Gegen Armut handeln
Unter dem Titel «Bekämpfung der Armut im Kanton Bern» fordern Andrea Lüthi und fünf Grossräte* aus verschiedenen Parteien in einer Motion den Kanton zum Handeln auf.
Die Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern hat anfangs des letzten Jahres einen ausführlichen Sozialbericht veröffentlicht. In einem ersten Band wird die Armut im Kanton Bern mit Zahlen, Fakten und Analysen dargestellt. Im zweiten Band erhalten die von Armut Betroffenen eine Stimme. In Interviews stellen sie ihre Lebenssituation, ihre Hoffnungen und ihre Perspektiven dar.
Der Sozialbericht 2008 des Kantons hat aufgezeigt, wie ausgeprägt Armut im Kanton Bern ist. Rund 7 Prozent der Berner Haushalte gelten als arm, weitere 5 Prozent sind armutsgefährdet. Der Bericht zeigt auch auf, welche Bevölkerungsgruppen vor allem betroffen sind. Es sind beispielsweise Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene. Unverschuldet können sie dadurch in eine Spirale von sozialer Ausgrenzung, Bildungsdefiziten und weiterem Abstieg geraten. Bekannt ist ausserdem, dass Armut oftmals «vererbt» wird. Wer in einer armutsbetroffenen Familie aufwächst, hat wenig Chancen für einen sozialen Aufstieg.
Für eine Gesellschaft wie die unsere völlig unakzeptabel ist auch die Problematik der Working Poor, das heisst der Haushalte, die trotz eines vollen Erwerbspensums über kein existenzsicherndes Einkommen verfügen. Der Sozialbericht hat aufgezeigt, dass im Kanton Bern jeder 20. Haushalt, in welchem mindestens eine Person arbeitet, davon betroffen ist.
Langzeit-Armut ohne Chancen
Im Kanton Bern wird schon viel gegen die Armut unternommen. Es besteht ein gut ausgebautes Netz an unterstützenden Angeboten. Präventive Angebote, finanzielle Leistungen und Integrationsangebote setzen auf unterschiedlichen Ebenen an, um Armut zu bekämpfen. Und das Berner Sozialhilfegesetz gilt schweizweit als eines der modernsten. Doch Ziel der Sozialhilfe war es immer, die Menschen nur vorübergehend zu unterstützen und sie so rasch als möglich wieder zu integrieren. Dies ist aber immer weniger möglich. Statt einer raschen Ablösung von der Sozialhilfe kommt es leider immer mehr vor, dass Klientinnen und Klienten jahrelang finanzielle Leistungen beziehen müssen. Man könnte hier schon fast von einer «Sozialrente» sprechen. Auch die Teilnahme an Beschäftigungs- und Integrationsprogrammen war ursprünglich nur als Sprungbrett für den raschen Wiedereinstieg ins Berufsleben vorgesehen. In Tat und Wahrheit werden zunehmend sogenannte Nischenarbeitsplätze benötigt.
Sozialgipfel von Regierungsrat Philippe Perrenoud
Nach der Veröffentlichung des Sozialberichtes organisierte die Gesundheits- und Fürsorgedirektion im Juni 2009 einen «Sozialgipfel», zu dem Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft, sozialen Institutionen und der Verwaltung eingeladen und Möglichkeiten der Armutsprävention diskutiert wurden. Wie zu erwarten, fand man an diesem Sozialgipfel nicht DIE Allerweltslösung, um die Armut zu beseitigen. Doch zwei Erkenntnisse waren zentral:
● Erstens muss Armut enttabuisiert werden. Armut existiert auch in der reichen Schweiz. Zwar nicht so offensichtlich wie in Drittweltländern, aber für die Betroffenen doch schmerzhaft, einschränkend und belastend. Der Kanton Bern hat den Sozialbericht zum Anlass genommen dieses Tabu zu brechen und auch die verschiedenen Aktionen anlässlich des laufenden «Europäischen Jahres zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung» tragen dazu bei.
