6. August 1945: Ich habe Hiroshima überlebt
Es sollte eins der bewegendsten und berührendsten Interviews werden, dass ich im Laufe meines journalistischen Lebens geführt habe. Ich begegnete Miyoko Matsubara, dieser kleinen schmächtigen, etwas gebeugten Frau, vor zehn Jahren, als sie im Alter von über 70 Jahren mit ihrer stillen, unbeugsamen Kraft zum x-ten Mal um die Welt flog, um die junge Generation zu warnen: Zu warnen vor der Hölle, in die sie geblickt hatte, zu erinnern an das unermessliche Leid, zu deren Zeugin sie geworden war, Vorstellungen zu vermitteln vor dem nuklearen Holocaust, der unter dem Begriff der ‚atomaren Abschreckung‘ fast schon normal klingt.
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Zeichnung von Miyoko Matsubara im Hiroshima Peace Memorial Museum

Miyoko MatsubaraMiyoko Matsubara war eine ‚Hibakusha‘, eine Zeugin des Atomwaffen-Einsatzes in Hiroshima – eine jener Zeitzeuginnen, die acht Jahrzehnte nach dem Abwurf der Bombe über der japanischen Grossstadt aus der Gegenwart verschwinden. Sie war von dem Tag, der ihr Leben prägen sollte gezeichnet, ihr Körper nach mehr als 30 Operationen vernarbt und müde. Doch sie folgte ihrem Auftrag, immer wieder eindringlich – und als wäre es in der Gegenwart – das Erlebte zu beschreiben. 
Als wir zusammensassen, liefen uns beiden während des Gespräches die Tränen über das Gesicht. Miyoko erzählte wie in Trance, während ihre Hände wie von alleine einen Friedenskranich für mich falteten, «den wohl Zehntausendsten», wie sie mir beim Abschied sagte. Miyoko Matsubara lebt nicht mehr, sie starb am 10. Februar 2018 im hohen Alter von 85 Jahren – 73 Jahre nach der Explosion der Atombombe über Hiroshima. Soll man solche Worte deshalb im Archiv verstauben lassen? Nein! Die Zeugenschaft bleibt lebendig.


Frau Matsubara, Sie haben den Abwurf der Atombombe über Hiroshima überlebt. Was verbinden Sie mit dem Datum des 6. August 1945?

Als die Atombombe auf Hiroshima fiel, war ich gerade einmal 12 Jahre alt und Schülerin der siebten Klasse am Gymnasium. Die Bombe explodierte eineinhalb Kilometer entfernt von mir. Und von den 250 Kindern an unserer Schule gehörte ich zu den 52, die überlebt haben.

Was für ein Tag war der 6. August ‘45? Und wie spielte sich damals der Alltag in Hiroshima ab?

Während des Krieges gab es keine Ferien für die Schüler. Kinder, die älter als 14 Jahre alte waren, wurden von der Regierung zu einer Art Arbeitsdienst eingezogen, und mussten neue Waffen zusammenschrauben oder Uniformen nähen oder Essen für die Soldaten kochen. Aber die Kinder in meinem Alter, so zwischen 12 und 14 konnten noch keine Waffen bauen. Uns schickte man zum Aufräumen zu den Ruinen zerbombter Häuser. Alle Schüler waren verpflichtet, auf irgendeine Weise mitzuhelfen. An diesem Tag waren wir insgesamt 840 Schüler, die an sechs Ruinengrundstücken arbeiteten.

 

Und worin bestand der Auftrag?

Wir mussten den grösseren Studenten dabei helfen, die Trümmer wegzuräumen, und sie bei ihrer Arbeit anfeuern. Wir sammelten Material, das noch brauchbar war und verstreut im Gras herumlag, und trugen es in Körben zusammen und riefen uns ermutigende Worte zu, um die Arbeit leichter zu machen. Das klang so: ...... Yosha, Yosha!

Wie viele Menschen lebten in Hiroshima und warum wurde gerade diese Stadt zum Ziel?

