Fest der Liebe
In einer Zeit, in der es zu einer regelrechten Modeerscheinung geworden ist, andere Menschen des Narzissmus zu bezichtigen, hat Selbstliebe oft einen negativen Beigeschmack. Doch hier ist es, wo alles seinen Anfang nimmt. Die Samstagskolumne.
Die Liebe hat viele Gesichter. Ludus, die spielerische Liebe, Pragma, die beständige Liebe, Eros, die romantische Liebe, Mania, die rasende Liebe, Philia, die freundschaftliche Liebe, Storge, die verwandtschaftliche Liebe, Agape, die universelle Liebe. Von allen Spielarten der Liebe hat Philautia, die Selbstliebe, eine besondere Bedeutung. Oft wird sie mit Egoismus gleichgesetzt. Neigt nicht der, der sich selbst zu sehr liebt, zu Selbsterhöhung und Gleichgültigkeit gegenüber anderen? Ist es nicht Selbstliebe, der Narziss anheimgefallen ist, als er sich in sein Spiegelbild verliebte? Musste er nicht sterben, weil er für sich selbst unerreichbar war?
Alle Liebe dieser Welt, so formulierte es der deutsche Mystiker Meister Eckhart, ist auf Eigenliebe gebaut.
In einer Zeit, in der es zu einer regelrechten Modeerscheinung geworden ist, andere Menschen des Narzissmus zu bezichtigen, hat Selbstliebe oft einen negativen Beigeschmack. Doch hier ist es, wo alles seinen Anfang nimmt. Denn wer sich selbst nicht mag, wer nicht zu sich selbst eine liebevolle Beziehung hat, der wird sie für andere nur schwerlich entwickeln können. Wer könnte etwas geben, was er selbst nicht hat? Wer könnte anderen gegenüber wohlwollend sein, wenn er sich selbst der unnachgiebigste Lehrmeister ist? Wer könnte anderen Aufmerksamkeit schenken, ehrliches Interesse und offenes Zuhören, wenn er diese Dinge für sich selbst nicht übrighat?
Im Spiegel
Als ich vor zwölf Jahren an Brustkrebs erkrankte, erkannte ich, wie unachtsam ich mir selbst gegenüber gewesen war. Meine Bedürfnisse und Wünsche haben oft hintenangestanden, und meine Gefühle warteten vergeblich darauf, wahrgenommen zu werden. Wenn ich mich im Spiegel anschaute, traf mich ein harter und kritischer Blick. Mit meiner Krankheit kam die Gelegenheit, mein Verhältnis zu mir selbst zu verändern. Die Lage war ernst. Ich wusste, dass mein Leben davon abhängen würde, wie ich mich zu mir selber stelle.
Seitdem übe ich. Ich sprach mit dem Tumor in meiner Brust. Ich schaue mir meinen Körper an, meine Hände, die es mir ermöglichen, die Welt zu begreifen, meine Füsse, die mich durchs Leben tragen. Ich verbinde mich gedanklich mit meinen Organen und danke ihnen, für mich da zu sein. Ich danke meinen Augen, dass sie sehen, meinen Ohren, dass sie hören, und den Milliarden von Körperzellen und Mikroben, die jeden Tag für mich sorgen.
Jede Sekunde schlägt mein Herz für mich. Seit ich gelernt habe, dankbar zu sein, kann ich mich im Spiegel anschauen und sagen : Ich liebe mich. Kein eitler Blick ist es, der die Selbstliebe hervorruft, sondern eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass meine Seele in diesem Körper wohnen darf. Reich bin ich beschenkt worden, um meine Erfahrungen zu machen. Doch der Körper, der mich durchs Leben trägt, gehört mir nicht. Er ist mir gewissermassen geliehen worden, zusammengesetzt aus all den Bausteinen, aus denen das Leben besteht.
Nie mehr allein
Wieviel reicher ist mein Leben seitdem geworden! Stellen Sie sich vor, wie es ist, dem eigenen Körper nicht mehr zu misstrauen, sondern sich mit ihm wie mit einem guten Freund zu verbinden. Wer so denkt und fühlt, der ist nie mehr allein! Wer sich selbst auf diese Weise nahekommt, der bleibt nicht bei sich stehen. In ihm entflammt der Wunsch, auch auf andere zuzugehen. Nicht als bedürftiges Kind, das erwartet, seine Bedürfnisse und Wünsche von anderen erfüllt zu bekommen, sondern als Erwachsener, der die Liebe von seinen Erwartungen löst.
Ich liebe dich. So sagt er zu Menschen, Tieren, Pflanzen, Landschaften, der Sonne und dem Mond. Ich liebe dich. Ich liebe es, an dem Abenteuer Leben teilnehmen zu dürfen, und ich liebe es, dich leben zu sehen. Durch dieses Herzenstor geht es in die neue und friedliche Welt, die so viele von uns sich ersehnen. Nur in uns selbst finden wir den Zugang dazu. Nur die Verbindung mit dem eigenen Herzen führt uns dorthin, wo Schönheit ist, Freude, Güte, Vergeben.
Alle Liebe dieser Welt, so formulierte es der deutsche Mystiker Meister Eckhart, ist auf Eigenliebe gebaut. Liessest du die Eigenliebe, so liessest du leicht die ganze Welt. Lassen wir die Welt nicht. Verlassen wir einander nicht. Verbinden wir uns miteinander. Zünden wir in dieser besonderen Zeit ein Licht in uns an. Lassen wir es von Mensch zu Mensch wandern, von Herz von Herz, von Sehnsucht zu Sehnsucht, und sagen wir uns und anderen, was die höchste und unbedingteste Heilkraft in sich trägt: Ich liebe dich.
von:
Über
Kerstin Chavent
Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung, In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.
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