Eine Zumutung

Wie das «Zuviel» zum Markenzeichen der Menschheit wurde

Unser ökologischer Fussabdruck zeigt die Zerstörung, die wir hinterlassen. Die Regenerationsfähigkeit der Natur schrumpft unter der Belastung des Menschen. War es nur eine Verkettung von unglücklichen Umständen, die uns das Mass verlieren liess? Was bringt uns dazu, der Welt immer mehr abzuverlangen, selbst aber bequem und träge zu werden?


Die Geschichte der Masslosigkeit beginnt mit der Technik, genauer gesagt mit der Hebelwirkung. Die Erkenntnis, dass mittels eines kleinen Aufwandes eine grosse Wirkung erzielt werden kann, ist seit Archimedes zu einer Art Schlüssel der menschlichen Zivilisation geworden. Wir haben immer wirkungsvollere Methoden der Hebelwirkung entwickelt. Während es früher einfache Maschinen waren, die für uns arbeiteten, sind es heute ganze Industrien, die für uns produzieren, mit stetig abnehmendem menschlichem Einsatz. Roboter und künstliche Intelligenz verrichten zunehmend anspruchsvolle Arbeiten. Der Aufwand pro Stück sinkt, die Menge wächst ins Unermessliche. Die von uns in Gang gesetzte Hebelwirkung bedrängt uns inzwischen selbst.
Treibstoff für alle diese Hebelwirkungen war lange Zeit die fossile Energie. Sie wurde zu einem Zeitpunkt entdeckt, als die Menschheit zum grossen Sprung nach vorne ansetzte. Trotz aller Ernüchterung, die sich heute durch die CO2-Frage ergeben hat, muss die fossile Energie wie eine Art Geschenk an eine sich aufrichtende Menschheit verstanden werden. Sie hat uns den Weg in die materielle Freiheit in wesentlichem Mass geebnet. Dank ihr konnten wir unsere Kinder ernähren, Schulen bauen und Kranke pflegen. Wie konnte die Erde vor Jahrmillionen wissen, dass wir dereinst diesen «Kraftriegel» auf unserem Weg in die Zivilisation gut würden brauchen können?
Auch bei der Energie ist die Sättigung unübersehbar, das «Zuviel» allgegenwärtig. Die Verschwendung ist ein Charakteristikum unserer Hebelwirkungen. Ein Tritt auf das Gaspedal lässt hundert Pferde an unserem Automobil zerren, während wir gelassen mit dem Sitznachbarn plaudern. Es ist uns nicht mehr bewusst, wie gross die materiellen Hebel sind, die wir täglich betätigen. Tonnen von Kohle steigen gegen den Himmel, wenn wir elektrische Geräte nutzen. Ganze Talschaften mussten im Wasser versinken, und Generationen von Nachkommen werden strahlenden Müll aus unserer eigentlich lächerlich kurzen atomaren Zivilisationsepoche hüten müssen.


Das Charakteristikum der Hebelwirkung ist der Verlust des Masses. Wir verlieren den Bezug, weil wir von der Wirkung entkoppelt sind. Der Hebel hält uns auf Distanz zum Geschehen. Wir sitzen in der guten Stube und sind uns nicht mehr gewahr, was unsere Hebel alles in unserem Namen auf der Welt anstellen. Und oft sind wir froh, dass wir es nicht wissen.
Der Hebel ist damit zum Symbol der Ungerechtigkeit geworden, die Technik und Wirtschaft zum Mittel der Unterdrückung. Im globalen Handel sind die Hebel weiter angewachsen, reichen um den Globus, lassen Menschen in fernen Ländern nach Regeln tanzen, deren Logik weder ihnen noch uns entsprechen. Und doch steigt der Druck täglich an, denn das Räderwerk ist im Gang, die Hebel in Aktion.
Wir machen uns in mehrfacher Hinsicht schuldig. Der Hebel entfernt uns vom Ort des Geschehens, er verwischt unsere Spuren, gleichzeitig verstärkt er unsere Macht durch seine Wirkungsweise. Umgelenkt durch das Räderwerk einer global tätigen Wirtschaft verliert sich die Frage der Zusammenhänge in den Gängen der Teppichetagen. Produzent und Konsument kennen sich nicht mehr, müssen sich nicht mehr kennen. An die Stelle der Verantwortung tritt das Marketing. Die Hebel werden unsichtbar.
Die Reinkultur dieser Entkoppelung ist die Finanzwirtschaft. Hier sind die Hebel zum Selbstzweck geworden. Es gibt keine Produzenten und Konsumenten mehr. «Leverage» (englisch für Hebel) ist das zentrale Charakteristikum dieses Spiels, das sich in die Mechanik der globalen Wirtschaft eingenistet hat. Es führt Werte ab, ohne solche zu schaffen. Es hebelt langsam aber sicher die eigentliche Wirtschaft aus.


