Göttliches Gehirntraining

Meditation, Gebet, Mantras – spirituelle Praktiken sollen die Menschen dem Göttlichen näher bringen Aber sind sie auch gesund? Die Neurowissenschaftler Andrew Newberg und M.R. Waldman haben in ihrem Buch «Der Fingerabdruck Gottes» nachgewiesen, dass religiöse Übungen Stress und Depressionen bekämpfen. (Roland Rottenfußer)

In der leeren, dunklen Kirche saßen ein paar alte Frauen. „Muatterl“, sagt man in Bayern. Auf einer Bank steckten sie die Köpfe zusammen und murmelten. Ich konnte nur einzelne Worte verstehen: „Gnade … Frauen … Sünder … amen“. Und dasselbe immer wieder. Ganz klar: Sie beteten den Rosenkranz, das Ave Maria. Ich war damals um die 20 und nur aus Interesse an Kunst in dem Gotteshaus. Evangelisch erzogen, durchlief ich zudem eine Phase des strengen „Jugendatheismus“. Das Treiben der Muatterl betrachtete ich daher mit einer Mischung aus Spott und Überlegenheitsgefühl. Schnell waren Vorwürfe zur Hand: Der Rosenkranz war langweilig, spießig und formalistisch. Die Betenden dachten über die Worte, die sie sprachen, gar nicht nach. Sie leierten sie nur herunter. Zu „denen“, beschloss ich stolz, wollte ich nie gehören.



Spiritueller Theoretiker sucht Praxiserfahrung


25 Jahre später verstand ich mich nicht mehr als Atheisten und suchte nach einer zeitgemäßen, individuellen Form der Spiritualität. Ich fand mich in einem Zen-Retreat wieder, in einem von Licht durchfluteten Seminarraum mit 40 anderen Individualisten. Aufgereiht wie Vögel auf einer Stange saßen wir auf unseren Sitzkissen und meditierten: schweigend, gegenstandslos. Ich war schlecht gelaunt, weil mich das Seminar gezwungen hatte, früh aufzustehen. Schon nach wenigen Minuten tat mir der Rücken weh. Mir war langweilig, und der Rat der Leiterin, meine Gedanken weder zu verscheuchen noch zu vertiefen, half wenig. Ich wollte hier weg. Vor mir lagen jedoch noch 19 Sitzungen à 25 Minuten …



Unterdessen verdiente ich meine Semmeln längst als spiritueller Journalist. Ich verfügte über umfassende theoretische Kenntnisse spiritueller Praktiken. Viele hatte ich sogar ausprobiert: Yoga, Qi Gong, Rebirthing, Osho-Meditation … Ich hätte sie so beschreiben können, dass Leser den brennenden Wunsch nach einem entsprechenden Seminar verspürten. Eine wirklich dauerhafte spirituelle Praxis konnte ich mir aber nie angewöhnen, ich gab sie stets nach einiger Zeit wieder auf. Die beiden „Techniken“, die ich oben beschrieb, Rosenkranz-Beten und Zen-Meditation, waren jedenfalls für mich nicht das Richtige. Wer hatte Recht: Menschen, die zu einem persönlichen Gott beteten oder solche, die auf die „Leere“ meditierten? Diejenigen, die heilige Sätze aus alten Büchern nachsprachen, oder die beharrlich Schweigenden, die im Hier und Jetzt „einfach anwesend“ waren?



Besinnung in einer gehetzten Welt


Wie finden wir überhaupt zu einer regelmäßigen Übungspraxis, die uns in spiritueller wie seelischer Hinsicht „heil“ macht, uns im Alltag trägt, tröstet und entspannt? Es ist nicht unwichtig, welche Antwort wir auf diese Frage finden. Und dies aus drei Gründen.


1. In unserer materialistischen Gesellschaft besteht vielfach ein spirituelles Vakuum. Es bleibt zu wenig Zeit zur „Besinnung“ – und oft fehlt auch die Einsicht, dass diese segensreich sein kann.


2. Wo sich Menschen als spirituell Suchende verstehen, herrscht ein Überangebot, das verwirrt. In einer multioptionalen Seminar- und Retreat-Welt riskieren wir, alles ein bisschen und nichts richtig zu machen. Schnupper-Religiosität – übrigens auch mein persönliches Problem.


3. Wir haben es mit einem kollektiven Gesundheitsproblem zu tun. Depressionen, Ängste und Burnouts boomen, und ca. 30 Prozent der Menschen in den Industriestaaten leiden mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung. Diese Zahl markiert aber nur die Spitze eines Eisbergs. Darunter verbirgt sich ein weites Feld nervöser Unruhe und innerer Leere.



