Eine Pilgerreise ins verbotene Land

Sommer 1975: Ich frage mich, ob ich ein Recht auf Ferien habe, besuche einen Lesezirkel, der in Wirklichkeit keiner ist, und reise in das isolierteste Land Europas - das kommunistische Albanien. Als ich mich in die Welt verliebte. Die Chronik einer Leidenschaft. Folge 83

Albanien heute - und der Geist Enver Hoxhas (Bild NL)
Albanien heute - und der Geist Enver Hoxhas (Bild NL)

Um das Formulieren von Vorsätzen war ich nie verlegen gewesen. Schon am Neujahrstag hatte ich für 1975 notiert: «Ich will ein guter und erfolgreicher Filmemacher werden. Aber langfristig gesehen, ist es wichtiger, dass ich ein guter Kommunist werde. Ich will mein Leben immer bewusster in den Dienst der sozialistischen Sache stellen. Ich will keine Dinge tun nur für mich, nur zum Selbstzweck. Ich will keinen beliebigen Hobbys nachgehen, keine Zeit verplempern, ich will jede Minute ausfüllen. Ich will mich bemühen, intensiv und sinnvoll zu leben, aber nicht in den Tag hinein, sondern in eine bestimmte Richtung. Ich will keine Zeit damit vergeuden, dass ich falsche Wege einschlage. Alles, was ich tue, soll dem Ziel einer besseren, gerechteren Gesellschaft zugute kommen.»

Andere, die so wie ich das Glück gehabt hätten, in jungen Jahren bereits im Schweizer Fernsehen zu arbeiten, wären darauf einfach nur stolz gewesen. Ihr ganzes Interesse und Engagement hätte den Filmen gegolten, die sie gestalten durften. Ich aber wusste schon nach wenigen Monaten: Meine Arbeit im Fernsehen war zwar ein Traumjob, aber doch nur ein Job. Meinen Sinn im Leben würde ich nicht im Produzieren von Filmen finden, sondern in der Kraft einer Weltanschauung, die mich über alle Niederungen des Alltags hinwegtrug. 

Dass die strengen moralischen Regeln, die ich mir auferlegte, geradezu mönchische Ausmasse hatten, wurde mir nicht bewusst. Eine feste Freundin hätte mir sicher gut getan. Aber wie ich mich kenne, hätte auch sie mich nicht vor meiner leidenschaftlichen Sinnsuche retten können. Wie viele andere idealistische junge Menschen in jener Zeit befand ich mich auf dem Weg zur Erleuchtung durch eine Ideologie, die so strahlend verführerisch war wie ein Gottesglaube. 

Tagebuchseiten füllte ich keine mehr. Meine Neujahrsvorsätze waren der letzte Eintrag gewesen – denn wollte ich konsequent sein, musste ich auch das Tagebuchschreiben als Zeitverschwendung betrachten, das nur mir selbst, aber nicht der Gesellschaftsveränderung diente. Ein einziges, von Hand beschriebenes Blatt befand sich zwischen den leeren Seiten. Da stand:

«Wie verhält sich ein Sozialist zu den folgenden Fragen:

1. Habe ich ein Recht auf Ferien, die ich nur zur Erholung nehme, zum eigenen Spass, ohne dass ich gleichzeitig etwas lerne und unternehme, das im weitesten Sinne dem Kampf für eine bessere Welt dient?

2. Wie verhalte ich mich gegenüber Menschen, die der anderen Seite angehören, die mir aber als Menschen sympathisch sind – Gleichaltrige, aus der gemeinsamen Schulzeit, die aber unterdessen einer Gesellschaftsschicht angehören und Interessen vertreten, die es zu bekämpfen gilt?

Müssen wir als Sozialisten diesen Menschen nicht unsere Verachtung zum Ausdruck bringen? Unabhängig davon, ob wir sie vielleicht mögen? Müssen wir ihnen nicht zeigen dass sie auf der reaktionären Seite stehen – ob wissentlich oder nicht – und der Sache des Sozialismus im Wege stehen? Müssen wir sie nicht ignorieren oder höchstens benutzen, wenn sie uns nützlich sein können?» 

Dass ich meine Gedanken in der Frageform aufschrieb, erstaunt mich nicht. Ich rang noch immer damit, wie ich mir ein Leben als Kommunist vorstellen musste, welche Konsequenz, welche Disziplin ich von mir verlangen musste, um der heroischen Sache dienen zu können. Wie ein junger Gläubiger, der sich mit dem Gedanken trägt, seine Existenz Gott zu widmen und in ein Kloster zu treten, so fühlte auch ich mich.

Denn eigentlich war ich jung, und eine Stimme in mir rief mir zu: Warum sperrst du dich freiwillig ein? Wage den Sprung ins Leben!

