Geschichten in Echtzeit
Knapp drei Minuten dauert die Lektüre einer halben Seite. Was passiert in drei Minuten? Das haben wir vier Autorinnen und Autoren gefragt. Das Resultat: Vier Geschichten,die gerade so lange dauern, wie sie eben dauern.
Das Lied
Eben habe ich das Radio eingeschaltet. Eben hat dieses Lied eingesetzt. Ich kenne das Lied. Jeder kennt dieses Lied. Es ist dermassen berühmt, dass der, der es geschrieben hat, schon seit zwanzig Jahren davon lebt. Und den Rest seines Lebens davon leben wird. Auf der ganzen Welt wird dieses Lied gespielt. Im Radio. In Warenhäusern. In Liften. In Fitnessstudios. Und weiss der Geier wo. Und jedesmal, wenn das Lied gespielt wird, verdient er daran. Nicht viel. Ein paar Rappen. Aber das läppert sich dermassen zusammen, dass er davon lebt. Fürstlich. Jetzt ist die erste Strophe schon rum. Man kennt sonst nichts von ihm. Nur dieses Lied. Es dauert nicht einmal drei Minuten. Jetzt zum ersten Mal der Refrain. Irgendwas von «heart» und «broken». Es geht, und jetzt Achtung: um die Liebe zu einer Frau. Musikalisch auch nichts Verrücktes. Aber das bleibt einem dermassen im Ohr hängen. Keine Ahnung, wie lang er hatte, um dieses Lied zu schreiben. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Einen Tag, höchstens. Einen Tag arbeiten und den Rest des Lebens davon leben. Wahnsinn. Jetzt die zweite Strophe. Er liebt sie noch, aber sie ihn nicht mehr so. So so. Ich google ihn. Jede Menge Berichte und Artikel.
Und in jedem einzelnen Bericht wird er gefragt, wie das sei, wenn man von einem einzigen Lied lebt. Und ob er geahnt habe, wie berühmt das Lied würde, als er es schrieb. Und wer die Frau sei in dem Lied. Und warum das Lied so heisst, wie es heisst. Jetzt so ein Übergang. Er wird, das ahnt man schon, in den Refrain übergehen. Und wissen Sie was? Wäre ich der, der dieses Lied geschrieben hat, ich würde dieses Lied verfluchen. Ich sage irgendjemandem auf der Welt
meinen Namen. Oh! Sie sind der, der dieses Lied geschrieben hat! Wissen Sie was, ich habe früher, als Kind, die eine Zeile immer falsch verstanden!
Anstatt «heart» und «broken» sang ich immer «harter Brocken»! Wer hätte es geglaubt: Jetzt noch einmal der Refrain. Und schon ist das Lied fertig. Und jetzt sagt der Moderator, er habe das Lied gespielt, weil gerade eben die Meldung reingekommen sei vom Tod des Sängers und Komponisten. Gerade einmal dreiundfünfzig sei er geworden. Überdosis Drogen. Er sei am Erfolg dieses Liedes zerbrochen. Die drei Minuten, von denen er gelebt hat, haben ihn umgebracht. Ich schalte das Radio aus. Und ich hoffe inständig, sie spielen das Lied nicht, an seiner Beerdigung. Ralf Schlatter
___________
Ralf Schlatter lebt als Autor und Kabarettist (schön&gut) in Zürich. Sein aktueller Roman «Sagte Liesegang» ist im Limbus Verlag erschienen.
Eine Ehe verkacheln in drei Minuten
Die Partei wolle ihn ja schon lange in einem Amt, sagt Gruber zu seiner Frau. Spätestens, seitdem er damals die Reorganisation der kantonalen Feuerwehr gestemmt habe.
«Ich kann mir nicht vorstellen, an Strassenecken Wahlpropaganda für dich zu machen», sagt seine Frau.
Gruber ist leicht gestresst. Drei Minuten hat er sich gegeben, seine Frau von seiner Mission zu überzeugen. Noch steht sie unbewegt am Fenster.
