Geschichten vom Fliehen und Bleiben

Berichte von Menschen, die aus ihrer Heimat flohen –
oder sich trotz aller schrecklichen Umstände entschlossen haben, zu bleiben.
Shero Atici* aus Syrien

«Als ich dreizehn Jahre alt war, kam ich auf eine Militärschule; die private Sekundarschule war zu teuer für meine Eltern. Am ersten Tag fragte der Lehrer, wer von uns aus Afrin stamme, wo die meisten Leute kurdisch sind. Zwölf von uns standen auf und wir mussten uns an die Tafel stellen. Der Lehrer ging der Reihe nach durch und gab jedem eine Ohrfeige dafür, dass wir Kurden sind. Bevor er mich schlagen konnte, klatschte ich ihm eine und rannte los, über die Mauer heim zu meinen Eltern. Beleidigt man aber einen Lehrer der Militärschule, beleidigt man habe das ganze Militär; und das ist ein Problem. Der Grosscousin meiner Mutter, der bei der Staatsanwaltschaft arbeitet, konnte mich raushauen.


2004 machte ich zum ersten Mal bei einer Demonstration gegen das Regime mit. Die Polizei schoss vom ersten Tag an scharf. Vor meinen Augen wurde ein 13-jähriger erschossen. Da wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, dass etwas hier nicht stimmte und sich entschloss mich bald, der Kurdisch Demokratischen Einheitspartei in Syrien beizutreten, wie mein Vater. Wir organisierten Demonstrationen oder Festivals für kurdische Poesie. Kurze Zeit später wurde mein bester Freund entführt. Wir fanden ihn am nächsten Tag auf der Strasse, mit 160 Messerstichen getötet. Zwei weitere Freunde von mir verschwanden in der gleichen Woche. Da wusste ich, dass es Zeit war, unterzutauchen.


Mit Hilfe von Schleppern gelangte ich zu Fuss und auf einem Motorrad über geheime Pfade an die Grenze zur Türkei. Danach versteckte ich mich im Laderaum mit doppelter Wand eines Lastwagens. Der Raum war zwei Quadratmeter groß, wir waren dort zu viert. Die Luft war schlecht, liegen konnten wir nicht, als Toilette diente uns eine Flasche. Nach drei Tagen wurde ich an einer Raststätte in der Schweiz rausgelassen.
Ich hatte Glück. Mit dem Einfluss und Vermögen meiner Familie konnte ich mich immer wieder freikaufen. Viele haben diese Möglichkeit nicht, das bedauere ich zutiefst.


Ich versuche Flüchtlingen aus Syrien zu helfen. Ich habe unzählige Revisionsbriefe geschrieben und kenne die Schweizer Gesetzbücher gut. Ich plane, ein Rechtsberatungsbüro zu eröffnen. Ich weiss, dass das illegal ist. Und ich möchte auch erwischt werden. Damit ich ein Zeichen setzen kann, wie absurd es ist, dass ein gut gebildeter Mann wie ich seit dreieinhalb Jahren in der Schweiz sitzt und nicht arbeiten kann.
Die vielen Konflikte im Nahen Osten sind kein Zufall. Die arabischen Länder waren früher eine Firma mit einem Produkt: Erdöl. Zerstückelt man die Firma in viele Teile und schürt die Konkurrenz untereinander, kann man sie gegeneinander ausspielen. Das ist so passiert bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches durch den Westen. Auch gibt es Interesse daran, Diktatoren an der Macht zu halten. Diese halten die Bevölkerung ungebildet, aber beschäftigt. Vom Chaos profitieren immer welche.»



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10. November 2015
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