Immer schneller langsam werden
Prokrastination
Ein neues Keyword jagt durchs Netz, seit unser gern gelebtes Wissen, dass morgen auch noch ein Tag sei, mit dem hippen Begriff der «Prokrastination» geadelt wurde. Früher nannte man es «Faulheit», obwohl echte Prokrastination damit so wenig zu tun hat wie mit Entscheidungsunfreude, Bedächtigkeit oder Antriebslosigkeit. Hamlet, der den Rachemord an seinem Onkel über fünf Akte lang aufschiebt, ist der erfolgreichste Prokrastinateur der Literatur. An seinem Beispiel zeigt sich, wie viel Energie echte Prokrastination tatsächlich erfordert: Diesen meucheln, jene in den Tod schicken, Herzen brechen und Theaterspiele organisieren. Und all das, um sich vor dem ultimativen «to do» auf der Liste zu drücken. Respekt!
Prokrastinieren, das ist mentales Wassertreten. Würden wir wenigstens Milch treten, so hätten wir irgendwann Butter. Bei Zitroneneis ein luftiges Sorbetto. So aber nur müde Beine. «Morgen steigen wir aus dem Wasser», denken wir noch, bevor wir dann absaufen. Dass ich diese Bilder entwerfe, statt gleich zum Kern meines Textes zu kommen – ein Akt der Prokrastination. Dass Sie ihn lesen –
natürlich auch. Vielleicht – ja sogar wahrscheinlich – warten im Moment dringlichere Aufgaben auf Sie. Sie aber denken: «Hey, den neuen Zeitpunkt hab ich ja noch nicht gelesen. Wenn ich das jetzt gleich erledige, dann kommt er nicht auf den grossen Haufen der Magazine, die ich sammle, um sie irgendwann zu lesen. So gesehen hake ich gerade einen Punkt auf meiner To-do-Liste ab.»
Das tun Sie nicht – und Sie wissen es. Wir alle wissen es! Wir sind bereit, viel zu erledigen, solange es nur nicht auf unserer «echten» Aufgabenliste steht – neben Dingen wie: Mit dem Rauchen aufhören. Rasen mähen. (Nachgeschobener Unterpunkt: Sense besorgen). Schimmelkultur im Bad beseitigen (oder der Forschung übergeben). Prokrastinateure lieben Listen, denn gut geplant ist halb verschoben. Sie schreiben auf dieselbe: Geschirr spülen. Dann zerlegen sie dieses Projekt auf Masterlisten in Unterpunkte: Spülmittel bereitstellen. Reihenfolge des Geschirrguts (Recherche). Freund fragen, ob er abtrocknen mag. Geschirrtuch auswählen. Schliesslich gründen sie eine Facebook-Gruppe, schreiben im Blog darüber und posten Selfies «Ich und mein schmutziges Geschirr». Wäre es nicht einfacher, das Geschirr schnell mal eben abzuspülen?
Natürlich. Aber ein «schnell mal eben» ist nicht das herrschende Prinzip in der Provinz der Prokrastination. Je mehr auf unserer Liste steht, desto produktiver fühlen wir uns. Und – erfreulicher Nebeneffekt – desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass wir irgendetwas davon tatsächlich in Angriff nehmen. Auf meiner Liste steht aktuell: Buch veröffentlichen. Neue Webseite bauen. Joggen gehen. Pläne für kommenden Winter (Recherche!). Weltherrschaft. Neues Listensystem testen.
Sie sehen: Wir reden hier von der neuen Entdeckung der Langsamkeit. Schneller langsam sein, wenn man so will. Immer zügiger zu dem Punkt der perfekten Entschleunigung gelangen, wo sich irgendwann idealerweise gar nichts mehr bewegt.
Unbetroffene meinen, diesem Phänomen sei mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen zu begegnen. Die Salamitaktik, schlagen sie vor. Die «Nur zehn Minuten»-Methode. «Just do it!», tönen die einen. «Just wait for the impulse», raunen wieder andere. «Du brauchst einfach einen Tritt in den Allerwertesten», bieten sie stiefelzückend an. «Lagere aus! Setze dir Deadlines! Visualisiere!»
Doch Prokrastination ist wie ein Virus. Wir alle kennen unsere individuellen Maschen, Dinge auszusitzen. Wenn wir sie mit Tricks auszuhebeln versuchen, passt sich der intelligente Keim diesen «Antibiotika» an – und findet neue Wege, sich in unser Leben zu schleichen. Prokrastionation bekämpfen zu wollen ist im Grunde Prokrastination in perfider Perfektion.
Sitzen wir sie also aus, diese Mode. Warten wir ab, bis sie sich irgendwann wieder in Bequemlichkeit, Strukturlosigkeit oder Unentschlossenheit zerfranst. Stressen Sie sich nicht bis dahin: Für Prokrastination ist immer noch Zeit. Morgen ist schliesslich auch noch ein Tag.