● Zweitens muss die Koordination und Vernetzung der bestehenden Angebote verbessert werden. Armut wird auf vielen Stufen bekämpft. Es gibt Massnahmen bei der Bildung, im Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft, im Steuersystem, in der Sozialhilfe usw. Es gibt verschiedenste Beratungsstellen und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten. Aber oft weiss die eine Hand nicht was die andere tut. Oder dann werden nach dem Giesskannenprinizp Gelder verteilt, ohne dass man sich auf effiziente Schwerpunkte einigt. Hier setzt unsere Motion an. Wir möchten, dass sich die verschiedenen Akteure aus Politik und Verwaltung auf einen gemeinsamen Massnahmenplan einigen und die vorhandenen Mittel dann gezielt eingesetzt werden. Es sind auch Indikatoren zu entwickeln, mit denen die Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen überprüft werden kann.
Hoffen auf den Grossen Rat
Es ist zu hoffen, dass die eingereichte Motion in der Junisession 2010 vom Grossen Rat angenommen wird. Interessant wird sodann der politische Aushandlungsprozess bei der Umsetzung der Motion. Immerhin treffen da sehr unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander - je nach politischer Ausrichtung. Zum Beispiel geht es um die grundsätzliche Frage der Balance zwischen Selbstverantwortung der Menschen und der Unterstützung durch den Staat. Eine andere Frage betrifft die Wirtschaftspolitik: Soll die Wirtschaft gestärkt werden, indem man ihr freie Hand lässt? Oder braucht es einen stärkeren ArbeitnehmerInnenschutz zu Lasten der Wirtschaftsfreiheit? Und sollen Familien, die ihre Kinder fremdbetreuen lassen, damit beide Elternteile arbeiten gehen können, steuerlich entlastet werden? Oder gibt es im Gegenteil einen finanziellen Zuschuss, wenn die Kinder zu Hause betreut werden?
Auch mit einer überwiesenen Motion ist das Ziel der Halbierung der Armut - wie es der Kanton einmal formuliert hat - noch lange nicht erreicht, sondern erst die Diskussion über den Weg dorthin lanciert.
* Andrea Lüthi, SP-JUSO, Wynigen
Marc Früh, UDF, Lamboing
Niklaus Gfeller, EVP, Worb
Daniel Kast, CVP, Bern
Blaise Kropf, Grüne, Bern
Christoph Stalder, FDP, Bern
Andrea Lüthi (*1970), Wynigen
Dipl. Sozialarbeiterin FH
Geschäftsführerin der Berner Konferenz für Sozialhilfe und Vormundschaft BKSV
Grossrätin SP-JUSO (2006-2010)
www.andrea-luethi.BE
Der Sozialbericht 2008 des Kantons hat aufgezeigt, wie ausgeprägt Armut im Kanton Bern ist. Rund 7 Prozent der Berner Haushalte gelten als arm, weitere 5 Prozent sind armutsgefährdet. Der Bericht zeigt auch auf, welche Bevölkerungsgruppen vor allem betroffen sind. Es sind beispielsweise Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene. Unverschuldet können sie dadurch in eine Spirale von sozialer Ausgrenzung, Bildungsdefiziten und weiterem Abstieg geraten. Bekannt ist ausserdem, dass Armut oftmals «vererbt» wird. Wer in einer armutsbetroffenen Familie aufwächst, hat wenig Chancen für einen sozialen Aufstieg.
Für eine Gesellschaft wie die unsere völlig unakzeptabel ist auch die Problematik der Working Poor, das heisst der Haushalte, die trotz eines vollen Erwerbspensums über kein existenzsicherndes Einkommen verfügen. Der Sozialbericht hat aufgezeigt, dass im Kanton Bern jeder 20. Haushalt, in welchem mindestens eine Person arbeitet, davon betroffen ist.
Langzeit-Armut ohne Chancen
Im Kanton Bern wird schon viel gegen die Armut unternommen. Es besteht ein gut ausgebautes Netz an unterstützenden Angeboten. Präventive Angebote, finanzielle Leistungen und Integrationsangebote setzen auf unterschiedlichen Ebenen an, um Armut zu bekämpfen. Und das Berner Sozialhilfegesetz gilt schweizweit als eines der modernsten. Doch Ziel der Sozialhilfe war es immer, die Menschen nur vorübergehend zu unterstützen und sie so rasch als möglich wieder zu integrieren. Dies ist aber immer weniger möglich. Statt einer raschen Ablösung von der Sozialhilfe kommt es leider immer mehr vor, dass Klientinnen und Klienten jahrelang finanzielle Leistungen beziehen müssen. Man könnte hier schon fast von einer «Sozialrente» sprechen. Auch die Teilnahme an Beschäftigungs- und Integrationsprogrammen war ursprünglich nur als Sprungbrett für den raschen Wiedereinstieg ins Berufsleben vorgesehen. In Tat und Wahrheit werden zunehmend sogenannte Nischenarbeitsplätze benötigt.
