Eine Wanderung durch die Nacht – meine Reise zu «Deep Purple» nach Montreux

Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #16

Deep Purple 1696 (screenshot)

Für meine Kolumne verbrachte ich nicht nur Stunden mit dem Hören von neuen LP’s, ich besuchte auch die Konzerte der Bands, die aus England herüberkamen, um den Kontinent zu erobern. Viele dieser Konzerte fanden in Zürich statt – doch dann war plötzlich von Montreux die Rede. Das wenige Jahre vorher gegründete Jazzfestival hatte den Ort an den Gestaden des Genfersees in ein musikalisches Mekka verwandelt, und auf die Jazzlegenden folgten alsbald die ersten Rockbands. Wer in Sachen Popmusik hierzulande mitreden wollte, kam an Montreux nicht mehr vorbei.

Als auch «Deep Purple», ein neuer strahlender Stern am Rockfirmament, ihr erstes Schweizer Konzert in Montreux gaben, verschaffte ich mir zwei Pressetickets und fragte Beat, einen Schulkameraden aus meiner Klasse, ob er mitkäme. Kostenlos Deep Purple zu sehen, war ein Angebot, das er sich nicht überlegen musste. Ausserdem hatten wir Herbstferien, sodass unsere Eltern gegen unseren Ausflug in die Westschweiz nichts einwenden konnten.

Bedenken hatten sie nur gegen das von uns gewählte Verkehrsmittel. Um Geld zu sparen und weil es mit Sicherheit spannender war, wollten wir nach Montreux per Autostopp reisen.

Bekanntlich war Autostoppen damals eine sehr gängige Art des Reisens für junge Menschen. Weil uns Züge und Autobusse zu teuer, zu langsam und zu langweilig waren, stellten wir uns an den Strassenrand und wurden auch irgendwann mitgenommen. Unterwegs beraubt und ermordet zu werden, mussten wir nicht befürchten. So etwas tat damals niemand. Jedenfalls kann ich mich an keine Gräuelgeschichten erinnern, die uns vom Autostoppen abgeschreckt hätten. Für Mädchen war das Risiko vielleicht etwas grösser, aber auch sie – immerhin meistens zu zweit – wollten Abenteuerluft schnuppern und dabei Geld sparen.

Ein ausgebautes Autobahnnetz war aber noch eine Zukunftsvision. Als mein Schulfreund und ich im Oktober 1969 an den Genfersee reisten, begann die A1 – die erste Autobahn in der Schweiz überhaupt – erst in Lenzburg. Wer von Zürich in Richtung Bern fahren wollte, musste zunächst noch die alte Bernstrasse nehmen, die über Bremgarten führte. Also stellten sich Beat und ich in Dietikon, am Dorfausgang, an die zweispurige Landstrasse und warteten, abwechslungsweise die Daumen ausstreckend, auf unser Glück.

Es war meine erste längere Autostoppreise. Viele weitere, ausgedehntere sollten folgen – mehr davon später. Ich sehe die Strasse, an der wir standen, noch heute vor mir, und ich glaube mich zu erinnern, dass wir ein Schild mit der Aufschrift «Bern« in der Hand hielten. Wer uns mitnahm und wie wir vorerst bis Bern gelangten, daran habe ich keine Erinnerung. Auch mein Tagebuch hilft mir nicht weiter. Notiert habe ich nur, dass wir den Grosseltern meines Mitschülers, die in Bern wohnten, einen Besuch abstatteten und mit Wurstsalat für die Weiterreise gestärkt wurden.

Bis Fribourg nahm uns dann eine Frau mit, die offenbar schon von weitem erkannt hatte, dass am Strassenrand keine Halbstarken standen, sondern zwei gut erzogene Unschuldslämmer. Da sie die Orientierung verlor, lud sie uns irgendwo ausserhalb von Fribourg an einer Abzweigung aus, die überhaupt nicht nach Montreux führte, worauf wir eine geschlagene halbe Stunde zurück bis zur Hauptstrasse laufen mussten und entsprechend ins Schwitzen kamen, weil wir noch lange nicht an unserem Ziel waren. Dann aber erbarmte sich unser ein Deutschschweizer, der in Vevey seine Westschweizer Freundin besuchte. Und Vevey liegt gleich neben Montreux.

Das Konzert von Deep Purple war die Reise hundertmal wert. Zu jener Zeit spielten die Bands – auch die bekannteren – nicht nur in grossen Hallen und Fussballarenen. Sie traten auch in einem Casino Montreux auf, wo Beat und ich uns direkt vor der wenig erhöhten Bühne platzierten und die Musiker von Deep Purple beinahe berühren konnten. Das entsprach zwar nicht ganz meiner Gewohnheit, immer eher am Rande zu bleiben, doch meinem Schulkameraden zuliebe folgte ich ihm nach vorn.

