Green Economy und Décroissance

Vortrag gehalten am 28.08.12 in der Vollversammlung von Décroissance Bern

1. Hintergründe
Wir fragen uns bei Décroissance Bern ab und zu, wo genau die Grenze verläuft zwischen  uns und anderen ökologisch oder sozial motivierten Gruppen. In solchen Diskussionen  spielt der Begriff der Green Economy eine zunehmend wichtige Rolle. Stichworte dazu  sind etwa die Konferenz Rio+20 oder die Initiative der grünen Partei der Schweiz. Viele  hoffen, dass Green Economy die ökologische Wende bringen wird. Andere sehen in Green  Economy eine grosse Gefahr. Ich finde es deshalb wichtig, dass wir uns selbst Klarheit  verschaffen über unsere Einstellung zu dieser Sache.

2. Begriffsklärung
In den Achtziger- und Neunzigerjahren gab es einen unüberbrückbaren Gegensatz  zwischen grünen Wachstumsgegnern und der Wirtschaft unter Wachstumszwang. Viele  Leute suchten nach einer Überwindung dieses Gegensatzes. Das Ergebnis war das  Konzept der ökologischen Modernisierung. Man sah die Lösung der Probleme in  technischer Innovation, zum Beipiel mit Effizienzsteigerung in der Produktion oder mit der  Umstellung auf erneuerbare Energien. Es ging klar um Wachstumswirtschaft, die in ihrem  eigenen Interesse auf ökologisch verträglichere Methoden umstellen sollte. Das ist im  Wesentlichen das, was man später Green New Deal nannte und was heute Green  Economy heisst. Green Economy lässt sich also folgendermassen charakterisieren: Es ist  eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaft, die umwelt- und klimaschonend arbeiten will  und dabei auf technische Innovation und Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz  setzt.