Der kleine Mann vergesse den Feuerwehrmann nicht, der ihm einmal die helfende Hand gereicht habe. An der Hauseigentümerversammlung brauche er nur das Lied der Feuerwehr zu singen («Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr») – mache 2000 Stimmen. An anderen Versammlungen sänge er von seinen Bestrebungen, die Lohnentwicklung zu fördern – mache 10'000 Arbeitnehmerstimmen. Stettler bearbeite ein paar Wirtschaftsfunktionäre – mache 2000 Arbeitgeberstimmen. Er schaffe es also ohne weiteres zu einem internen Glanzresultat. Die Listenstimmen nicht mitgerechnet.
«Na? Gemeinderat Gruber, wie klingt das für dich?»
«Das klingt nach 90-Stunden-Woche. Das klingt nicht nach gemeinsamen Wochenenden. Das klingt nach: Wir können uns genausogut trennen.»
Das ist ein Rückschlag. Und dies bei einer Minute dreissig. Gruber weiss, er muss einen Zahn zulegen.
Als Feuerwehrmann suche man sich für eine Aufgabe den besten Mann, sagt er. Man schaue sich die Faktenlage an und treffe eine sachdienliche Entscheidung. Und genau das habe er getan. Er habe sich Faktenlage angeschaut, aus neunundneunzig Jahren von 1915 bis 2016. Gestern, nach der Parteiversammlung, habe er die feuerfeste Schublade aufgeschlossen und die alte Fotografie hervorgezogen. «Aber item», sagt er – die Zeit reicht nicht, seiner Frau von den drei prachtvollen Männern zu erzählen: Urgrossvater und Grossvater hinter einem Stuhl, auf dem sein Vater mit einem Säugling auf dem Schoss sitze. Alle drei starren auf den Säugling, und der Säugling schaue aus grossen Augen auf, als ahne er bereits, was die Gemeinschaft von ihm verlange.
«Soll man auf die Möglichkeit, etwas fürs Gemeinwohl zu tun, verzichten, weil die eigene Frau behauptet, sich an Strassenecken die Blase zu entzünden?»
Seine Frau schweigt.
Zwei Minuten fünfundvierzig.
Er habe Stettler angerufen und gesagt, er tue es, er kandidiere.
Seine Frau schlägt hinter ihm den Vorhang zu. «Du kannst den Volvo haben. Das Haus behalte ich», sagt sie. Christoph Simon
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Christoph Simon, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Zurzeit ist er mit den berndeutschen Bühnenprogrammen «Wahre Freunde» und «Glück ist» unterwegs. Zuletzt erschienen: «Spaziergänger Zbinden» und «Viel Gutes zum kleinen Preis». www.christophsimon.ch
Der Automat
Einen Fuss vor den anderen. Geht nicht schneller. Mit diesem Rucksack. Mit diesen zu kurz geratenen Beinen. Versuche schneller zu gehen. Aber die Beine werden noch kürzer, der Rucksack noch schwerer. Klammere mich an meinen Stock. Lasse mich weiterschleifen von meinem Hund. Über diesen spiegelglatten Boden. Durch diesen ganz und gar ausgespiegelten Untergrund. Bleibe ich stehen, bleibt alles stehen. Hund, Stock und Rucksack. Alle unsere Spiegel und Spiegelspiegelbilder. Ich bin das Getriebe, das innerste. Zusammen sind wir ein Zahnrad, oder eine Uhr. Das ist unsere Zeit. Das sind unsere ersten drei Minuten. In drei Minuten kommt der Zug. Aber der Automat spürt mich nicht, spiegelt mich nur. Drücke verzweifelt auf seine Scheibe. Was für ein Idiot. Der Automat. Der Hund, der an der Leine zieht. Der Stock, der immer umfällt.
Der Rucksack, der immer schwerer wird. Hund und Stock sollen machen, was sie wollen. Können auch gehen. Geh doch, du dummer Hund und friss, was dort in der Ecke liegt. Stock, Elender, dann fällst du halt um. Was einmal liegt, kann nicht mehr fallen und wird von den Hunden gefressen.