Doch ich wollte die Stimme nicht hören. Der innere Drang, mich zu bekennen zur Utopie eines Himmels auf Erden, war stärker. Ich musste diese Erfahrung offenbar machen. Als wäre sie Teil eines Plans, den ich nicht überspringen durfte.

*

Die «Revolutionäre Aufbauorganisation Zürich», deren Versammlungen ich besuchte, konnte meinen ideologischen Hunger nicht stillen. Sie war keine Kirche, keine geistige Heimat, wie ich sie mir wünschte, sondern ein bunter Haufen von ehemaligen 68ern und ebenso vielen Jüngeren, die erst Anfang der 70er-Jahre die grosse Mission des Sozialismus für sich entdeckt hatten. Doch darüber, wie das politische Ziel erreicht werden sollte, gingen die Meinungen auch in der RAZ immer mehr auseinander. 

An den Versammlungen, wo heftig ideologisch gestritten wurde, blieb ich ein Zuhörer, obwohl diese Rolle nicht zu mir passte. Aber ich war politisch niemals so versiert wie beispielsweise ein Peter Niggli, von dem ich bereits in einer früheren Folge erzählte, weil er mich mit seiner brillanten Rhetorik so sehr beeindruckte. Er, der spätere Entwicklungsexperte, war der heimliche Leader der RAZ. Verglichen mit ihm und seinem intellektuellen Scharfsinn war ich noch immer der schwärmerische Romantiker, der von sozialistischer Strategie und Taktik eigentlich gar nichts wissen wollte.

Da erzählte mir Felix, ein Weggefährte aus Soldatenkomitee-Tagen von einem Lesezirkel in Winterthur, dessen Mitglieder eine Reise in den echten, wahrhaftigen Sozialismus planten. Nach Albanien sollte die Reise führen. Albanien – das war Sozialismus, ja beinahe schon Kommunismus ohne doppelten Boden, ohne Zugeständnisse an den Klassenfeind. Alles, was ich von Albanien gelesen hatte, begeisterte mich. Von Kommunisten mit eiserner Hand regiert, hatte das kleine Mittelmeerland nicht nur mit seinen unmittelbaren Nachbarn gebrochen, sondern einige Jahre später auch mit der grossen Sowjetunion. Für Albaniens Diktator Enver Hoxha war die UdSSR zu einem von Parteibürokraten beherrschten Staat geworden, der die Prinzipien des Sozialismus verraten hatte und die Herrschaft des Proletariats mit Füssen trat. Dieselbe Kritik an der Sowjetunion hatte auch China geäussert, sodass das kommunistische China unter Mao-tse-tung zur Schutzmacht Albaniens wurde. Andere politische Freunde hatte das Land keine mehr. 

Enver Hoxha verordnete deshalb dem albanischen Volk eine kompromisslose Selbstversorgung und schottete es vom Rest der Welt ab. Jede bebaubare Fläche wurde zu Landwirtschaftsland umgepflügt, und in jedem Dorf wurde ein Bunker gebaut, damit das Land – in weiser Voraussicht seines Diktators - einen Atomkrieg zwischen den Supermächten heil überstehen würde.

In der verklärenden Phantasie junger Linker, wie ich einer war, wurde Albanien auf diese Weise zu einer utopischen Insel inmitten von Kapitalismus und sozialistischer Dekadenz. Auch Bulgarien gehörte zu all diesen Staaten in Osteuropa, wo es sich die Parteibonzen gut gehen liessen. Mein bulgarischer Reisebericht, fand ich im Nachhinein, hätte viel kritischer ausfallen müssen. Glücklicherweise gab es Albanien. Dort wurde der Sozialismus gelebt. Das wollte ich sehen. Mit eigenen Augen.

*

Zusammen mit Felix betrat ich eines Abends im späten Frühling dasselbe Jugendhaus Winterthur, über dessen Selbstverwaltung ich im Fernsehen einige Monate vorher berichtet hatte. Von den Mitgliedern des Lesezirkels, der sich im 1. Stock traf, wurden wir so herzlich begrüsst, wie eine Bibelgruppe neue Interessenten willkommen heisst. Ich hatte sofort den Eindruck, dass die hier Versammelten mehr verband als nur die gemeinsame Absicht, nach Albanien zu reisen. Besonders die Leiterin und der Leiter des Zirkels, die vielleicht Mitte 20 waren, hatten eine ziemlich bestimmende, fordernde Art, die mich fast etwas störte. Sie wirkten auf mich wie ein Predigerpaar, und ihre Eheringe deuteten darauf hin, dass sie sogar verheiratet waren. 