350.000 Menschen lebten damals in Hiroshima, wovon rund 40.000 zum Militär gezählt werden konnten. Aber von Hiroshima war nie ein Angriff ausgegangen. Und das es zum Ziel wurde, war eher eine Sache des Zufalls. Im Friedensmuseum kann man das sehen. Seit dem 3.August 1945 war Hiroshima das erste Ziel, Kogura das zweite, Nigata das dritte und Nagasaki das vierte Ziel. Bei dem klaren Augustwetter hatten wir vom 3. August an jede Nacht zwei oder dreimal Luftalarm. Als wir die Sirenen hörten, verliessen wir die Stadt, stiegen in die Berge hoch oder gingen in die Bunker. Und wenn es vorbei war, kehrten wir wieder zurück. Obwohl es dauernd Luftalarm gab, folgte nie ein Angriff. Niemand wusste, was das zu bedeuten hatte. Im Friedensmuseum kann man die Antwort heute lesen: Bei guten Wetterbedingungen sollten drei Bomber losfliegen und das Ziel mit den besten Sichtverhältnissen selbstständig aussuchen. An diesem Tag war es furchtbar heiss. Kaum zu glauben, wie heiss es war. Nicht die kleinste Wolke war zu sehen, es war ein strahlend klarer Himmel.

 

Was passierte dann in den frühen Morgenstunden an diesem Tag. Haben Sie die B 29 im Anflug auf Hiroshima gehört?

An diesem Tag gab es neun Minuten nach sieben einen Luftalarm, und 20 Minuten später kam die Entwarnung. Das wirkte wie ein Zeichen, sich nicht länger zu sorgen. Wir begannen damit, aus Feuerschutzgründen ein Gebäude einzureissen und sollten eine Feuerschneise anlegen. Plötzlich um Viertel nach acht erschienen drei Bomber über Hiroshima. Einer sollte die Bombe werfen, ein anderer sollte fotografieren. Aus dem einen Flugzeug fiel irgendetwas an einem Fallschirm heraus. Perfekt sah das aus. Wir beobachteten den weissen Fallschirm, der hinten aus dem Flugzeug herausfiel. Ich blickte hoch zu dem Flugzeug, aus dem die Atombombe fiel, und hielt die Hand schützend über die Augen, weil die Sonne so blendete. (...) Und plötzlich war da ein grosser, riesiger Feuerball, der sich donnernd in alle Richtungen ausdehnte - pschsch bong. Im ersten Moment dachte ich, sie hätten direkt auf mich gezielt. Ich warf mich auf den Boden. Im selben Moment war ein ohrenbetäubendes Brüllen in der Luft, das bis in die Eingeweide der Erde hinunter reichte. Ich weiss nicht, wie lange ich dort bewusstlos lag, aber als ich wieder zu mir kam, war aus dem sonnigen Morgen eine dunkle Nacht geworden. Meine Kamaradin Takiko Hunaoka, die neben mir gestanden hatte, war wie vom Erdboden verschwunden. Alle waren weg. Und ich lag am Boden mit dem rechten Bein und dem rechten Arm nach oben.

Was war dieses Brüllen für ein Geräusch, woran hat es sie erinnert?

Das war, als hätte die Bombe die Erde selbst zerrissen. Tatsächlich aber explodierte sie 580 Meter über dem Shima-Krankenhaus, ganz in der Nähe von dem Ort, wo man heute noch die Ruine des «Atomic Domes» sehen kann. Da oben über dem Krankenhaus explodierte sie, aber ich dachte, sie wäre heruntergefallen und hätte die Eingeweide der Erde zerrissen. Denn die Erde bebte. Und als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass mich die Druckwelle mitgerissen hatte und ich gut fünf Meter von dem Platz entfernt lag, an dem ich vor der Explosion gestanden hatte.

Was war Ihnen passiert? War es sehr heiß? Wir stark war diese Explosion und die Druckwelle?