Drücke den Buchstaben B. Der Automat schlägt vor: Baar, Bachs, Bad Ragaz. Ballmos, Ballwil, Balsthal. Bäretswil. Basel. Bättwil. Drücke den Buchstaben I. Der Automat schlägt vor: Biasca. Wähle Biasca. Nicht Biel, nicht Binn, nicht Birr, nicht Birrhart. Biasca, ein halbes. Der Hund kommt in den Rucksack. Der Stock unter den Sitz. Oder umgekehrt. Einfach. Nicht retour. Woher will man wissen, ob man zurückkommt? Weiss das der Hund, weiss das der Stock, weiss das mein Spiegelbild? Jetzt fährt der Zug ein, der Lärm seiner Bremsen hallt tausendfach von den Wänden wieder. Der Automat schluckt all mein Geld, sein rotes Auge leuchtet, ich öffne die Klappe zu seinem Mund, klaube Billet und Retourgeld aus seinem eiskalten, zahnlosen Unterkiefer. Sehe erst jetzt, auf seinem Kopf thront ein silbernes Geweih! Er schnaubt, scharrt mit den Hufen im Staub, senkt den Kopf zum Angriff. Ich setze mich in Gang, mit mir Hund, Stock und Rucksack. Hören wir den Pfiff des Kondukteurs, vergessen wir all unsere Beine, fliegen die Treppe hinauf und erreichen als Ungeheuer mit Hundskopf und Hörnern in letzter Sekunde unseren Zug. Noëmie Lerch
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Noëmi Lerch, geboren 1987, lebt als Journalistinund Schriftstellerin in Tiefencastell 2015 erschien ihr erstes Buch «Die Pürin» im verlag die brotsuppe.
Ohne Titel
ich steige aus dem bus
es regnet
ich spanne meinen kaputten schirm auf und warte bei rotlicht um den kottbusser damm zu überqueren
eine frau steht vor mir
ich sehe auf ihre nassen kleider
schaue unter dem schirm hervor
sie sieht aus als würde sie in kleidern und schuhen unter der kalten dusche stehen
ihre haare kleben an ihrem kopf
ihre kleider an ihrer haut
ich eile zu ihr biete ihr meinen schirm an während ich ihn gleich über ihren kopf halte sie sagt
nein danke
sie steht weiter an der roten ampel
nichts
nicht ich
nicht du
ich nicht
wo bist du
ich bin hier
nie bist du bei mir
denke ich
immer wenn es regnet
und suche dich in einer stadt wo du nicht atmest
es regnet
der mann neben mir raucht unter einem schirm
ich denke an dich
ich mag wie du rauchst
ich mag wie du schaust wenn du rauchst
der regen ist laut unter dem schirm
der rauchende mann schaut um sich
ich sehe ihn an
er verweigert meinen blick als wäre er schlecht
er dreht sich zu der nassen frau
er spricht leise mit ihr
ich kann nichts verstehen
ich will verstehen
er legt seine hand auf die schulter der nassen frau
er macht die augen zu
die zigarette im mund
ich trete näher
er betet
ein blondes haar auf der schulter der nassen frau
ich würde gerne hinlangen um dieses
blonde
dicke zu entfernen
dann tue ich es
so sanft ich kann
eine frau die unter einem weiteren schirm neben mir steht schaut mich mit einer tiefen falte zwischen den augen an und schüttelt den kopf
ich bewege meine hand langsam in richtung haar
ich greife danach
dann dreht sich die nasse frau zu mir
schaut mich mit grossen blauen augen fragend an
ich halte ihr das haar zwischen den fingern gespannt vors gesicht
sie sieht es nicht
sieht in mein gesicht
wie kann sie das nur übersehen denke ich
sie schüttelt ihren kopf
ich deute mit meinem blick aufs gespannte haar zwischen meinen fingern
weite meine augen auf
schaue sie fragend an
sie schaut nur in mein gesicht
ich kneife leicht meine augen
füge die augenbrauen dicht zueinander
sie dreht sich wieder nach vorne
sie schüttelt den kopf
es ist zu laut
um zu sprechen
ein weiteres haar landet auf ihrer schulter
die ampel wechselt auf grün
Meral Kureyshi
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Meral Kureyshi ist 1983 in Prizren geboren und lebt seit 1992 in Bern. Ihr Debüt-Roman «Elefanten im Garten» ist im Limmat-Verlag erschienen. Wenn sie nicht gerade an der Ampel am Kottbusser Damm wartet, schreibt sie am Literarischen Colloquium Berlin an ihrem zweiten Buch.
