Gnade den Truthähnen!

Langjährige LeserInnen erinnern sich noch: Ich begann meine «Karriere» beim Zeitpunkt vor bald 20 Jahren als Blattkritiker. Irgendwo im Heft musste doch etwas Kritisches zum Magazin zu lesen sein. Es ist deshalb ein gutes Omen, dass mich der neue Verlagsleiter und Produzent Beat Hugi als eine seiner ersten Amtshandlungen aus der Versenkung geholt hat, in die mich der Herausgeber befördert hatte. Mit der neuen Platzierung meiner «brennenden Bärte» im Innern des Heftes kann ich leben. Ich fand immer, dass man ein Heft wie den Zeitpunkt nicht mit einem Brandsatz auf der letzten Seite abschliessen kann. Man sollte die Leser mit etwas Aufbauendem in die Zeitpunkt-losen Wochen entlassen. Das scheint nun beherzigt worden zu sein.


Damit kann ich mich dem Sand widmen, welcher der Menschheit ausserhalb dieser Zeitschrift in die Augen gestreut wird. Das geschieht heutzutage weniger mit Lügen, als vielmehr mit wahren, aber belanglosen und irreführenden Geschichten. Eine solche wurde an Thanksgiving, dem wichtigsten US-amerikanischen Feiertag für Millionen von Fernsehzuschauern inszeniert. Im Weissen Haus in Washington begnadigte Barack Obama zwei Truthähne, die ohne seine Fürsprache in einem Festmahl verzehrt worden wären. Die publicity-trächtige Geste, von George W. eingeführt und vom Fernsehen direkt übertragen, verschleiert zwei brutale Schlächtereien. Zum einen fallen dem Erntedankfest nicht weniger als 46 Millionen Truthähne und -hühner zum Opfer, ein industrielles Blutbad erster Grössenordnung. Zum anderen gibt Obama damit den versöhnlichen Staatsmann, während er im Schnitt pro Tag mehr als ein Todesurteil ohne Gerichtsverfahren vollstrecken lässt. Nach einem Bericht der «Int. Human Rights and Conflict Resolution Clinic» der Stanford Law School wurden seit 2004 allein in Pakistan 344 Tötungseinsätze durch Drohnen geflogen, 52 unter Bush und 292 unter Obama. Nach Informationen der Neww America Foundation fielen den Einsätzen zwischen 1932 und 3176 Menschen zum Opfer, rund 20 Prozent Zivilisten und die meisten unter Obama (Link 12.5.17 nicht mehr aktiv). Begreiflich, dass die PR-Berater des Präsidenten jede Gelegenheit ergreifen müssen, Ihren Dienstherrn in staatsmännischem, versöhnlichem Licht zu zeigen. (Hier ist eine Infografik über die Einsätze von Barack Obamas «Lieblingswaffe» zu finden: http://ammo.com/articles/armed-drones-obamas-weapon-of-choice-infographic )



Barack Obama dürfte allerdings entgangen sein, dass das Beispiel mit den Truthähnen keineswegs harmlos ist. Ihr Leben kann durchaus als Sinnbild für das Verhältnis von uns Menschen zum Kapitalismus verstanden werden. Truthähne sind scheue Tiere. Doch wenn sie täglich von einem freundlichen Menschen gefüttert werden, verlieren sie langsam ihre Angst. Aber ausgerechnet am Tag ihres grössten Vertrauens – dem letzten ihres Lebens –  werden sie von dem freundlichen Menschen geschlachtet und verzehrt. Uns geht es wie den Truthähnen: Wir glauben den Wachstumsversprechen des Kapitalismus. Und wenn wir endlich überzeugt sind, dass uns keine Krise mehr etwas anhaben kann, werden wir von ihr verschlungen. Die Vorlage zu dieser Geschichte stammt übrigens von Bertrand Russell, dem einzigen Philosophen, der je einen Nobelpreis erhielt.

An dieser Stelle können wir von den philosophischen zu den realen Gefahren überleiten. Mit diesen befasst sich vor allem die Armee. Sie kauft Kampfflugzeuge, baut Bunker und lässt die Soldaten durch den Schlamm kriechen. Aber wo ist der Feind? Eine ziemlich realistische, und mutige Antwort gab der schweizerische Armeechef André Blattmann vor kurzem im fernen Belgien. Die Schuldenkrise in Europa und die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit sei die grösste sicherheitspolitische Bedrohung für die Schweiz, sagte er. Ich teile seine Einschätzung, die von der EU übrigens scharf kritisiert wurde, muss aber präzisieren: Wenn in der EU das Schuldenchaos ausbricht, wird sich auch der Schweizer Franken nicht halten können. Zu viel heisse Luft hat die Nationalbank in unsere Währung geblasen.  Sie ist, gemessen an der Grösse unserer Volkswirtschaft, Weltmeisterin im Gelddrucken. Das Platzen dieser Blase ist ein so grosses Sicherheitsrisiko, dass André Blattmann sehr weit reisen muss, um überhaupt darüber flüstern zu können. Wenn er es tut, wissen wir, dass die Tage des Truthahns gezählt sind und wir uns besser wieder in einen Menschen mit Verstand und vor allem mit Herz verwandeln. Man kann den Kapitalismus zwar mit dem Verstand erfassen, aber nur mit dem Herzen besiegen.
19. Januar 2013
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