«Es drohte Frieden auszubrechen»

Ein Friedensforscher zur zunehmenden Militarisierung von Politik und Gesellschaft. Interview mit Werner Ruf.

NATO-Hauptquartier in Brüssel
NATO-Hauptquartier in Brüssel

Wie beurteilen Sie die starken Aufrüstungsbestrebungen in Deutschland bzw. in der NATO?

Werner Ruf: Die Aufrüstungsbemühungen der NATO gegenüber Russland starteten etwa ein Jahrzehnt nach der Wende auf drei Ebenen: mit der NATO-Osterweiterung, dem Nichteinhalten von Friedens- und Rüstungskontrollverträgen und mit Grossmanövern, die in ihren Szenarien einen Konflikt mit Russland festschreiben.

1999 begann die NATO-Osterweiterung. Polen, Ungarn und Tschechien wurden zuerst Mitglieder, weitere folgten. Von 16 Mitgliederstaaten im Jahr 1999 ist das Verteidigungsbündnis bis heute auf 32 Mitglieder angewachsen. Damit wurde das Bündnisgebiet bis an die Grenzen der Russischen Föderation erweitert. Eine vertragliche Vereinbarung zum Verzicht auf diese Osterweiterung gab es nicht, jedoch wurde, wie später mehrfach belegt, auf höchster Verhandlungsebene eine solche Erweiterung in zahlreichen mündlichen Vereinbarungen ausgeschlossen. Mehr wäre zum damaligen Zeitpunkt auch gar nicht möglich gewesen, weil ja die Warschauer Vertragsorganisation noch bestand, in der die Mehrzahl der heutigen neuen NATO-Mitglieder zusammengeschlossen waren. Wie anders sollte Russland die Schaffung einer neuen Bündniskonstellation begreifen denn als einen Vormarsch des Westens? Und natürlich traf die NATO die Entscheidungen über die Aufnahme von Neumitgliedern allein, Einwände Russlands dagegen wurden nicht gehört.

RufDr. phil. Werner Ruf (*1937) beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Friedens- und Konfliktforschung. Er absolvierte vier Jahre Forschungsaufenthalt in Nordafrika, hatte Professuren in den USA und Frankreich inne und lehrte von 1982 bis 2003 an der Universität Kassel mit den Schwerpunkten internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Aussenpolitik. Dazu kam seine Gutachtertätigkeit für die EU-Kommission, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Auch als Fachjournalist und -autor ist Werner Ruf bekannt.
Homepage Werner Ruf: werner-ruf.net

Welche Verträge waren bedeutsam?

Von deutschem Boden wird nur Frieden ausgehen – das ist ein Grundprinzip des 2 + 4-Vertrags, der die Vereinigung Deutschlands und seine Stellung im internationalen System nach dem Vertrag der Siegermächte in Potsdam (1945) endgültig regelte. Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom September 1990 zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (USA, UdssR, F, GB) verwies ausdrücklich auf das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit. «Entschlossen die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen.» Der Vertrag stellte die endgültige innere und äussere Souveränität des vereinten Deutschlands her und legte die Personalstärke der Bundeswehr fest. Deutschland verzichtete darin auf die Herstellung, die Verfügung über und den Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen.

Welche Verträge wurden gekündigt?

Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge, die zu Ende des Kalten Krieges geschlossen wurden, wurden gekündigt. Insbesondere der INF-Vertrag, der bereits 1987 geschlossen wurde und die Stationierung von Raketen und Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km in Europa untersagte. Die USA kündigten den Vertrag 2019. Russland verliess ihn daraufhin ebenso. Gekündigt haben die USA auch schon 2001 den ABM-Vertrag, der die Zahl der gegen angreifende Raketen gerichteten Raketen begrenzte. Es handelt sich also um ein Vertragswerk, das gegen Verteidigungswaffen gerichtet war. Sein Sinn: das sogenannte «Fenster der Verwundbarkeit» offen zu halten und durch die bewusste Inkaufnahme der Gefährdung Frieden zu sichern.

Von entscheidender Bedeutung für Entspannung und die Herstellung eines Zustands gemeinsamer Sicherheit galt der KSE-Vertrag, der Vertrag über Konventionelle Sicherheit in Europa, mit dessen Erarbeitung etwa zeitgleich mit dem 2+4–Vertrag und der Charta von Paris (1990) begonnen wurde. Dieses monumentale Vertragswerk listet alle konventionellen Waffensysteme in Europa auf und benennt diejenigen, die nicht, teilweise oder ganz abgerüstet werden sollten. Ziel des Vertragssystems war die Herstellung der strukturellen Angriffsunfähigkeit der Vertragspartner. Den KSE-Vertrag haben ratifiziert: Russland, Ukraine, Belarus und Kasachstan – aber kein NATO-Mitglied. Russland hat sich aus dem Vertrag inzwischen zurückgezogen.