Mehr zum Thema «schnell und langsam» im Zeitpunkt 143.
Eben habe ich das Radio eingeschaltet. Eben hat dieses Lied eingesetzt. Ich kenne das Lied. Jeder kennt dieses Lied. Es ist dermassen berühmt, dass der, der es geschrieben hat, schon seit zwanzig Jahren davon lebt. Und den Rest seines Lebens davon leben wird. Auf der ganzen Welt wird dieses Lied gespielt. Im Radio. In Warenhäusern. In Liften. In Fitnessstudios. Und weiss der Geier wo. Und jedesmal, wenn das Lied gespielt wird, verdient er daran. Nicht viel. Ein paar Rappen. Aber das läppert sich dermassen zusammen, dass er davon lebt. Fürstlich. Jetzt ist die erste Strophe schon rum. Man kennt sonst nichts von ihm. Nur dieses Lied. Es dauert nicht einmal drei Minuten. Jetzt zum ersten Mal der Refrain. Irgendwas von «heart» und «broken». Es geht, und jetzt Achtung: um die Liebe zu einer Frau. Musikalisch auch nichts Verrücktes. Aber das bleibt einem dermassen im Ohr hängen. Keine Ahnung, wie lang er hatte, um dieses Lied zu schreiben. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Einen Tag, höchstens. Einen Tag arbeiten und den Rest des Lebens davon leben. Wahnsinn. Jetzt die zweite Strophe. Er liebt sie noch, aber sie ihn nicht mehr so. So so. Ich google ihn. Jede Menge Berichte und Artikel.
Und in jedem einzelnen Bericht wird er gefragt, wie das sei, wenn man von einem einzigen Lied lebt. Und ob er geahnt habe, wie berühmt das Lied würde, als er es schrieb. Und wer die Frau sei in dem Lied. Und warum das Lied so heisst, wie es heisst. Jetzt so ein Übergang. Er wird, das ahnt man schon, in den Refrain übergehen. Und wissen Sie was? Wäre ich der, der dieses Lied geschrieben hat, ich würde dieses Lied verfluchen. Ich sage irgendjemandem auf der Welt
meinen Namen. Oh! Sie sind der, der dieses Lied geschrieben hat! Wissen Sie was, ich habe früher, als Kind, die eine Zeile immer falsch verstanden!
Anstatt «heart» und «broken» sang ich immer «harter Brocken»! Wer hätte es geglaubt: Jetzt noch einmal der Refrain. Und schon ist das Lied fertig. Und jetzt sagt der Moderator, er habe das Lied gespielt, weil gerade eben die Meldung reingekommen sei vom Tod des Sängers und Komponisten. Gerade einmal dreiundfünfzig sei er geworden. Überdosis Drogen. Er sei am Erfolg dieses Liedes zerbrochen. Die drei Minuten, von denen er gelebt hat, haben ihn umgebracht. Ich schalte das Radio aus. Und ich hoffe inständig, sie spielen das Lied nicht, an seiner Beerdigung. Ralf Schlatter
___________
Ralf Schlatter lebt als Autor und Kabarettist (schön&gut) in Zürich. Sein aktueller Roman «Sagte Liesegang» ist im Limbus Verlag erschienen.
Eine Ehe verkacheln in drei Minuten
Die Partei wolle ihn ja schon lange in einem Amt, sagt Gruber zu seiner Frau. Spätestens, seitdem er damals die Reorganisation der kantonalen Feuerwehr gestemmt habe.
«Ich kann mir nicht vorstellen, an Strassenecken Wahlpropaganda für dich zu machen», sagt seine Frau.
Gruber ist leicht gestresst. Drei Minuten hat er sich gegeben, seine Frau von seiner Mission zu überzeugen. Noch steht sie unbewegt am Fenster.
Der kleine Mann vergesse den Feuerwehrmann nicht, der ihm einmal die helfende Hand gereicht habe. An der Hauseigentümerversammlung brauche er nur das Lied der Feuerwehr zu singen («Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr») – mache 2000 Stimmen. An anderen Versammlungen sänge er von seinen Bestrebungen, die Lohnentwicklung zu fördern – mache 10'000 Arbeitnehmerstimmen. Stettler bearbeite ein paar Wirtschaftsfunktionäre – mache 2000 Arbeitgeberstimmen. Er schaffe es also ohne weiteres zu einem internen Glanzresultat. Die Listenstimmen nicht mitgerechnet.