3. Was wir über Green Economy nicht sicher wissen
Die Diskussion über Green Economy ist unter anderem deshalb schwierig, weil sie ein  Thema betrifft, das nur in Form von Projekten, Ankündigungen, Prognosen und Wünschen  existiert. Es gibt bisher nirgends auf der Welt in einem grösseren räumlichen und  zeitlichen Rahmen ein reales Beispiel für Green Economy. Das ruft bei älteren Leuten  Erinnerungen wach. In den Siebzigerjahren, nach der Publikation des Berichts «Die  Grenzen des Wachstums», wurde häufig so genanntes qualitatives Wachstum gefordert,  was immer das bedeuten mochte. Heute muss man feststellen: Der Begriff des  qualitativen Wachstums ist absolut folgenlos geblieben, es sei denn, man verstehe  darunter ein Wachstum aufgrund von Effizienzsteigerungen im Energie- und  Ressourcenverbrauch. In den Achtziger- und Neunzigerjahren kam die Forderung nach  nachhaltiger Entwicklung. Nachhaltigkeit bedeutet, dass man im Produktionsprozess nicht  mehr Ressourcen verbrauchen soll, als natürlicherweise nachwachsen können. Heute muss man feststellen, dass auch Nachhaltigkeit ein reines Ankündigungsprogramm  geblieben ist.
Nach diesen Erfahrungen drängt sich der Verdacht auf, dass es sich mit der grünen  Wirtschaft ebenso verhalten könnte. Aber das werden wir erst in zwei bis drei Jahrzehnten  wissen. Die Schwierigkeit ist die: Für die ökologische Wende bleibt nicht mehr viel Zeit.
Wenn sich 2030 oder 2040 zeigt, dass auch Green Economy vor allem ein
Ankündigungsprogramm war, ist es für eine Richtungsänderung vermutlich zu spät. Da wir  in dieser Beziehung keine Gewissheit haben, beschränke ich mich in diesem Teil auf  einige Fragen.
Erste Frage: Wie «grün» ist die Umbauphase, bis wir eine grüne, also ökologisch neutrale  Wirtschaft haben? Was geschieht zum Beispiel mit den bestehenden umweltschädigenden  Produktions- und Energieanlagen? Man muss kein Fachmann sein, um zu verstehen, dass  der Umbau auf Grün in jedem Fall ein titanisches Vorhaben ist, das sehr viel zusätzlichen  Rohstoff- und Energieverbrauch erfordert. Zumindest die Umbauphase ist also nicht  ökologisch neutral. Die Frage ist nur, ob wir diesen Umbau in Bezug auf Rohstoff- und  Energiebedarf und unter entsprechender Fortführung der Klimaschädigung noch schaffen  können. Ich habe zu dieser Frage kürzlich in einem Artikel des französischen Rohstoff-Experten Philippe Bihouix ein Beispiel gefunden. Er hält es für wahrscheinlich, dass für  den Rückbau der meisten bestehenden AKW drei Dinge fehlen werden: erschwingliche  Rohstoffe, erschwingliche Energie und Kapital. Wir werden uns den Rückbau der AKW  wahrscheinlich nicht mehr leisten können, sondern sie einfach als Tabuzonen der Zukunft  in der Landschaft stehen lassen müssen.
Zweite Frage: Wie ist das Problem zu bewältigen, das sich schon vor der nächsten
Jahrhundertmitte erstmals stellen könnte: die Erneuerung der neu gebauten Infrastruktur?
Das Ersetzen der zahlreichen Windkraftanlagen wird zum Beispiel Metalle in riesigen  Mengen erfordern. Und vermutlich wird man auf die Möglichkeit verzichten müssen,  Metalle aus Recycling zu verwenden, weil die Qualität weniger gut ist als bei neuem  Material.
Dritte Frage: Wie bekommt man die zahlreichen Rebound-Effekte in den Griff, die durch  die Effizienzsteigerung im Material- und Energieverbrauch zu erwarten sind? Ich nenne  nur den gefährlichsten dieser Rebound-Effekte: den Effekt auf den Konsum. Wenn  Wirtschaft wächst - nicht nur die grüne -, bietet sie mehr Produkte zum Konsum an und  gibt den Konsumierenden mehr Geld in die Hand. Dieses wachsende Angebot und dieses  zusätzlich verfügbare Geld werden - wenn überhaupt - nur in einer fernen Zukunft keine  Umweltschäden mehr verursachen.
Vierte Frage: Wie kann eine Wirtschaft, die sich in den letzten vier Jahrzehnten aufgrund  ökonomischer Überlegungen um die Lösung der drängenden Umwelt- und Klimaprobleme  gedrückt hat, zum ökologischen Umbau bewegt werden? Wir stehen in - und vielleicht erst  vor! - der grössten Wirtschaftskrise seit den Dreissigerjahren. Wie soll die Wirtschaft, die  unter härtestem Konkurrenzdruck gewinnorientiert arbeiten muss, in einer Krisenzeit den  gigantischen Umbau bewältigen, den sie in besseren Zeiten abgelehnt hat? Nach meiner  Meinung heisst die überzeugendste Antwort: durch die Aufnahme von Krediten, also durch  Verschuldung, also durch vorprogrammiertes Wachstum, von dem wir nicht zum Voraus  wissen können, ob es auch wirklich «grünes» Wachstum sein wird. Eine andere  Vorgehensweise ist kaum vorstellbar, und der Umbau ist übrigens total freiwillig. Es gibt  nämlich keine internationale Behörde, die die grossen Unternehmen zu diesem Umbau  zwingen könnte, von den nationalen Behörden ganz zu schweigen.