Zusammenfassend: Die 16 NATO- und die sechs Warschauer-Pakt-Staaten planten, die konventionellen Streitkräfte in Europa vom Atlantik bis zum Ural zu reduzieren und zu kontrollieren. In der Charta von Paris verkündeten die Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten feierlich das Friedenskonzept für Europa. Das «Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas» hätte mit diesem Vertrag ein Ende gehabt. Es sah tatsächlich so aus, als würde der Frieden ausbrechen. Er sollte gewährleistet werden durch die in Helsinki geschaffene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, KSZE, die später institutionalisiert wurde als OSZE, «Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa».Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin erinnerte mit einer legendären Rede im September 2001 im Bundestag, also zwei Jahre nach Beginn der NATO-Osterweiterung, an die gemeinsamen Friedensziele und Vereinbarungen. Diese Rede sollte man sich nochmal anhören.

 

 

Als weitere Aufrüstungsschritte sind die Grossmanöver der NATO («Defender») zu sehen, die sich mit ihrer «Abschreckung an der Ostflanke», so wie jetzt aktuell «Steadfast Defender 2024», gegen Russland richten, dem dabei wiederholt unterstellt wird, dass es den Westen angreifen will. Alle diese Erfahrungen mit «dem Westen» kann Russland kaum als vertrauensbildende Massnahmen einordnen.

Warum sind die NATO-Staaten von den hart erarbeiteten friedlichen Lösungen wieder abgerückt?

Scharnierstelle war die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Deutschland hatte danach kein Besatzungsproblem mehr, sondern wurde ein ernstzunehmender selbständiger Sicherheitspartner. Deutschland und Frankreich positionieren sich seitdem als Militärmächte und geraten darüber sogar in Konkurrenz. Es begann um 2014 eine erneute Aufrüstung in allen NATO-Staaten. Zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts jedes Mitgliedslandes soll in die Verteidigung investiert werden, ein Richtwert, der innerhalb der NATO festgelegt wurde. Erneut wurde damit Abschreckung zur Sicherheitsdoktrin, ein Konzept, das die Friedensforschung nicht für zielführend hält, da es nur zur spiralförmig wachsenden wechselseitigen Aufrüstung und sich steigerndem Misstrauen führt. Das Erfolgsrezept für Frieden lautet: Sicherheit ist, wenn der andere sich sicher fühlt.

Von mehr Rüstung erwartet sich die EU schliesslich auch mehr Mitbestimmung innerhalb des NATO-Bündnisses. US-Präsident Donald Trump wurde und wird im Falle eines zweiten Mandats ausserdem als unzuverlässig wahrgenommen. Und so wird die Frage gestellt: Müssen die europäischen Staaten in der NATO sich künftig selbst – ohne die Unterstützung der USA - verteidigen? Muss die EU eine eigenständige Abschreckungsarchitektur aufbauen? Diese Vorstellung ist eine starke Treibkraft für eine Aufrüstung innerhalb der EU.

Wie stellt sich die USA denn grundsätzlich zu den Friedensbemühungen zwischen Ost und West?

Die USA kündigten – unter Zustimmung der NATO – 2019 unter Trump den ersten Abrüstungsvertrag der Nachkriegszeit, den INF-Vertrag von 1987. Dieser betraf alle Mittelstreckenraketen zwischen 500 und 5.500 Kilometern Reichweite und besagte, dass in Europa kein Atomwaffeneinsatz zwischen europäischen Mächten mehr möglich wäre. Diese Vertragskündigung erhöht natürlich das Gefährdungspotenzial für Europa.

Die Abrüstungsbemühungen in den oben genannten Verträgen wurden in den USA einerseits positiv bewertet, aber die Neokonservativen, die sogenannten Neocons, stimmten nicht zu. Sie wollen die hegemoniale (Militär-)Macht der USA unbedingt erhalten und die Regeln in der Welt bestimmen. Sie gehen auf Konfrontationskurs und akzeptieren nur ein unipolares System. Hierzu ein Zitat des Publizisten Charles Krauthammer aus der Zeitschrift Foreign Affairs 1/1990: «Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham die Regeln der Weltordnung festzulegen und auch durchzusetzen.»

Auch die Lobby-Gruppe des «Project for a New American Century» (PNAC), in der sich hohe Militärs, die grossen Rüstungskonzerne, Wissenschaftler und konservative Politiker absprechen, spielt bei dieser US-Machtpolitik eine wichtige Rolle. Seit 2009 heisst die Nachfolgeorganisation Foreign Policy Initiative (FPI). Es handelt sich hier um einen kleinen Clan, der aber wichtige Schlüsselpositionen an den Hebeln der Macht besetzt. Präsident Eisenhower nannte solche Zusammenschlüsse aus Kapitalinteressen, Politik, Militär und willfähriger Wissenschaft den «militärisch-industriellen Komplex», der, weil ausserhalb jeder demokratischen Kontrolle, eine Gefährdung der Demokratie in den USA darstelle.