Für diejenigen, die nur geheilt werden wollen, wenn die Wissenschaft ihnen die Seriosität der Methode bestätigt, gibt es jetzt eine gute Nachricht. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass spirituelle Übungen unser Gehirn positiv verändern. Dokumentiert ist dies in dem hervorragenden Buch von Andrew Newberg und Mark Robert Waldman: „Der Fingerabdruck Gottes.“ Die Autoren untersuchten „ganz normale“ Leute wie den Industriemechaniker Gus und beauftragten sie mit spirituellen Übungen. So mussten die Probanden jeden Tag bestimmte Mantras sprechen, die den Betreffenden gar nichts sagten und nicht einmal mit ihren Glaubensvorstellungen übereinstimmten. Die Ergebnisse wurden mittels Gehirnscans überprüft und waren überzeugend. Gus zeigte sich von der positiven Wirkung begeistert, seine Gedächtnisleistung verbesserte sich drastisch.



Gebete sind gut für’s Gehirn


Dabei ging es den Wissenschaftlern nicht darum, die Richtigkeit bestimmter religiöser Überzeugungen zu beweisen. Ihre Frage war nicht: „Ist es wahr?“, sondern „Hilft es?“ Die Frage nach der Existenz Gottes bleibt offen: „Aus neurologischer Sicht ist Gott eine sich stets ändernde und weiterentwickelnde Auffassung und Erfahrung, die sich im menschlichen Gehirn abspielt.“ Wichtiger ist Newberg und Waldman die Frage, ob wir durch die Übungen bessere und glücklichere Menschen werden. Die Antwort ist ein klares „Ja“: Religiöse und spirituelle Besinnung „dienen nämlich der Stärkung eines einzigartigen Neuralkreislaufes, der gezielt das soziale Bewusstsein und Einfühlungsvermögen fördert und destruktive Gefühle und Emotionen eindämmt.“



Ursache dieser Effekte ist die so genannte neuronale Plastizität, die Veränderbarkeit der Neuronen im Gehirn. „Wer über etwas so Komplexes und Mysteriöses wie Gott nachdenkt, verursacht unglaubliche Schübe an neuronaler Aktivität, die in verschiedenen Hirnregionen ausgelöst werden.“ Vereinfacht: Schon das Nachdenken über Religion führt dazu, dass unser Gehirn wächst. Die Aktivierung des präfrontalen und des anteriorischen cingulären Kortex im Großhirn „verbessert nicht nur das Gedächtnis und die Kognition. Sie wirkt gleichzeitig den Auswirkungen der Depression entgegen, die so oft Symptome altersbedingter Erkrankungen sind“ (z.B. Alzheimer). Dies kann den Autoren zufolge durch Yoga und kontemplative Meditation, aber auch durch Gebete bewirkt werden. Sie stärken unser Gefühl der Verbundenheit mit anderen, schützen vor gesundheitlichen Schäden durch Stress, machen den Geist gelassen, friedlich und wachsam.



Erfahrungen als Sufi-Schüler


Aber welche Übungen genau? Zur selben Zeit, als ich „Der Fingerabdruck Gottes las“,  war ich auch bei meiner Suche nach einer für mich passenden spirituellen Praxis weitergekommen. Ich hatte mehrere Sufi-Kurse besucht: bei einem ausgezeichneten Meister deutsch-ägyptischer Herkunft. Die islamische Mystik lehrt die Technik des „Dhikr“, rituelle Rezitationen heiliger Sätze, verbunden mit gezielter Atmung und Bewegung. Wichtige Sätze aus dem Koran wie „La illaha ill’Allah“ (Es gibt keinen Gott außer Gott) oder „Bismillah ar-Rahman ar-Rahim“ (im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allerbarmers) werden mehrere Minuten lang gesungen. Üblich ist die Kombination von Wort und Geste. Man spricht etwa „Astarchfarullah“ (Gott, verzeih mir) und streckt dabei seine rechte Hand aus, legt sie anschließend aufs Herz.



Während einer 40-Tages-Einweihung praktizierte ich diese Übungen eine Dreiviertelstunde täglich. Die Wirkung war enorm. Ich platzierte mich vor meinem Hausaltar, entzündete eine Kerze, nahm den (buddhistischen!) Rosenkranz in die Hände und legte los. Schon stellte sich tiefe Entspannung ein, eine Art aktive Stille, die mehr war als die Abwesenheit von Lärm. Ich fühlte eine angenehme Benommenheit, ein Strömen im ganzen Körper, verbunden mit dem Gefühl, in etwas Gütiges eingehüllt zu sein wie in einen Segen. Dieser Effekt wirkte sich auch in meinem Alltag aus: Ich war gelassener und heiterer. Wann immer ich im Alltag auch nur an das Dhikr denke, kann ich den entspannenden Segen in mir aktivieren.