Als ich meine Hände ansah, waren sie wie Pranken. Die Haut löste sich ab und Teile hingen in Fetzen herunter. Meine beiden Hände waren auf ihre doppelte Grösse angeschwollen. Weil mein Gesicht so schmerzte und brannte und auch weil es so furchtbar roch, griff ich nach meinem Tuch und hielt es vor mein Gesicht, aus dem kleine gelbe Tropfen fielen. Als ich sie abtupfen wollte, löste sich die Haut in meinem Gesicht ab. Oh, also war auch mein Gesicht verbrannt. Dann schaute ich hinunter auf meine Füsse. Auch an den Beinen waren Verbrennungen und die Haut löste sich ab.

Was war mit Ihrer Kleidung passiert?

Die Lehrer hatten uns gesagt, dass die weisse Kleidung uns für den Feind zu einem leichten Ziel mache. Und so hatte ich einen ganzen Tag damit verbracht, meine Jacke dunkel zu färben, weil es keine dunkle Wolle gab. Aber die Jacke, die getragen hatte, war weg. Nur am Oberkörper hingen noch ein Paar Fetzen. Auch meine Arbeitshosen waren verschwunden, so dass meine Taille und die Hüften verbrannt worden waren. Die einzige Kleidung, die ich noch an hatte, war schmutzige weisse Unterwäsche. Sie werden wissen: schwarze Farben nehmen die Hitze an, während weisse Farbe die Hitze reflektiert. Deshalb hatte ich von den Schultern bis zu den Beinen keine Verbrennungen, den diese Stellen waren von der weissen Unterwäsche geschützt. Die weisse Farbe hat mein Leben gerettet. Hätte ich dunkle Unterwäsche getragen, wäre mein ganzer Körper verbrannt worden. Und ich hätte wie Takiko, die neben mir stand, zu denen gehört, die nie mehr zur Schule zurückgekommen sind. Ich weiss es nicht, aber vielleicht wäre das Schicksal meiner Freunde auch für mich besser gewesen....

Als Sie nach ihrer Bewusstlosigkeit wieder auf die Beine kamen, brannte da die Stadt, war alles kaputt? Was machten die Überlebenden? Was war das für eine Szenerie?

Ich konnte überhaupt niemand sehen, denn überall war schwarzer Rauch. Es war sehr dunkel, man sah erst gar nichts. Die Menschen, denen ich dann begegnete, waren alle fast nackt und sahen aus, wie Gestalten aus einem Horrorfilm. Sie hielten alle die Arme ausgestreckt vor sich, ihre Haut hing in langen Fetzen vom Körper herunter. Ihr Haar stand senkrecht vom Kopf weg, und alle schrien und klagten. Immer wieder der Ruf: «Oh Mama, Mutter hilf mir, hilf mir!» Und unten am Fluss war dies Stöhnen - «Goah, Goah, Goah».

Also haben Sie die Baustelle, an der Sie gearbeitet hatten verlassen und sind zum Fluss gegangen?

