40 Wissenschaftler fordern medienfreie Klassenzimmer
Deutschland soll Laptops und Tablets aus den Schulen verbannen. Schweden hat es bereits vorgemacht.
Mit einem Paukenschlag mischt sich die «Deutsche Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.» (GBW) in die Debatte über den Gebrauch von elektronischen Geräten an Kitas und Schulen: Sie fordert einen sofortigen Stopp. Wie die GBW mitteilt, haben 40 führende Wissenschaftler und Kinderärzte ein entsprechendes Statement unterzeichnet. Adressat sind in erster Linie die 16 deutschen Bundesländer. Professor Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Aufrufs, verlangt: «Wir fordern die Kultusminister auf, bei der Digitalisierung an Schulen und Kitas ein Moratorium zu erlassen.»
Unter den Erstunterzeichnern sind führende Experten wie der Ordinarius für Schulpädagogik Professor Klaus Zierer (Universität Augsburg), die Mediziner Professor Manfred Spitzer (Universitätsklinik Ulm) und Professor Thomas Fuchs (Jaspers-Lehrstuhl Universität Heidelberg) sowie der Medienpädagoge Professor Ralf Lankau (Hochschule Offenburg).
Die GBW fordert: «Jetzt ist der Zeitpunkt, dass die Schulpolitik auf die Pädagogen und Kinderärzte dieses Landes hört und den Versuch des digitalen Unterrichts abbricht.» In Schweden ist es bereits so weit: Die schwedische Bildungsministerin stoppte den Tablet-Einsatz in der Primarstufe.
Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch die schwedische Regierung korrigierte 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professoren des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung von Schulen in einem Gutachten als falsch kritisierten: Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die behaupteten positiven Befunde nicht belegbar seien.
Die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass «die Digitalisierung der Schulen grosse negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler» habe. Die Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: «Es ist offensichtlich, dass Bildschirme grosse Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung.» Das Karolinska-Institut ist eines der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt.
Vor allem müsse der Schwerpunkt des Wissenserwerbs wieder über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen der Lehrkräfte erfolgen, schlussfolgert das Karolinska-Institut. Wer sich Wissen «selbstorganisiert» aus frei zugänglichen digitalen Quellen suchen müsse, wie es derzeit in schwedischen Schulen üblich ist, verliere viel Zeit, um es auf Richtigkeit zu prüfen und lerne nur halb so viel wie im regulären Unterricht.
Der U.S. Surgeon General (oberste Gesundheitsbehörde in den USA) hat 2023 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Sie zeigt detailliert auf, wie stark junge Menschen von digitalen Medien beeinflusst und abhängig werden. Die immer längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter habe Folgen für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Körperunzufriedenheit, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Depression.
Die wichtigste Empfehlung für alle Altersstufen: Reduktion der Bildschirmzeiten, keine eigenen Geräte für Kinder und keinen unkontrollierten, unbegleiteten Zugang zum Internet. Eltern und Geschwister sollen zum Beispiel in Gegenwart von jüngeren Familienmitgliedern ganz auf die Nutzung von Bildschirmmedien verzichten.
Einen Schritt weiter geht der UNESCO-Bericht „2023 Global Education Monitor“, dessen Untertitel „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ die entscheidende Frage stellt: Wem nutzt es? Das Ergebnis: Bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen stünden nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und der Datenökonomie. Unparteiische Erkenntnisse über die Auswirkungen der Bildungstechnologie seien Mangelware, es gebe kaum belastbare Belege für den Mehrwert der digitalen Technologie im Bildungswesen, zudem stamme ein Grossteil der Nachweise von denjenigen, die versuchen, sie zu verkaufen.
Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
Die im Juni 2010 gegründete Gesellschaft für Bildung und Wissen dient der Auseinandersetzung mit den Grundzügen, Voraussetzungen und Folgen der gegenwärtigen umfassenden Bildungsreform von Schule und Hochschulen. Sie will Beiträge leisten zur öffentlichen Debatte über das Ziel, die Inhalte und Methoden dieser Reform.
Bisher im Zeitpunkt zur Digitalisierung bei jungen Kindern erschienen:
Der Intelligenzkiller im Kinderzimmer
Was Eltern und Erzieher tun können, damit ihre Kinder nicht vom Handy abhängig werden
Paul der Erste, «Rauchmelder» für Handys
von:
Kommentare
Kein Verbot, nur ein Moratorium
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Liebe Redaktion,
mit Erstaunen las ich den Titel «40 Wissenschaftler fordern medienfreie Klassenzimmer» als Beitrag zu unserer Forderung nach einem Moratorium zu Digitaltechnik in Schulen. Wir fordern weder ein medienfreies noch ein digitalfreies Klassenzimmer. Ersteres ginge gar nicht, weil auch Sprache, Mimik, Gestik Medien sind, ebenso Bücher oder eine Tafel. Und Digitaltechnik kann in höheren Klassen sinnvoll sein.Wir fordern "nur" darüber nachzudenken, ab wann und für welchen konkreten Zweck welche Medien (analog und digital!), je nach Alter und Bildungsziel, im Klassenzimmer sinnvoll eingesetzt werden können. Ich selbst habe ja z.B. eine Professur für Digitaldesign und produziere seit fast 40 Jahren digital. Trotzdem gehe ich mit Studierenden in die Kunstschule und zeichne mit ihnen analog, bevor wir uns an den Computer setzen für Grafikdesign, weil das manuelle Zeichnen hilft, Ideen mit wenigen Strichen zu Papier zu bringen.
Denn das ist unser grundlegende Intention: Analoge wie digitale Medien als Werkzeuge einzusetzen, wobei das Analoge in der Schule vor dem Digitalen kommen sollte, um z.B. mit der Hand zu schreiben und Bücher auf Papier zu lesen, was das Lesen lernen fördert. In diesem Sinne wünsche ich eine anregende Diskussion.
Viele Grüße
Ralf Lankau
(Bemerkung: Die Redaktion hat Herrn Lankaus Zusendung als Kommentar eingefügt, deshalb erscheint als Autor einer unserer Namen.)