Sozialgipfel von Regierungsrat Philippe Perrenoud
Nach der Veröffentlichung des Sozialberichtes organisierte die Gesundheits- und Fürsorgedirektion im Juni 2009 einen «Sozialgipfel», zu dem Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft, sozialen Institutionen und der Verwaltung eingeladen und Möglichkeiten der Armutsprävention diskutiert wurden. Wie zu erwarten, fand man an diesem Sozialgipfel nicht DIE Allerweltslösung, um die Armut zu beseitigen. Doch zwei Erkenntnisse waren zentral:
● Erstens muss Armut enttabuisiert werden. Armut existiert auch in der reichen Schweiz. Zwar nicht so offensichtlich wie in Drittweltländern, aber für die Betroffenen doch schmerzhaft, einschränkend und belastend. Der Kanton Bern hat den Sozialbericht zum Anlass genommen dieses Tabu zu brechen und auch die verschiedenen Aktionen anlässlich des laufenden «Europäischen Jahres zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung» tragen dazu bei.
● Zweitens muss die Koordination und Vernetzung der bestehenden Angebote verbessert werden. Armut wird auf vielen Stufen bekämpft. Es gibt Massnahmen bei der Bildung, im Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft, im Steuersystem, in der Sozialhilfe usw. Es gibt verschiedenste Beratungsstellen und finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten. Aber oft weiss die eine Hand nicht was die andere tut. Oder dann werden nach dem Giesskannenprinizp Gelder verteilt, ohne dass man sich auf effiziente Schwerpunkte einigt. Hier setzt unsere Motion an. Wir möchten, dass sich die verschiedenen Akteure aus Politik und Verwaltung auf einen gemeinsamen Massnahmenplan einigen und die vorhandenen Mittel dann gezielt eingesetzt werden. Es sind auch Indikatoren zu entwickeln, mit denen die Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen überprüft werden kann.
Hoffen auf den Grossen Rat
Es ist zu hoffen, dass die eingereichte Motion in der Junisession 2010 vom Grossen Rat angenommen wird. Interessant wird sodann der politische Aushandlungsprozess bei der Umsetzung der Motion. Immerhin treffen da sehr unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander - je nach politischer Ausrichtung. Zum Beispiel geht es um die grundsätzliche Frage der Balance zwischen Selbstverantwortung der Menschen und der Unterstützung durch den Staat. Eine andere Frage betrifft die Wirtschaftspolitik: Soll die Wirtschaft gestärkt werden, indem man ihr freie Hand lässt? Oder braucht es einen stärkeren ArbeitnehmerInnenschutz zu Lasten der Wirtschaftsfreiheit? Und sollen Familien, die ihre Kinder fremdbetreuen lassen, damit beide Elternteile arbeiten gehen können, steuerlich entlastet werden? Oder gibt es im Gegenteil einen finanziellen Zuschuss, wenn die Kinder zu Hause betreut werden?
Auch mit einer überwiesenen Motion ist das Ziel der Halbierung der Armut - wie es der Kanton einmal formuliert hat - noch lange nicht erreicht, sondern erst die Diskussion über den Weg dorthin lanciert.
* Andrea Lüthi, SP-JUSO, Wynigen
Marc Früh, UDF, Lamboing
Niklaus Gfeller, EVP, Worb
Daniel Kast, CVP, Bern
Blaise Kropf, Grüne, Bern
Christoph Stalder, FDP, Bern
Andrea Lüthi (*1970), Wynigen
Dipl. Sozialarbeiterin FH
Geschäftsführerin der Berner Konferenz für Sozialhilfe und Vormundschaft BKSV
Grossrätin SP-JUSO (2006-2010)
www.andrea-luethi.BE
23. April 2010
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