Mehr zum Thema «schnell und langsam» im Zeitpunkt 143.
Prokrastinieren, das ist mentales Wassertreten. Würden wir wenigstens Milch treten, so hätten wir irgendwann Butter. Bei Zitroneneis ein luftiges Sorbetto. So aber nur müde Beine. «Morgen steigen wir aus dem Wasser», denken wir noch, bevor wir dann absaufen. Dass ich diese Bilder entwerfe, statt gleich zum Kern meines Textes zu kommen – ein Akt der Prokrastination. Dass Sie ihn lesen –
natürlich auch. Vielleicht – ja sogar wahrscheinlich – warten im Moment dringlichere Aufgaben auf Sie. Sie aber denken: «Hey, den neuen Zeitpunkt hab ich ja noch nicht gelesen. Wenn ich das jetzt gleich erledige, dann kommt er nicht auf den grossen Haufen der Magazine, die ich sammle, um sie irgendwann zu lesen. So gesehen hake ich gerade einen Punkt auf meiner To-do-Liste ab.»
Das tun Sie nicht – und Sie wissen es. Wir alle wissen es! Wir sind bereit, viel zu erledigen, solange es nur nicht auf unserer «echten» Aufgabenliste steht – neben Dingen wie: Mit dem Rauchen aufhören. Rasen mähen. (Nachgeschobener Unterpunkt: Sense besorgen). Schimmelkultur im Bad beseitigen (oder der Forschung übergeben). Prokrastinateure lieben Listen, denn gut geplant ist halb verschoben. Sie schreiben auf dieselbe: Geschirr spülen. Dann zerlegen sie dieses Projekt auf Masterlisten in Unterpunkte: Spülmittel bereitstellen. Reihenfolge des Geschirrguts (Recherche). Freund fragen, ob er abtrocknen mag. Geschirrtuch auswählen. Schliesslich gründen sie eine Facebook-Gruppe, schreiben im Blog darüber und posten Selfies «Ich und mein schmutziges Geschirr». Wäre es nicht einfacher, das Geschirr schnell mal eben abzuspülen?
Natürlich. Aber ein «schnell mal eben» ist nicht das herrschende Prinzip in der Provinz der Prokrastination. Je mehr auf unserer Liste steht, desto produktiver fühlen wir uns. Und – erfreulicher Nebeneffekt – desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass wir irgendetwas davon tatsächlich in Angriff nehmen. Auf meiner Liste steht aktuell: Buch veröffentlichen. Neue Webseite bauen. Joggen gehen. Pläne für kommenden Winter (Recherche!). Weltherrschaft. Neues Listensystem testen.
Sie sehen: Wir reden hier von der neuen Entdeckung der Langsamkeit. Schneller langsam sein, wenn man so will. Immer zügiger zu dem Punkt der perfekten Entschleunigung gelangen, wo sich irgendwann idealerweise gar nichts mehr bewegt.
Unbetroffene meinen, diesem Phänomen sei mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen zu begegnen. Die Salamitaktik, schlagen sie vor. Die «Nur zehn Minuten»-Methode. «Just do it!», tönen die einen. «Just wait for the impulse», raunen wieder andere. «Du brauchst einfach einen Tritt in den Allerwertesten», bieten sie stiefelzückend an. «Lagere aus! Setze dir Deadlines! Visualisiere!»
Doch Prokrastination ist wie ein Virus. Wir alle kennen unsere individuellen Maschen, Dinge auszusitzen. Wenn wir sie mit Tricks auszuhebeln versuchen, passt sich der intelligente Keim diesen «Antibiotika» an – und findet neue Wege, sich in unser Leben zu schleichen. Prokrastionation bekämpfen zu wollen ist im Grunde Prokrastination in perfider Perfektion.
Sitzen wir sie also aus, diese Mode. Warten wir ab, bis sie sich irgendwann wieder in Bequemlichkeit, Strukturlosigkeit oder Unentschlossenheit zerfranst. Stressen Sie sich nicht bis dahin: Für Prokrastination ist immer noch Zeit. Morgen ist schliesslich auch noch ein Tag.
Mehr zum Thema «schnell und langsam» im Zeitpunkt 143.
21. Juni 2016
von:
von:
Über
Martina Pahr
Martina Pahr ist Magister der Literaturwissenschaft, verausgabte Fernsehredakteurin, ehemalige Reiseleiterin und leidenschaftliche Schrebergärtnerin. Nebenher veranstaltet sie diverse Lesebühnen in München (wo sich kaum jemand etwas unter diesem Begriff vorstellen kann - im Grunde «Poetry Slam» ohne Wettbewerb.) Im Sommer schreibt sie gern in Schottland, im Winter in Asien und zwischendrin im Garten - wo sie sich überlegt, warum sie nichts Anständiges gelernt hat.
0797822552
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können