«Na? Gemeinderat Gruber, wie klingt das für dich?»
«Das klingt nach 90-Stunden-Woche. Das klingt nicht nach gemeinsamen Wochenenden. Das klingt nach: Wir können uns genausogut trennen.»
Das ist ein Rückschlag. Und dies bei einer Minute dreissig. Gruber weiss, er muss einen Zahn zulegen.
Als Feuerwehrmann suche man sich für eine Aufgabe den besten Mann, sagt er. Man schaue sich die Faktenlage an und treffe eine sachdienliche Entscheidung. Und genau das habe er getan. Er habe sich Faktenlage angeschaut, aus neunundneunzig Jahren von 1915 bis 2016. Gestern, nach der Parteiversammlung, habe er die feuerfeste Schublade aufgeschlossen und die alte Fotografie hervorgezogen. «Aber item», sagt er – die Zeit reicht nicht, seiner Frau von den drei prachtvollen Männern zu erzählen: Urgrossvater und Grossvater hinter einem Stuhl, auf dem sein Vater mit einem Säugling auf dem Schoss sitze. Alle drei starren auf den Säugling, und der Säugling schaue aus grossen Augen auf, als ahne er bereits, was die Gemeinschaft von ihm verlange.
«Soll man auf die Möglichkeit, etwas fürs Gemeinwohl zu tun, verzichten, weil die eigene Frau behauptet, sich an Strassenecken die Blase zu entzünden?»
Seine Frau schweigt.
Zwei Minuten fünfundvierzig.
Er habe Stettler angerufen und gesagt, er tue es, er kandidiere.
Seine Frau schlägt hinter ihm den Vorhang zu. «Du kannst den Volvo haben. Das Haus behalte ich», sagt sie. Christoph Simon
_____________
Christoph Simon, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Zurzeit ist er mit den berndeutschen Bühnenprogrammen «Wahre Freunde» und «Glück ist» unterwegs. Zuletzt erschienen: «Spaziergänger Zbinden» und «Viel Gutes zum kleinen Preis». www.christophsimon.ch
Der Automat
Einen Fuss vor den anderen. Geht nicht schneller. Mit diesem Rucksack. Mit diesen zu kurz geratenen Beinen. Versuche schneller zu gehen. Aber die Beine werden noch kürzer, der Rucksack noch schwerer. Klammere mich an meinen Stock. Lasse mich weiterschleifen von meinem Hund. Über diesen spiegelglatten Boden. Durch diesen ganz und gar ausgespiegelten Untergrund. Bleibe ich stehen, bleibt alles stehen. Hund, Stock und Rucksack. Alle unsere Spiegel und Spiegelspiegelbilder. Ich bin das Getriebe, das innerste. Zusammen sind wir ein Zahnrad, oder eine Uhr. Das ist unsere Zeit. Das sind unsere ersten drei Minuten. In drei Minuten kommt der Zug. Aber der Automat spürt mich nicht, spiegelt mich nur. Drücke verzweifelt auf seine Scheibe. Was für ein Idiot. Der Automat. Der Hund, der an der Leine zieht. Der Stock, der immer umfällt.
Der Rucksack, der immer schwerer wird. Hund und Stock sollen machen, was sie wollen. Können auch gehen. Geh doch, du dummer Hund und friss, was dort in der Ecke liegt. Stock, Elender, dann fällst du halt um. Was einmal liegt, kann nicht mehr fallen und wird von den Hunden gefressen.