In bürgerlicher Ehe vereint, ohne Kind, das war damals in unseren Kreisen sehr ungewöhnlich. Die beiden erinnerten mich an das, was Alexander mir in der Waldegg von seinem Bruder verraten hatte. Alexanders Bruder war auch verheiratet. Und er hatte mit seiner Frau die Waldegg verlassen, um in ein Arbeiterviertel zu ziehen, wo sie als Mitglieder einer geheimen kommunistischen Gruppe agierten. Die Gruppe hiess KPS-ML – «Kommunistische Partei der Schweiz/Marxisten-Leninisten» – und erklärte sich damit in prahlerischer Selbstüberschätzung zur Nachfolgerin der einstigen echten KPS. Ebenso wie die albanische KP lehnte sie die «revisionistische» Sowjetunion ab und huldigte dem Sozialismus in China. 

Das Interesse am chinatreuen Albanien rückte den «Lesezirkel» in verdächtige Nähe zur KPS-ML. Jedenfalls war ich fast sicher, dass auch das Predigerpaar und andere Anwesende der klandestinen Vereinigung angehörten. Aber das störte mich eigentlich nicht, denn ein Kommunist, der sich zu Mao-tse-tung und zu China bekannte, wollte auch ich werden. Und vor allem war ich schon nach dem ersten Abend in Winterthur fest entschlossen, mich der Pilgerfahrt ins gelobte sozialistische Land anzuschliessen. 

Zur Vorbereitung unserer Reise vertieften wir uns in die Schriften von Enver Hoxha. Als fleissige Schüler mussten wir ein Kapitel zu Hause lesen, um es dann in der folgenden Stunde unter kundiger Anleitung zu besprechen. Eine kritische Lektüre war das nicht. Es ging natürlich nicht darum, das Gelesene zu beurteilen. Wir mussten es nur «verstehen» lernen. Diese Haltung hatte auch ich schon verinnerlicht. 

Die Reise wurde geplant für die Sommerferien, denn etliche Teilnehmer waren Lehrer. Uns allen wurde empfohlen, niemandem zu erzählen, wohin wir reisten. Ob ich es meinen Arbeitskollegen dennoch ausplauderte, weiss ich nicht mehr. Gereizt hätte es mich bestimmt, denn nach Albanien wagte sich damals niemand. Touristen waren weitgehend unerwünscht, und auch unsere Reise kam nur zustande, weil die KPS-ML offensichtlich Kontakte zur albanischen «Bruderpartei» angeknüpft hatte. 

Unsere Expedition in das verbotene Land war denn auch als «Studienreise» gedacht, die keinen Raum für private Erkundungen liess. Aber das lag auch nicht in unserer Absicht. Auch Felix und ich nahmen nicht an der Reise teil, um uns primär ein eigenes Bild von Albanien zu machen. Die albanischen Genossen würden uns zeigen, was sie für richtig hielten. 

Wir flogen über Wien nach Tirana. Wien war damals eine der ganz wenigen Städte, die einen Flug in die albanische Hauptstadt ermöglichten. Noch heute sehe ich vor mir, wie sich das Bild der Landschaft unter uns wandelte, als wir das albanische Territorium erreichten. Während das nördlich gelegene, heutige Montenegro von der Sommersonne schon ganz verbrannt schien, präsentierte sich die Landschaft Albaniens als ein einziger Garten. Es stimmte also tatsächlich, dass das Land sich selber versorgte. Wir waren schon vor der Landung mächtig beeindruckt. 

Die Begeisterung liess etwas nach, nachdem wir auf dem kleinen Flugplatz von Tirana gelandet waren. Die zwei jungen Studentinnen, die uns in bestem Französisch sehr freundlich begrüssten, baten unsere ganze Gruppe in ein Nebengebäude, wo uns eine Überraschung erwartete, mit der wir absolut nicht gerechnet hatten. Alle weiblichen Reiseteilnehmer wurden auf die eine Seite verwiesen, wo sie ihre Miniröcke gegen knielange Röcke eintauschen mussten. Enge Jeans waren ebenfalls nicht gestattet und wurden durch weiter geschnittene Hosen ersetzt. Dasselbe galt für die Jeans der männlichen Reiseteilnehmer.

Aber damit noch nicht genug. Auf der anderen Seite des Raumes hatte ein Coiffeur seinen bescheidenen Salon. Die eine der beiden Studentinnen zeigte auf meine Lockenpracht und meinte bedauernd, ich müsse die Haare schneiden. Auch die anderen Langhaarigen in der Gruppe blieben nicht unverschont. 

Vorsichtig wagte ich einzuwenden, dass junge Langhaarige in der Schweiz keinen Anstoss erregten. «Bei uns ist das normal», beteuerte ich. 

«Jedes Land hat seine Tradition», erwiderte die Studentin mit einem Lächeln. Es tönte nach Direktive, wie sie es sagte, und ich erkannte, dass ich mich fügen musste. Der Not gehorchend, setzte ich mich in den Coiffeurstuhl und schaute im Spiegel betroffen zu, wie meine Locken zu Boden fielen. In diesem Moment fand ich den Kommunismus nicht mehr so toll. Das soeben Erlebte hätte mich hellhörig machen müssen. 


Die nächste Folge erscheint am 12. Januar 2025

CoverVom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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