Ein Woodstöckli

Geldfreie (T)Räume: Auf der «Utopikon»-Konferenz im novembergrauen Berlin verbanden 300 vorwiegend junge Leute Realität und Utopie. Eine Erlebnisreise

Beschwingt, voller positiver Energie, kehrte ich zurück von meinem Ausflug nach Utopikon, einer Insel irgendwo zwischen Realität und Utopie. Hab ich ein neues Woodstock erlebt? Nein, nein, ja. Ein Woodstöckli. Das Musikfestival Woodstock war 1969 der Höhepunkt der Hippie-Bewegung, als fast eine Million Menschen Love&Peace als Lebensprinzip demonstrierten; bezahlen mussten sie jedoch. Die Utopikon-Konferenz mit 300 Menschen im novembergrauen Berlin war natürlich viel kleiner. Dafür bewiesen die neuen Hippies mit ihren Duttfrisuren und bunten Kleidern, dass solidarisches Leben und Ganzkörperlernen völlig ohne Geld möglich ist.

Tobi Rosswog (26) und Pia Damm (24) vom Netzwerk «living utopia» haben schon drei sommerliche «Utopivals» mitorganisiert. Heiligabend 2015 kamen sie auf die Idee, eine geldfreie Mitmachkonferenz auszurichten. Sie scharten zwei Dutzend Menschen um sich, alle jung und doch stauneswert erfahren in partizipativen Methoden. Der Kreuzberger CoWorking Space «ForumFactory» stellte Räume kostenlos zu Verfügung. Food Sharer retteten Lebensmittel aus Supermarktcontainern, Aktionsköche rührten das vegane Menü zusammen. Auf Plakaten und im Internet wurden gratis Schlafplätze und Mitfahrgelegenheiten angeboten, auch die «Keynote-Speaker» trugen ihre Fahrtkosten selbst. Viele brachten Klamotten zum Verschenken mit. Die solidarische Selbstorganisation funktionierte. Nur eines vermisste ich, das Konferenzgetränk schlechthin: Kaffee. Es wollten einfach keine zapatistischen Kaffeebauern mit Sack über der Schulter erscheinen.

«Wir wollen Raum schaffen für geldfreie Beziehungen und eine geldfreie Gesellschaft», verkündete der wildhaarige Tobi Rosswog bei der Eröffnung. Fast tausend Menschen hatten sich angemeldet. Weil die ForumFactory nur ein Drittel davon beherbergen konnte, mussten sie die Plätze auslosen. Dreihundert waren nun versammelt, um solidarische Praktiken auszuprobieren. «Alltagskommunismus», nennt David Graeber solch ein herrschaftsfreies Kümmern umeinander.
Es gehe um das «Üben anderer Selbstverständlichkeiten», fand auch Silke Helfrich in ihrer Keynote. Die Commons-Theoretikerin war vor Kurzem bei Cecosesola in Venezuela, dem grössten hierarchiefreien Genossenschaftsverband der Welt, dessen 20.000 Mitglieder seit fast fünfzig Jahren alles selbstorganisiert erledigen – «in einer Sprache, die wir hier nicht verstehen». Fast täglich gebe es Versammlungen. «Da sitzen dann 400 Leute im Kreis und bereden alles, ohne dass jemandem das Wort erteilt wird. Seit Gründung gab es keine einzige Abstimmung.» Mehrheitsentscheidungen seien verpönt, Konsensfindung nicht beliebt. «Konsens spaltet uns, sagen die Leute.» 

Auch der Postwachstums-Theoretiker Niko Paech («Befreiung vom Überfluss») lobte in seiner Ansprache solche «Reallabore» und «reduktiven Lebensstile». In einer Zukunft ohne Natur- und Menschenausbeutung, skizzierte er seine Utopie, werden wir nur noch zwanzig Wochenstunden in einer relokalisierten Wirtschaft arbeiten. Heute schon suffizient zu leben sei so einfach, befand der Professor, der kein Handy besitzt und nicht fliegt: «Man braucht dafür kein Geld, keine Technik, keinen Studienabschluss. Der Rest der Bevölkerung wird euch irgendwann dankbar sein, dass ihr das heute schon vormacht!»
Der feministischen Ökonomin Friederike Habermann («Ecommony») reichte das noch nicht. Rechtspopulisten seien am Erstarken, warnte sie, «weil Menschen das Gefühl haben, es kann nur schlechter werden.» Doch: «Unsere Bewegung könnte entscheidend sein», um Alternativen aufzuzeigen, bei denen «alle nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten leben können». – Aber was referiere ich hier nur Reden? Altes, verstandgesteuertes Denken.

Mindestens genauso wichtig waren Workshops, World Cafés, Kanon-Singen, Graphic Recording, gemeinschaftsbildende Spiele. Zu erleben, wie man blind von jemand geführt draussen das Moos der Stadtbäume erstreicheln kann. Oder das bedingungslose Grundeinkommen auf Gruppenbasis einführen kann. Oder im Alltag Bedürfnisse geldfrei befriedigt. Oder gemeinsam singt und schweigt. Ganzkörperdenken – mit Herz, Verstand und allen Sinnen.
Selbst der Ausklang wurde zum Bewegungsspiel. «Wie hat euch die Konferenz gefallen?», fragte das Organisationsteam. Die allermeisten ballten sich auf der linken Seite des Raumes als Zeichen für «super». Im Sommer 2017 folgt womöglich sogar ein noch viel grösseres Treffen auf dem «Fusion»-Festivalgelände in Mecklenburg-Vorpommern. Wird dann aus Woodstöckli wirklich Woodstock?  
  
www.utopikon.de





 
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23. Februar 2017
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