Alchemie des Wandels
Wenn uns etwas Unangenehmes widerfährt, neigen wir dazu, es von uns zu stossen. Wir versuchen, die Situation oder das, was sie in uns auslöst, zu erschlagen wie ein lästiges Insekt. Die Autorin schlägt vor, es statt dessen mit der ältesten aller Wissenschaften zu versuchen.
Gegen das, was uns triggert, fahren wir ganze Waffenarsenale auf. Wir wollen besiegen, was uns stört. Ob eine Krankheit, ein Ereignis oder das Verhalten eines Mitmenschen: Was wir nicht haben wollen, dagegen ziehen wir in den Kampf.
Das Mittel zum Zweck ist dasselbe wie das Resultat: Zerstörung.
Das Resultat ist eine Zivilisation der Kriege und Eroberungen. Unsere Geschichtsbücher sind voll von Gewalt und Gräueltaten und unsere Aktualität ist geprägt von Spannungen, Streitigkeiten, Rivalitäten, Kontroversen, Konflikten, Anschlägen, Invasionen und Vernichtung. Über alle Kanäle wird uns vermittelt, dass die Welt in einem Krieg ist, den nur die Mächtigsten gewinnen können. Das Mittel zum Zweck ist dasselbe wie das Resultat: Zerstörung.
So dreht sich das Rad immer weiter auf einen Abgrund zu. Die Opfer von heute werden die Täter von morgen sein. Für eine gerechte Sache werden sie kämpfen, die die schlimmsten Gräueltaten legitimiert. Immer mehr Lebewesen wird das Rad des Schicksals unter sich zermalmen, bis aus der Erde, dem einstigen Paradies, eine Wüste geworden ist.
Doch ist es unser Schicksal, uns immer weiter in die Tiefe reissen zu lassen? Sind wir dazu verdammt, uns in die Endlager fahren zu lassen – oder können wir aus dem Zug aussteigen? Ist es möglich, das Rad anzuhalten, indem wir es nicht immer weiter antreiben durch unsere Versuche, das Ungewollte zu bekämpfen?
So geht es nun darum, das in uns zu verwandeln, was wir nicht haben wollen. Hierzu müssen wir es zunächst akzeptieren.
Der Stein der Weisen
Aus dem alten Ägypten ist uns überliefert worden, was als die älteste Wissenschaft unserer Zivilisation gilt: die Alchemie. Im allgemeinen Verständnis gilt sie heute als mittelalterliche, mystisch und symbolisch verbrämte Chemie. Manchen stellt sie sich als wissenschaftliches Werkzeug des patriarchalen Denkens da, das versucht, das Natürliche in eine künstliche Form zu zwingen. Doch als innerer Prozess verstanden, kann die Alchemie eine Hilfe sein, das, was uns zunächst als unangenehm, abstossend oder gefährlich erscheint, zu verwandeln.
Der Alchemist wirft das Blei, das Dunkle, Schwere, Unedle, nicht weg. Er sucht einen Weg, es in Gold zu verwandeln, in etwas Leuchtendes, Wertvolles, Erhabenes. Bei diesem Prozess wird ein Element in ein anderes transmutiert. Sieben Schichten gilt es abzuziehen, sieben Etappen, bevor das Blei zunächst zu Zinn, Kupfer, Quecksilber, Eisen, Silber und schliesslich zu Gold wird. Dieser Prozess ähnelt nicht dem Entblättern eines Gänseblümchens. Hier kann im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los sein.
Um das Feine vom Groben zu trennen und die Materia Mater freizulegen, die Muttermaterie, den Grundstoff für das grosse Werk, wird verbrannt, geschmolzen, geätzt, zersetzt und aufgelöst. Für den Experimentierenden ist das alles andere als angenehm. Die Freilegung und das Entdecken der inneren Schatten konfrontieren uns mit Dingen, denen wir am liebsten niemals begegnen würden. Alles, was wir bisher nicht sehen wollten oder konnten und ins Vergessen geschickt haben, zieht durch unser inneres Labor.
Am liebsten würden wir die Türen sofort wieder zuwerfen und für alle Zeiten verriegeln. Doch wer sich einmal auf den Weg gemacht hat, für den gibt es kein Zurück. Wer einmal entdeckt hat, dass zunächst die Dinge im Inneren umgewandelt werden müssen, bevor sie äusserlich eine neue Form annehmen, der kann sich nicht mehr in ein Feind- und Schulddenken flüchten.
So geht es nun darum, das in uns zu verwandeln, was wir nicht haben wollen. Hierzu müssen wir es zunächst akzeptieren. Wir können nur mit dem etwas machen, was wir annehmen. Wie unangenehm das Gefühl auch sein mag, das ein Ereignis in uns auslöst: Wir müssen es in die Hand nehmen, bevor wir es verabschieden können. Es bedeutet nicht, sich daran zu klammern und in der Trauer, der Wut oder der Angst steckenzubleiben, sondern wie auf einer Party die Tür zu öffnen und jeden der Gäste zu begrüssen.
Jede Auseinandersetzung, jeder Konflikt, jeder Krieg hat etwas mit dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit zu tun.
Dem Krieg im Aussen haben wir unseren inneren Frieden entgegenzusetzen. Was auch immer sich gerade abspielt: Es ist so. Wir können es nicht ungeschehen machen. Der Alchemist jedoch kann in die Flammen schicken, was er innerlich verwandeln will. Im Feuer seines inneren Labors kann er das verbrennen lassen, von dem er sich trennen will, was ihn in die Tiefe zieht: Schuld- und Schamgefühle, Neid, Eifersucht, Gier, Rachegedanken, Hochmut, Härte, Berechnung – vor allem aber die Angst, nicht genug zu sein.
Jede Auseinandersetzung, jeder Konflikt, jeder Krieg hat etwas mit dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit zu tun, das seit Jahrtausenden geschürt wird. Der Konkurrenzgedanke, der unserer Zivilisation zugrunde liegt, hat uns dazu degradiert, uns stets mit anderen zu vergleichen und uns ihnen über- oder unterlegen zu fühlen. So kommen wir nie zusammen. Wir erkennen nicht unsere einzigartige Besonderheit und treiben alle zusammen das Rad des Schicksals immer weiter auf den Abgrund zu.
Der Alchemist erfasst die Möglichkeit, der Zerstörung der heutigen Zeit mit der Befreiung seines eigenen Herzens zu begegnen. Ziehen wir die Schichten ab, die unser Herz daran hindern, frei und leicht zu schlagen und auf andere Menschen zuzugehen. Das geöffnete Herz wird es sein, das das Rad in eine andere Richtung lenkt, in eine neue Zeit, in der die Konkurrenz wieder zu dem wird, was sie eigentlich bedeutet: concurrere – zusammen laufen.
Führen wir das zusammen, was wir getrennt haben. Bringen wir das, was wir in seine Einzelteile zerlegt haben, in die Heilung. Machen wir uns ganz, indem wir uns auch mit dem annehmen, was wir nicht sein wollen. Integrieren wir unsere Schatten und schicken sie so ins Licht.
So werden wir nicht zu woken Scheinheiligen, die vorgeben, das Gute zu tun, aber – ohne sich darüber bewusst zu sein – das Gegenteil nähren. Sondern zu echten Lichtpunkten, die sich miteinander zu einem Sternbild des Friedens verbinden.
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