Da ich mich nicht in erster Linie als Muslim, sondern als freien spirituell Suchenden empfinde, wollte ich wissen, ob sich dieselbe Wirkung auch mit Mantren anderer Religionen erzielen ließ. Ich begann mit dem aramäischen Vaterunser (das ich auswendig kann) und mit Sätzen aus dem christlichen Ritus, etwa „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“. Das Ergebnis meines Experiments: christliche Sätze wirken ebenso gut wie islamische. Aufgrund früherer Erfahrungen weiß ich, dass auch Hindu-Mantras eine tief entspannende, „segnende“ Kraft entfalten können. Man muss also nicht zu einer bestimmten Religion „übertreten“, um von der Kraft des Dhikr zu profitieren.



Stille ist das Ziel, nicht der Weg


Unbewusst enthielt meine spirituelle Praxis schon viele Komponenten, die auch von Gehirnforschern als hilfreich erachtet werden: Newberg und Waldman beschreiben die wesentlichen Aspekte so: „Das Bewahren des entspannten Bewusstseins, das Regulieren des Atems und das Ausführen einer einfachen oder auch einer komplizierten Körperbewegung mit einem beliebigen Körperteil. Gleichzeitig wiederholen Sie singend, im Sprechgesang oder auch lautlos einen für Sie bedeutsamen Klang oder eine für Sie sinntragende Wortverbindung.“ Damit ist die Zauberformel für eine spirituelle Praxis benannt, die gleichermaßen spirituell, psychisch und körperlich wohltuend wirkt. Schon in den 70er-Jahren hatte Herbert Benson (Harvard-Universität) nachgewiesen, dass es Stress reduziert, wenn man „langsam atmet und Wörter oder Wortverbindungen wiederholt, die einem das Gefühl von Behaglichkeit verleihen“.



Vor diesem Hintergrund verstand ich auch besser, warum ich mit dem reinen Sitzen in Stille Schwierigkeiten hatte. Es wirkt weniger ganzheitlich, weil Körper und Stimme unbeteiligt bleiben, während der Geist nichts hat, woran er sich festhalten kann und sich deshalb langweilt oder abschweift. Den Wert der stillen Meditation (etwa im Zen) will ich nicht bestreiten, ein solch „strenges“ Setting macht es für Ungeübte nur sehr schwer. Die absolute Stille sollte das Ziel sein; gezielte Körperbewegungen, Sprache und Gesang können aber der Weg sein, um sie zu erreichen. Setze ich mich unvorbereitet auf einen Stuhl, so fällt mir die Meditation schwer. Ganz anders nach einen Dhikr: Die Stille breitet sich dann wohlig in mir aus, und ich kann noch lange so sitzen und ihr nachspüren.



Aufgrund eigener Erfahrung und der Erkenntnisse der Gehirnforscher kann ich für regelmäßige spirituelle Übungen jetzt ein paar Empfehlungen geben:



Was wichtig ist:


* Die Länge der Übungen. Sie beträgt idealerweise ca. 20-40 Minuten oder länger. Es ist erwiesen, „dass das Gehirn umso mehr Veränderungen durchmacht, je länger man betet oder meditiert“.


* Regelmäßigkeit. Möglichst täglich zu einer bestimmten Tageszeit über einen längeren Zeitraum, für den man sich verpflichtet.


* Eine persönliche Beziehung zum „Mantra“. Ich habe einmal mit einem nicht spirituellen, sympathischen Wort experimentiert: „Eichhörnchen“, das ich 100mal wiederholte. Interessanterweise wirkte es ausgezeichnet. Trotzdem meine ich: Unpassende Mantras schwächen die Motivation und vermitteln kein Gefühl der Geborgenheit.



Was gern überschützt wird:


* Die Meditationshaltung. Unserem Gehirn und unserer Gesundheit ist es egal, ob wir unsere Beine im Lotussitz verknoten oder einfach auf einem Stuhl sitzen.


* Die spirituelle „Ideologie“. Newberg und Waldman zeigten in eine Studie, dass der erzielte Nutzen der Mantras „Om Mani Padme Hum“ (Buddhismus), „Rama Rama“ (Hinduismus), „Herr, erbarme dich unser“ (Christentum) und „Schalom“ jeweils gleich war. Die Empfehlungen in diesem Artikel gelten unabhängig vom Wahrheitsgehalt der betreffenden Weltanschauungen.



Eine typische Übung, geeignet für fast alle


* Wähle ein Mantra, einen „heiligen Satz“, zu dem du eine Beziehung hast. Am besten mehrere, damit ein Zeitrahmen von ca. 30 Minuten ausgefüllt werden kann.