Ja, ich machte mich auf den Weg nach Hause, aber ich weiss nicht mehr, wie oft ich unter der Hitze zusammenbrach, bis ich auch nur die Brücke über den Zuomi erreichte. Da waren viele Menschen. Ich wunderte mich, warum sie nicht ins Wasser sprangen. Bis ich sah, dass der Fluss mit zahllosen Leichen bedeckt war, die vom Wasser davongetragen wurden. Manche gingen unter, andere trieben an der Oberfläche, viele waren furchtbar verstümmelt und ihre Eingeweide hingen heraus. Obwohl ich diese schreckliche Szenerie vor Augen hatte, sprang ich in den Fluss, weil meine Verletzungen so unsäglich brannten. Plötzlich hörte ich wie jemand meinen Namen rief: «Miyoko, bist Du es?» Aber ich konnte nicht erkennen, wer da mit mir sprach. «Ich bin es, Mitchiko!» sagte meine Freundin. Aber ihre Verbrennungen waren so schrecklich, dass ihr ganzes Gesicht, Augen, Mund und Kinn zu einem breiigen Klumpen verschmolzen worden war. Als ich mich hilfesuchend nach anderen Freunden umsah, bemerkte ich, wie grosse, leuchtend rote Flammen in dem Gebiet emporschossen, von wo ich geflohen war. Wenn wir dort im Fluss blieben, würden wir von den Flammen eingeschlossen. Also kletterten wir die Böschung hoch und halfen uns gegenseitig. Viele andere Überlebenden konnten nicht mehr weglaufen, sie starben dort am Flussufer. Manche versuchten, ihren Durst an den Feuerlöschtanks zu löschen, aber das Wasser war zum Trinken viel zu heiss. Also hielten sie Ihre Haare hinein und manche ertranken. Überall gab es grässliche Szenen. Wir kamen an einem brennenden Haus vorbei, aus dem sich eine Mutter hatte retten können. «Lasst mich hinein! Bitte, lasst mich hinein!», schrie sie, während mehrere Männer sie davon abhielten, zu ihrem fünfjährigen Sohn zu laufen, der unter den brennenden Trümmern lag. Da brach das ganze Dach herunter. Sie konnte nicht helfen. Und sie weinte so sehr. Es war schreckliche Bilder. Und dann konnte Mitchiko nicht mehr weiter....

Und Sie waren zu schwach, um ihr zu helfen?

Sie konnte nicht mehr weiter, obwohl wir weg mussten von der Hitze dieses brennenden Hauses. «Gib mir Wasser!», sagte sie: «Ich habe so einen schrecklichen Durst! Gib mir bitte Wasser!». Dann begriff sie, dass ich ihr gar nicht helfen konnte. Und sie sagte: «Lass mich hier. Geh Du zur Schule und sag den Lehrern Bescheid, wo ich bin. Geh jetzt, nun geh doch!» Und gleichzeitig baten mich ihre Augen darum, sie mitzunehmen. Ich konnte nicht helfen. Ich musste mich verabschieden. Drei Tage später, als ihre Eltern sie fanden, lag sie tot unter einer Strohmatte. Es tut so weh, wenn ich an sie denke. Wenn ich ihr nur ein kleines Stück hätte weiterhelfen können, hätte sie es vielleicht bis zur Sanitätsstation geschafft und wäre noch am Leben. Ich habe mich immer schuldig gefühlt an ihrem Tod. Immer wieder war sie in meinen Alpträumen. Und immer wieder habe ich sie sagen hören: «Ich Danke Dir Miyoko. Auch wenn Du nicht über mich sprechen willst, müssen wir berichten, wie schrecklich es war. Ich wollte so gerne länger leben. Warum muss ich sterben? Ich habe doch nichts getan! Warum muss ich sterben?»

Also ist die Erinnerung an Mitchiko, die Ihnen die Kraft gibt, diese Geschichte immer und immer wieder zu erzählen!? Haben überhaupt aus ihrer Klasse Kinder überlebt?

Es waren 35 Kinder von 250 Schulkameraden, die überlebten, weil wir immerhin eineinhalb Kilometer vom Ort der Explosion entfernt waren. Im Radius von einem Kilometer war alles tot. Im Radius von eineinhalb Kilometern wurden die Menschen hochgradig verstrahlt und erkrankten an Krebs. Auch ich habe Krebsoperationen hinter mir. Und dann wollte niemand der Überlebenden über das sprechen, was er durchgemacht hatte. Ich bin die einzige, der die Geschichte dieses Tages den Schülern und Studenten heute noch erzählt, auch wenn mir das sehr schwer fällt, mich daran zu erinnern, was vor 54 Jahren passiert ist. Mehr als einmal wollte ich vor dieser Erinnerung weglaufen. Aber immer wieder denke ich, dass ich den jungen Menschen davon erzählen sollte

Warum, glauben Sie, ist das so wichtig?

Wissen Sie, ich habe Angst, dass die Kinder nicht mehr wissen, was Krieg bedeutet und vielleicht wieder einen anfangen, wenn Sie gross sind. Deshalb glaube ich, sie zu unterstützen wie eine Mutter, wenn ich davon erzähle, solange sie jung sind. Damit sie nie erleben müssen, was ich erlebt habe.

