gar nicht meines ist. Ich muss die Aufkleber immer entfernen, und ich habe in dieser Kunst echtes Können entwickelt.
Darf ich in Kürze zusammenfassen, wie man so etwas macht? Ich gönne mir einen Augenblick Zeit – Ungeduld rächt sich hier ganz besonders –, nehme das Buch mit der Preisetikette zur Hand, schiebe den Fingernagel, der nicht zu kurz sein darf, unter den Rand des Klebers und stupse daran, bis sich der Kleber an einer Ecke abgelöst hat. Dann ziehe ich an der Ecke – sachte, mit Vorsicht – und hoffe, dass mir der Sonderpreis, während ich die Spannung beim Ziehen vergrössere, Millimeter für Millimeter entgegenkommt.
Ich spüre sofort, wie schnell ich den Aufkleber abziehen kann. Manche sind so gut lösbar, dass ich es in einem Zug schaffe. Andere kleben hartnäckiger. Treibt mich die Ungeduld, kann es geschehen, dass sich der Kleber zur Hälfte teilt. Dann muss ich versuchen, die andere Hälfte vom Umschlag zu lösen, um erneut daran zupfen zu können.
Jahrzehntelange Erfahrung hat mich gelehrt, mit Fingerspitzengefühl und Geschick vorzugehen. Manche Kleber klammern sich derart fest an den Untergrund, dass ich sie nur im Zeitlupentempo ablösen kann, wenn ich das Buch nicht beschädigen will.
Manchmal komme ich mitten in meiner Ablösungsarbeit nicht weiter. Das Etikett, an den Rändern zerzaust, klebt noch immer zur Hälfte untrennbar auf dem Buch – ich hätte es besser in Ruhe gelassen. Aber das brächte ich niemals fertig. Vor der Materie darf der Geist nicht zurückschrecken. Also setze ich mein Werk fort, stupse, kratze und löse manche Minute lang, bis vielleicht doch ein Fortschritt feststellbar ist.
Es gab schon Kleber, die ich beim besten Willen und trotz beharrlichster Kleinarbeit nicht beseitigen konnte. Derart kapitulieren zu müssen, war ärgerlich, denn der schönste Moment des Etikettenablösens ist dann erreicht, wenn ich den Kleber sauber und ohne Rückstände abgetrennt habe. Gelingt mir das nicht, dann verunstalte ich mit dem Umschlag auch den Inhalt des Buches. So kommt es mir vor. Ist ein Teil zerstört, ist das Ganze zerstört.
Aber solche Probleme habe nur ich. Julia nimmt die Sonderpreisetikette auf einem Buch gar nicht wahr. Sie liest es einfach – während ich ein Buch mit aufgeklebtem Aktionspreis nicht einmal in die Hand nehmen will. Auch eine Confitüre mag ich nicht essen, solange die Etikette auf ihrem Deckel daran erinnert, dass die Confitüre eine Aktion war. Ebenso unmöglich ist es für mich, ein Haarshampoo zu benützen, wenn der Sonderpreis auf der Packung klebt.
Ich verbringe also – zusammengezählt – viele Stunden meines kostbaren Lebens mit dem Lösen von Etiketten. Ich tue dies, obwohl mich die Etiketten nicht daran hindern, das Handelsgut, auf welchem sie kleben, zu konsumieren.
Meine Tätigkeit – auch mit Blick auf das Weltgeschehen – muss somit als sinnlos bezeichnet werden. Als vergeudete Zeit.
Ich habe mir deshalb Gedanken darüber gemacht, welchen Sinn das Sinnlose hat. Jedes Produkt, so habe ich mir überlegt, hat für mich einen Wert. Selbst das Haarshampoo, das ich verwende. Ich entwickle eine Beziehung zu ihm, wenn ich es kaufe. Ich mag sein Design, seinen Duft, seine Wirkung. Es wird mein persönliches Haarshampoo.
Den Sonderpreiskleber auf meinem Shampoo trifft keine Schuld. Aber er macht es zu einer Ware. Er macht es wertlos. Alles wird durch die Preise wertlos. Die Bücher, die Confitüren, die Shampoos. Weil der Preis den Wert einer Sache auf eine Zahl reduziert. Und weil die Billigaktion den Wert geradezu demütigt. Deshalb mag ich die Aufkleber nicht. Deshalb muss ich sie immer und überall abreissen. Damit die Welt wieder wertvoll wird.
Die nächste Podcast-Kolumne erscheint – ferienbedingt – erst am 24.10.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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