Drücke den Buchstaben B. Der Automat schlägt vor: Baar, Bachs, Bad Ragaz. Ballmos, Ballwil, Balsthal. Bäretswil. Basel. Bättwil. Drücke den Buchstaben I. Der Automat schlägt vor: Biasca. Wähle Biasca. Nicht Biel, nicht Binn, nicht Birr, nicht Birrhart. Biasca, ein halbes. Der Hund kommt in den Rucksack. Der Stock unter den Sitz. Oder umgekehrt. Einfach. Nicht retour. Woher will man wissen, ob man zurückkommt? Weiss das der Hund, weiss das der Stock, weiss das mein Spiegelbild? Jetzt fährt der Zug ein, der Lärm seiner Bremsen hallt tausendfach von den Wänden wieder. Der Automat schluckt all mein Geld, sein rotes Auge leuchtet, ich öffne die Klappe zu seinem Mund, klaube Billet und Retourgeld aus seinem eiskalten, zahnlosen Unterkiefer. Sehe erst jetzt, auf seinem Kopf thront ein silbernes Geweih! Er schnaubt, scharrt mit den Hufen im Staub, senkt den Kopf zum Angriff. Ich setze mich in Gang, mit mir Hund, Stock und Rucksack. Hören wir den Pfiff des Kondukteurs, vergessen wir all unsere Beine, fliegen die Treppe hinauf und erreichen als Ungeheuer mit Hundskopf und Hörnern in letzter Sekunde unseren Zug. Noëmie Lerch
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Noëmi Lerch, geboren 1987, lebt als Journalistinund Schriftstellerin in Tiefencastell 2015 erschien ihr erstes Buch «Die Pürin» im verlag die brotsuppe.
Ohne Titel
ich steige aus dem bus
es regnet
ich spanne meinen kaputten schirm auf und warte bei rotlicht um den kottbusser damm zu überqueren
eine frau steht vor mir
ich sehe auf ihre nassen kleider
schaue unter dem schirm hervor
sie sieht aus als würde sie in kleidern und schuhen unter der kalten dusche stehen
ihre haare kleben an ihrem kopf
ihre kleider an ihrer haut
ich eile zu ihr biete ihr meinen schirm an während ich ihn gleich über ihren kopf halte sie sagt
nein danke
sie steht weiter an der roten ampel
nichts
nicht ich
nicht du
ich nicht
wo bist du
ich bin hier
nie bist du bei mir
denke ich
immer wenn es regnet
und suche dich in einer stadt wo du nicht atmest
es regnet
der mann neben mir raucht unter einem schirm
ich denke an dich
ich mag wie du rauchst
ich mag wie du schaust wenn du rauchst
der regen ist laut unter dem schirm
der rauchende mann schaut um sich
ich sehe ihn an
er verweigert meinen blick als wäre er schlecht
er dreht sich zu der nassen frau
er spricht leise mit ihr
ich kann nichts verstehen
ich will verstehen
er legt seine hand auf die schulter der nassen frau
er macht die augen zu
die zigarette im mund
ich trete näher
er betet
ein blondes haar auf der schulter der nassen frau
ich würde gerne hinlangen um dieses
blonde
dicke zu entfernen
dann tue ich es
so sanft ich kann
eine frau die unter einem weiteren schirm neben mir steht schaut mich mit einer tiefen falte zwischen den augen an und schüttelt den kopf
ich bewege meine hand langsam in richtung haar
ich greife danach
dann dreht sich die nasse frau zu mir
schaut mich mit grossen blauen augen fragend an
ich halte ihr das haar zwischen den fingern gespannt vors gesicht
sie sieht es nicht
sieht in mein gesicht
wie kann sie das nur übersehen denke ich
sie schüttelt ihren kopf
ich deute mit meinem blick aufs gespannte haar zwischen meinen fingern
weite meine augen auf
schaue sie fragend an
sie schaut nur in mein gesicht
ich kneife leicht meine augen
füge die augenbrauen dicht zueinander
sie dreht sich wieder nach vorne
sie schüttelt den kopf
es ist zu laut
um zu sprechen
ein weiteres haar landet auf ihrer schulter
die ampel wechselt auf grün
Meral Kureyshi
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Meral Kureyshi ist 1983 in Prizren geboren und lebt seit 1992 in Bern. Ihr Debüt-Roman «Elefanten im Garten» ist im Limmat-Verlag erschienen. Wenn sie nicht gerade an der Ampel am Kottbusser Damm wartet, schreibt sie am Literarischen Colloquium Berlin an ihrem zweiten Buch.
Mehr zum Thema «schnell und langsam» im Zeitpunkt 143.
16. Mai 2016
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