Wenn wir in Büchern von der Gewalt einer Atombombe lesen oder von der Geschwindigkeit der Druckwelle, dann sind das lediglich trockene Zahlen. Welche Gewalt hatte die Bombe im Zentrum von Hiroshima tatsächlich?

Die Atombombe ist eine schreckliche Waffe, die zigtausend Menschen unmittelbar getötet hat. Im Bericht an die Vereinten Nationen wurde am Ende des Jahres 1945 von 140.000 Toten gesprochen. Als die Atombombe in der Höhe von 580 Metern explodierte, entstand ein Feuerball mit einer Temperatur von 100.000 Grad Celsius. Eine Sekunde später war der Feuerball immer noch vier- bis fünftausend Grad heiss. Unmittelbar unter dem Abwurfpunkt wurden viele Menschen unmittelbar zu Asche oder Kohle verbrannt. Die Schockwelle der Explosion war mit einer Geschwindigkeit von 440 Metern in der Sekunde elf Mal so stark wie ein Taifun oder Hurricane. Und dann kam noch die Strahlung dazu. Fünf oder 6 Einheiten reichen aus, um an Krebs oder Leukämie zu erkranken. In Hiroshima waren es 700 Einheiten.

Sie schafften es, aus dieser hochgefährlichen Region herauszukommen. Doch dann kam der schwarze Regen. Was ist das?

Verstrahlter Staub. Alles war hoch in die Luft gewirbelt worden und setzte sich dann als schwarzer Regen wieder ab, als strahlender Staub. Das sah aus wie eine riesige dunkle Gewitterwolke, die über der Stadt lag, es donnerte sogar und 20 Minuten später begann der schwarze Regen. An manchen Orten regnete es drei Stunden lang. In Hiroshima wurde es sehr kalt. Dabei war es doch so ein extrem warmer Tag gewesen. Jetzt war alles dunkel, schwarz wie in der Nacht.

Irgendwie haben Sie es geschafft, die Erste-Hilfe-Station zu erreichen. Wie ging es Ihnen gesundheitlich? Und welche Verletzungen und Krankheiten traten als Spätfolge des Atombombenabwurfs auf?

Es begann mit hohem Fieber, Durchfall, Erbrechen, Zahnfleischbluten, die Hälfte meiner Haare fielen mir aus. Für vier Tage war ich an der Schwelle des Todes. Aber ich überlebte. Es dauerte zwei Monate, bis mein Gesicht einigermassen geheilt war, vier Monate an den Händen und Armen und acht Monate, bis Verletzungen an den Beinen weg waren. Aber trotzdem traute ich mich ohne Augenbrauen und den verbrannten Augenliedern nicht auf die Strasse, denn die Augen waren jetzt immer offen. Ich wollte so gerne heiraten. Als ich 20 wurde, hatte ich in sieben Monaten 20 Operationen. Danach konnte ich wenigstens meine Augenlieder wieder schliessen, meine Finger und meinen Arm wieder ausstrecken.

Gab es Zeiten, wo sie es bedauert haben, zu den Überlebenden zu gehören?

Obwohl ich es als Zeuge nicht leicht hatte, habe ich begonnen, mein Leben zu organisieren und Arbeit zu finden. Aber obwohl ich sehr hart arbeiten konnte und intensiv studierte, gab mir niemand Arbeit.

Wie kommt es, dass die Überlebenden, die man Hibakushas nennt, in Japan wie Aussätzige behandelt werden?

Da hat die Geschichte von Sasako Sasazi eine grosse Rolle gespielt, die zehn Jahre nach der Bombe durch die Presse ging. Sasazo war zwei Jahre alt, als die Bombe explodierte und war damals drei Kilometer vom Ort der Explosion entfernt. Sie war jung und aktiv und plötzlich bekam sie Leukämie und starb. Zehn Jahre nach dem Abwurf war die Zahl der Leukämiekranken am höchsten. Es gab sehr viele Fälle. Und viele Paare brachten schwer behinderte Kinder zur Welt. Deshalb wollte niemand eine Frau haben, die eine Hibakusha war.