* Wähle einen Ort in deiner Wohnung, an dem du täglich ungestört üben kannst. Ein Hausaltar mit für dich wichtigen Symbolbildern ist ideal. Gib dem Ritual einen Rahmen: Z.B. zu Beginn eine Kerze entzünden, sie am Ende löschen. Ein Rosenkranz (egal welcher Herkunft) hilft, um die Wortwiederholungen zu zählen.


* Komme zunächst an, setz dich auf einen Stuhl oder ein Kissen und entspanne deinen Körper vollständig. Atme mehrmals langsam und tief durch, bis du zur Ruhe gekommen bist.


* Singe nun dein Mantra (monoton oder auch mit einer Melodie) und lass den Klang deinen ganzen Körper durchdringen. Verbinde das Mantra mit deinem Atemrhythmus, so dass eine Regelmäßigkeit entsteht. Kurze Phrasen können 100 x, längere auch nur 30 x oder 10 x wiederholt werden.


* Nach einer Übungseinheit halte eine Weile inne, atme und spüre den Wirkungen nach. Dann gehe zum nächsten Wort, zum nächsten Satz oder Gebet über.


* Füge ein persönliches Gebet an, wenn du möchtest, und sitze am Ende noch eine Weile ruhig da, um in die Stille einzutauchen, die entstanden ist.



Erleuchtung nicht ausgeschlossen


Mancher wird anstatt der Gebete und Mantras während des Rituals lieber Affirmationen sprechen. Von Newberg und Waldman gibt es hierzu keine klaren Aussagen. Ich selbst habe nie überprüft, ob es z.B. wirkt, zu sagen: „Mir geht es von Tag zu Tag immer besser“. Vielleicht. Für mich war das „Dhikr“ von vornherein eingebettet in die Verbindung zu einem „Größeren“. Ich rate von zu seichten Affirmationen ab, etwa in dieser Art: „Die unendliche Fülle des Universums wird jeden Tag aufs Neue für ein pralles Bankkonto sorgen“. Explizit halten die Gehirnforscher negative oder bedrohliche Sätze für schädlich. Wenn wir z.B. 100mal rezitieren: „Wehe den Sündern, denn sie werden im Höllenfeuer schmoren“, dann schadet das mehr als es nützt. Nicht jedes „Mantra“ muss jedoch auf Mohammed oder Buddha zurückgehen. Wichtig ist eine „wohlige“ und ermutigende Botschaft. Wir können es ruhig auch mit eigenen Formulierungen versuchen, etwa „Ich bin geborgen und beschützt.“



Für bestimmte Meditationen, etwa Zen oder Transzendentale Meditation, existiert ein spezieller Glaubenshintergrund. Sie sind für die Gläubigen mehr als nur Methoden schnöder Gesundheitsprophylaxe. Auch versucht man in traditionellen Schulen die Erwartungen der Schüler meist zu dämpfen und sie auf längere Durststrecken vorzubereitet. Dieses Konzept ist schlüssig, kann Anfänger jedoch abschrecken. Der von mir vorgeschlagene Weg beruht auf einem klaren Handlungsplan, der jedoch individuell und frei gewählt ist. Er ermutigt Praktizierende zum Weitermachen, indem sich sofort und zuverlässig beglückende Energie-Erfahrungen einstellen. Die „Erleuchtung“ – keine Angst! – ist auch auf einem solch pragmatischen Übungsweg erreichbar. Newberg und Waldman schreiben: „Die Grenzen zwischen Gott und Mensch können durch eine Verringerung der Aktivitäten im Partiallappen über Meditation oder intensive Gebete aufgelöst werden. Man fühlt sich eins mit dem Objekt der Einkehr und seinem spirituellen Glauben.“



Rosenkranz rehabilitiert


Haben also die „Muatterl“, die ich als Jüngling in einer bayerischen Kirche beobachtete, doch Recht gehabt? Steckt in ihrem einfachen Rosenkranz-Gebet mehr Weisheit als uns „spirituell Unabhängigen“ bewusst ist? Auf dem neuesten Stand der Wissenschaft befanden sich die Frauen allemal. In einer ihrer jüngsten Studien stellten Newberg und Waldman nämlich fest, „dass das rituelle Rosenkranzbeten sowohl Spannung wie auch Stress und Angst abbaut.“ Wenn während einer meiner Übungen ein junger Mensch am Fenster lauschen würde, dächte er vielleicht verächtlich: „Was ist das für ein brabbelnder Spießer?“ Ich könnte ihn sogar verstehen. Aber der Weg verändert eben den, der ihn geht.




Buchtipp:


Andrew Newberg, Mark Robert Waldman: Der Fingerabdruck Gottes, Kailash Verlag, 450 Seiten, Euro 19,95