Das Erlebnis war atemberaubend. Denn die Begeisterung, die Ekstase, in die sich die Band bei ihrem Auftritt mit jedem Stück mehr hineinsteigerte, übertrug sich direkt, ohne Filter auf die vordersten Reihen, auf Beat und mich. Und irgendwann, im schnellen Puls der Musik, begann ein Stroboskoplicht zu flimmern, dessen Auf- und Abblitzen den Effekt hatte, dass die Musiker sich in zuckende Leiber verwandelten. Der dröhnende Rocksound fuhr mir ins Mark und ich fühlte mich aus meinem Schülerdasein hinausgeschleudert in eine Sphäre, die ich – ganz ohne Drogeneinfluss – wie einen Trip erlebte.

Die Landung einige Stunden später war dann etwas ernüchternd. Während Deep Purple und vermutlich auch manche Konzertbesucher, die sich schon ein Hotel leisten konnten, irgendwo Party feierten, standen Beat und ich vor dem Casino auf der nächtlichen Strasse, die dem See entlang führte, und fragten uns, wie wir nach Hause kämen. Wir hatten uns das nicht so genau überlegt, als wir unseren Ausflug planten. Auch an die Möglichkeit einer Jugendherberge hatten wir nicht gedacht, und wenn es sie gab, war sie bestimmt schon geschlossen. Am See übernachten schien uns ebenso wenig ratsam, die Nacht war kalt und etwas zum Schlafen hatten wir nicht dabei.

So machten wir, wenig hoffnungsvoll, wieder Autostopp und ein Konzertbesucher nahm uns bis Vevey mit. Inzwischen war es schon ein Uhr morgens, die Strasse leer, alles schlief und Vevey war Endstation. Um nicht zu frieren, setzten wir unseren Weg zu Fuss fort – keineswegs schlechter Laune, sondern im Gegenteil «fröhlich singend», wie ich im Tagebuch schrieb. Mit den Drumsticks des Deep Purple Drummers, die er dem Publikum überlassen und die sich Beat geschnappt hatte, trommelten wir auf die Leitplanken, die den Strassenrand säumten. Als Pauke diente ein Hinweisschild, und für die Cinelle musste eine Überholverbotsstafel hinhalten.

Als wir das nächste Dorf erreicht hatten, drängten wir uns in eine Telefonkabine, weil es darin etwas weniger kalt war als draussen. Um die Zeit zu vertreiben und warm zu bekommen, benutzten wir als Trommeln die Telefonbücher, sangen und lachten, hielten uns gegenseitig bei Laune und ersehnten den Morgen herbei. Doch die Nacht wollte nicht weichen. Wir nahmen unsere Wanderung wieder auf, erreichten müde das nächste Dorf, die nächste Telefonzelle und warteten dort – auf den ersten Zug.

Unser Vorhaben, per Autostopp auch die Heimkehr zu schaffen, gaben wir auf. In Lausanne bestiegen wir die Bahn Richtung Deutschschweiz, waren schon eingenickt, bevor der Zug abfuhr, und schliefen bis Zürich durch. Damit endete meine Reise nach Montreux – die ich eigentlich unternommen hatte, um danach über das Konzert von Deep Purple eine Reportage zu schreiben. Meine erste Reportage hätte es werden sollen, und ich nahm meine Kamera mit, um die nötigen Bilder zu schiessen.

Monate vorher, als ich den Sänger der «Troggs» interviewte, hatte das Blitzlicht versagt, sodass die Aufnahmen unbrauchbar waren. Das darf mir nie mehr passieren, hatte ich mir geschworen, und diesmal, in Montreux, gelangen die Bilder. Doch als ich sie der Redaktion zugeschickt hatte, meldete sich ein neueingestellter Redaktor. Er sagte mir gerade heraus, dass meine Fotos für eine Reportage nicht taugten. Sie seien zu wenig professionell.

Natürlich hatte er recht, auch wenn ich damals enttäuscht war. Doch inzwischen kann ich die ungeschrieben gebliebene Reportage verschmerzen. Viel wichtiger als die Befriedigung meines Egos war das Erlebnis. Viel wichtiger als das Konzert war das Abenteuer dieser ersten Autostoppreise – und die Wanderung dem nächtlichen See entlang, deren Bilder ich heute noch in mir trage.

Deep Purple in Montreux 1969 «Wring that neck»:

 

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Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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