4. Was wir über Green Economy wissen
Alles bisher Erwähnte ist Hypothese, Vermutung. Es gibt aber bezüglich Green Economy  auch einige Gewissheiten. Wir kommen diesen Gewissheiten näher, wenn wir fragen, wer  Green Economy fordert. Wer nämlich glaubt, Green Economy sei eine Erfindung  ökologisch motivierter Personen und Gruppen, täuscht sich. Die Erfinder und Förderer von  Green Economy waren schon vor der Verwendung des eigentlichen Begriffs Wirtschaftsleute und Politiker, die verstanden, dass der Wachstumszwang der Wirtschaft  die Erschliessung neuer Tätigkeitsbereiche zwingend nötig macht. Zwei dieser neuen  Bereiche heissen Klima und Umwelt. Ich möchte euch trotz Zeitknappheit kurz die  Entwicklung der letzten zwanzig Jahre in Erinnerung rufen. 1992 nahmen einige Dutzend  grosser Konzerne unter der Leitung des Schweizers Stephan Schmidheiny entscheidend  Einfluss auf die internationale Politik. Schmidheiny war die rechte Hand von Maurice  Strong, dem Generalsekretär der Rio-Konferenz. Um den Verlauf der Konferenz in seinem  Sinne zu beeinflussen, publizierte Schmidheiny das Buch «Kurswechsel», das vielen  Umweltbewegten Mut machte. Darin stellte er die freie Marktwirtschaft als das einzig  mögliche Instrument für nachhaltige Entwicklung dar. Er gründete den Unternehmerrat für  nachhaltige Entwicklung, BCSD. Diesem Unternehmerrat traten vierzig bis fünfzig grosse  Konzerne bei. Unter Schmidheinys Führung prägte der BCSD die Konferenz von Rio 1992   entscheidend und machte den Begriff der nachhaltigen Entwicklung zu ihrem Leitbegriff.
Die Konferenz wies folgerichtig den grossen Unternehmen die Führungsrolle in der  internationalen Umweltpolitik zu und beschränkte sich auf Appelle an das freiwillige  Handeln der Unternehmer, der Behörden und der Zivilgesellschaft. Sie hatte keine  nennenswerten positiven Folgen, wie wir heute wissen. Zwanzig Jahre später wurde die  gleiche Komödie ein zweites Mal gespielt: Rio+20, diesmal unter dem Schlagwort Green  Economy. Keine Verpflichtung für die Wirtschaft, Empfehlungen und Aufrufe an die  Weltöffentlichkeit zur Fortführung der nachhaltigen Entwicklung. Weder nationale noch  internationale politische Behörden haben irgend eine entscheidende Befugnis, um  Umwelt- und Klimapolitik durchzusetzen.
Das ist heute die offizielle UNO-Politik. Das heisst jetzt konkret auf der ganzen Welt und  vor allem in den wenig entwickelten Ländern des Südens Folgendes: Die Natur, Wasser,  Boden, Luft, Wald, Meeresboden, wird durch die Unternehmen unter dem Vorwand der  schonenden Nutzung in Beschlag genommen. Sie wird privatisiert und zu einem  wirtschaftlichen Wert gemacht. Der Zweck heisst Wirtschaftswachstum. Das Mittel zum  Zweck ist die Ökonomisierung der Natur. Wo die Natur noch Gemeingut ist, also noch  niemandem «gehört», geht sie in Privatbesitz über. Kombiniert mit der Tatsache, dass  unter Green Economy vor allem technische Innovation und Steigerung der  Ressourceneffizienz verstanden wird, kann das schon heute und in naher Zukunft  einschneidende Auswirkungen haben. Ich zähle einige Beispiele auf, die man unter  diesem Aspekt problemlos als Teile von Green Economy ansehen kann: Die Wasserpolitik  von Nestlé; das Projekt eines riesigen Weltraumspiegels zur Abstrahlung von Sonnenlicht;  die Düngung der Meere zwecks Klimaschutz; Milliarden von Aluminiumpartikeln in der  Stratosphäre zum gleichen Zweck; die Versenkung von CO2 mit grossem technischem  Aufwand in Böden und Meeren; die Möglichkeit, mit CO2-Emissionsrechten zu handeln  und zu spekulieren; der Bau von Riesenstaudämmen und die damit verbundene  Vertreibung oder Umsiedelung der ansässigen Bevölkerung; Land Grabbing; Agrotreibstoffe; Biopiraterie und Patentierung von lebenden Organismen; das Ersetzen  von lokalen Traditionen, in denen viel Wissen und Können steckt, durch grünes Agrobusiness; die erzwungene Umstellung grosser Teile der Weltlandwirtschaft auf Gentech, ohne Befragung der betroffenen Bevölkerung; der Putsch vom Juni 2012 gegen Präsident Lugo in Paraguay; es ging darum, dass sich einige Agrokonzerne durch die Landlosenbewegung behindert fühlten. Diese Liste könnte fast beliebig verlängert werden. Aber ich möchte noch zum fünften Teil meiner Ausführungen kommen.

5. Green Economy und Décroissance
Wir sollten meines Erachtens bei Décroissance zwei Dinge klar auseinanderhalten:  Einerseits das Bestreben, auf erneuerbare Energien und umweltschonende Produktion  umzustellen. Das kann man nur befürworten, vorausgesetzt, dieser grüne Teil der  Wirtschaft ist nicht Zusatz zu Bestehendem, sondern Ersatz für Bestehendes. Andererseits  die Wachstumsfrage. Das Grundkriterium muss für uns immer die Wachstumsfrage in den  entwickelten Ländern des Nordens sein. Das gibt in vielen Fällen klare Richtlinien für  unser politisches Handeln. Es wird zum Beispiel heissen, dass wir uns immer dann von  Green Economy distanzieren, wenn wir es mit einem Wachstumsprojekt zu tun haben. Es  kann aber auch heissen, dass wir grünen Projekten zustimmen, die nicht Teil der  Wachstumswirtschaft sind. Persönlich finde ich es gut, dass uns diese Diskussion  Gelegenheit gibt, uns mehr Gedanken über unsere politische Linie zu machen und unsere  Identität als wachstumsverweigernde Bewegung bewusster wahrzunehmen
04. September 2012
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