Die Zukunft des Menschen mutet in dieser organisierten Welt sonderbar an: Er wird umsorgt von unzähligen Maschinen, die ihm jeden Wunsch erfüllen. Während sich alles immer schneller dreht, scheint der Mensch immer mehr zum Stillstand zu kommen: Seine Bedürfnisse werden befriedigt, seine Herausforderungen sinken, es gibt immer weniger Gründe, um sich irgendwo engagieren zu müssen. Wir leben in einer organisierten, geregelten Realität, die uns zusehends beengt. Kein Wunder blüht in der virtuellen Welt bereits das Gegenstück: Spiele, in denen Grenzen gesprengt, Wagnisse bestanden und Herausforderungen heraufbeschworen werden. Der Mensch wird sich, ohne es zu ahnen, seiner Bedeutungslosigkeit bewusst und fängt an, künstliche Bedeutung zu generieren. Auch hier ist es wieder der Hebel, der spielt: Während wir im echten Leben kaum wagen, unsere Wohnungsnachbarin anzusprechen, dürfen wir in den virtuellen Welten ganze Völker versklaven und Städte ruinieren. Bei allem Unterhaltungswert bleibt das Gefühl zurück, dass der Mensch immer kleiner wird im Umfeld seiner Errungenschaften. Was er selbst kann, nimmt sich immer lächerlicher aus gegenüber den Möglichkeiten seiner Erfindungen und Wirkungswelten. Wer nach einer Schlacht im Weltraum seine Spielkonsole ausschaltet, spürt seine Bedeutungslosigkeit.


Es stellt sich die Frage, ob wir aus diesem Wirkungstaumel wieder ausbrechen können. Sind wir in der Lage, das menschliche Mass neben den zweifellos grossartigen Möglichkeiten der Technik und Informatik neu zu entdecken?
Die Rückkehr zum menschlichen Mass kann auf der materiellen Ebene allein nicht mehr gelingen. Wir haben uns zu weit entfernt von unseren ursprünglichen Verhältnissen. Wir sind zu stark verschmolzen mit unseren Hebeln und Hilfskonstruktionen. Ein «Aussteigen» nach klassischem Muster ist keine Option mehr, auch wenn das jedem gelegentlich guttut. Wer ein Jahr lang seine Nahrung selbst pflanzen und ernten möchte, lernt die Grenzen der eigenen Kräfte mehr als kennen. Dies darf heute glücklicherweise als innerliche Übung und nicht mehr als bittere Not angegangen werden, zumindest auf unserer Seite der Erdkugel.
Das menschliche Mass muss also auf eine andere Weise wieder zurückkehren, und das wird es auch. Unsere Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte sind immer noch dieselben. Wir möchten gemeinsam mit unseren Mitmenschen ein interessantes Leben führen, möchten lieben und geliebt werden, möchten mit Kindern lachen und mit alten Menschen interessante Abende verbringen. Wir sind quasi technikresistent, zumindest auf dieser Stufe der Wünsche. Und diese Wünsche machen zusehends unsere Welt aus, nachdem wir uns die grundlegenderen Wünsche erfüllen konnten.


Glücklicherweise ist unsere Welt voller Rückbesinnungen auf das menschliche Mass, auch wenn das Gegenteil ebenso Konjunktur hat. Mikrobrauereien, fussgängerfreudliche Städte, Repair Cafés und Mitfahrdienste sind Zeichen einer sich relativierenden Welt. Der Mensch wird wieder sichtbarer, spürbarer, fassbarer. Er hat den Reiz der Technik kennengelernt, aber auch neue Freude an den kleinen Dingen entwickelt, am Selbermachen, am Persönlichen, am Improvisierten. Die Wiederentdeckung des menschlichen Masses könnte helfen, die Gefahren «unserer Hebel» zu reflektieren. 




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