Zurück zum Jetzt: Eine Friedensregelung mit der Ukraine verhinderten die USA und Grossbritannien im April 2022, also zwei Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, indem sie die Verhandlungen in Istanbul zum Scheitern brachten. Dazu schrieb u.a. General a.D. Harald Kujat, vormals Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, in der Berliner Zeitung: «Es bestehen kaum noch Zweifel darüber, dass diese Friedensverhandlungen am Widerstand der Nato und insbesondere dem der USA und der UK scheiterten. Ein derartiger Friedensschluss wäre einer Niederlage der Nato, einem Ende der Nato-Osterweiterung und damit einem Ende vom Traum einer von den USA dominierten Welt gleichgekommen.»

Wie ordnen Sie die momentane Kriegspropaganda ein?

Da werden uralte Feindbilder bemüht. Russen werden als «Untermenschen» dargestellt. Viele wissen nicht, dass etwa 27 Millionen als «slawische Untermenschen» abgewertete Menschen im Zweiten Weltkrieg starben, zwei Drittel davon waren Zivilisten. Ich bekam als Fünfjähriger mit, was ein Onkel bei einem Urlaub von der Ostfront erzählte. Die Bewohner der Dörfer, durch die die Wehrmacht marschierte, mussten Gruben ausheben. Und dann wurden Männer, Frauen und Kinder mit Maschinengewehren dort hineingeschossen. Mein Onkel als Kompaniechef musste in die Grube steigen und denen, die danach noch lebten, den «Gnadenschuss» geben. Er sagte, er könne das nicht mehr aushalten. Über diese Massenmorde spricht heute kein Mensch mehr. Es ist erschreckend, dass sich geradezu auf Knopfdruck ein Rassismus wieder herstellen lässt, der an die NS-Zeit erinnert.

Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
(Willi Brandt)

Besteht eigentlich ein Interesse an Krieg?

Im Prinzip nein. Die europäischen Staaten, also auch Russland und die Ukraine, brauchen diesen Krieg nicht. Deshalb erreichten sie auch relativ schnell das Ziel der Verhandlungen von Istanbul im März/April 2022. Er sah vor: Die Neutralität der Ukraine und die Rückgabe der von Russland eroberten Gebiete im Osten des Landes. Die USA und die NATO aber verhinderten die Umsetzung dieses Verhandlungsergebnisses. Sie wollen, wie das auch die deutsche Aussenministerin gefordert hat: «Russland ruinieren». Die USA führen hier ohne eigene Soldaten einen Stellvertreterkrieg. Möglicherweise um es von der vielfach erwarteten grossen Auseinandersetzung mit China im Vorhinein auszuschliessen und die NATO zum entscheidenden Faktor auf dem eurasischen Festland zu machen.

Und es gibt erschreckende Kriegssignale bei uns. Es werden Luftschutzbunker gebaut. Die Wehrpflicht soll wieder eingeführt werden, «wehrfähige Menschen» sollen erfasst werden. Es soll jetzt einen Veteranentag geben. Die Krankenhäuser sollen «kriegstüchtig» werden. Und Bundeskanzler Scholz setzte den ersten Spatenstich für eine neue Rüstungsfabrik. Die Rüstungsindustrie - nicht aber die Menschen - profitiert von all dem in hohem Masse. Der Krieg findet schon in den Köpfen statt. Die Kriegsbereitschaft in der Bevölkerung soll erhöht werden.

Es wird den Menschen Angst vor «den Russen» gemacht, so dass bei vielen der Eindruck entsteht, man müsse sich dringend wehren. Leider erkennen die Menschen oft nicht, dass dieses eskalierende Vorgehen einen militärischen Grosskonflikt nicht verhindert, sondern befördert. Es gibt wohl auch bei der Mehrheit der Bevölkerung keine Vorstellung mehr von dem grossen Leid eines Krieges – von der wachsenden Gefahr eines Atomkrieges ganz zu schweigen. Die meisten kennen Krieg nur aus dem Fernsehen oder aus Computerspielen. Das ist beängstigend, denn vor gut dreissig Jahren waren wir schon einmal weiter auf dem Weg zum Frieden. Alle jungen Menschen möchte ich ermutigen, sich für den Frieden einzusetzen, Kriegsparolen grundsätzlich kritisch zu hinterfragen und den Satz von Willy Brandt zu erinnern: «Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.»


Links für Interessierte:

Charta von Paris: PARIS90G.PDF (bundestag.de)

2 + 4 - Vertrag: vertragstextoriginal-data.pdf (auswaertiges-amt.de)

International – Die Zeitschrift für internationale Politik

Netzwerk Friedenskooperative

Seniora.org - «So hat der Westen den Krieg in die Ukraine gebracht»

Russlands Botschafter: «Nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Zukunft denken» (nachdenkseiten.de)

frieden-links.de

Bundesausschuss Friedensratschlag

22. Mai 2024
von:

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Dr. Christine Born

Submitted by cld on Mo, 06/05/2023 - 06:19

Dr. Christine Born ist Diplom-Journalistin und Autorin. Sie ist Mitglied im Deutschen Journalistenverband und interessiert sich für Politik,Kultur, Pädagogik, Psychologie sowie Naturthemen aller Art.