Ist ihr heutiger Weg, politisch gegen Atomwaffen vorzugehen, eine Art der Aufarbeitung. Überleben Sie den Schrecken psychologisch, indem sie sich immer wieder erinnern und berichten?

Ich sehe es als meine Aufgabe an, diese Geschichte immer wieder zu erzählen. Es ist wie eine Mission, mit der ich es schaffe, meine Schwäche zu überwinden. Wenn ich den Menschen die Geschichte erzähle und sie zuhören und ich sie erreiche, dann versprechen sie mir, mitzuarbeiten und sich zu engagieren. Ich werde also immer wieder von vielen Leuten sehr ermutigt. Also erzähle ich meine Geschichte und verbinde sie immer mit einem Appell: Wir wollen keine Atomwaffen mehr in der Welt! Ich weiss nicht wie viele Menschen meinen freundlichen Appell gehört haben, aber die Verhältnisse haben sich schrittweise verbessert. Immerhin wurden Atomtests vertraglich gebannt und der Internationale Gerichtshof hat erklärt, dass die Lagerung und die Verwendung von Atomwaffen gegen die Menschlichkeit verstossen und nicht im Sinne der Vereinten Nationen sei. Es verändert sich also etwas Stück für Stück. Aber das Leben ist so kurz. Vielleicht sterbe ich nächstes Jahr. Ich mache mir grosse Sorgen. Wenn diese Geschichte den Schülern nicht mehr weitererzählt wird, fangen sie vielleicht wieder einen Krieg an. Ich habe immer das Gefühl, das uns die Zeit ausläuft und wir uns beeilen müssen. Beeilen müssen und die Geschichte zu erzählen. Wie kann ich es der zweiten Generation vermitteln. Deshalb habe ich mich jetzt entschlossen im Internet eine Homepage einzurichten. Selbst wenn ich dann nicht in das Land reisen kann, wo sie Atomwaffen lagern oder Atomkraftwerke betreiben, kann ich den Menschen dort dann meine Botschaft schicken.

Aber eigentlich heisst das, dass für Sie jeder Tag der 6 August 1945 ist...

Ja, so ist es. Sie müssen sich nur vorstellen, dass für alle anderen der Krieg zu Ende war. Für eine Hibakusha aber ist der Atombombenabwurf keine Vergangenheit. Er geht weiter: bis in diesen Moment hinein. Wir Überlebenden sind alle strahlenkrank. Selbst wenn wir uns erholt haben, kann morgen ener neuer Krebs ausbrechen. Für eine Hibakusha ist tatsächlich jeder Tag der 6. August 1945. Das werden wir niemals los. Es begleitet uns unentwegt.

Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke
Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke ist Autor zahlreicher Bücher. Seine Recherchen führten ihn zu Begegnungen mit bedeutenden und charismatischen Menschen in aller Welt, die er in mehreren Interview-Bänden veröffentlichte. Es sind Vertreter einer neuen Wissenschaft, einer ganzheitlichen Ökologie und Kulturkritiker. Darunter der philippinische Soziologe, Umweltaktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises Nicanor Perlas, der australische Umweltaktivist John Seed, der sich für den Erhalt des subtropischen Regenwaldes einsetzt, sowie die buddhistische Öko-Philosophin Joanna Macy aus Berkeley, dem norwegischen Philosoph und Mitbegründer der Tiefenökologie Arne Naess und dem amerikanischen Kulturkritiker Charles Eisenstein.

Seit 2000 ist Geseko von Lüpke neben seiner Arbeit als Autor und Schriftsteller auch als Seminarleiter Ökopsychologie, Ökopädagogik und Tiefenökologie tätig, als Ausbilder in den Bereichen (seit 2005) und war 2001 Mitbegründer des 'Netzwerks Visionssuche', einem Berufsverband ökopsychologisch und initiatorischer Seminarleiter.

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