Barbara Rütting: Allein unter Politikern

Die Schauspielerin, Autorin und Gesundheitsberaterin erzählt in ihrem neuen Buch von ihren sechs aufregenden Jahren als Abgeordnete im Bayerischen Landtag. Schonungslos berichtet sie von enttäuschten politischen Hoffnungen, von Burnout und Neuanfang.

Wie stellt sich Politik aus der Perspektive einer Quereinsteigerin dar? Wie erzählt jemand vom Politikbetrieb, der nichts mehr „werden“ muss und (politisch) auch nichts mehr zu verlieren hat? „Wo bitte geht’s ins Paradies?“ vermittelt einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen, wie wir ihn sonst nur selten zu sehen bekommen. Die Chronik eines außergewöhnlichen politischen Selbstversuchs. (Roland Rottenfußer)



In einem Alter, in dem die meisten schon ans Aufhören denken, begann für Barbara Rütting ein aufregendes neues Leben: Mit 75 Jahren zog sie nach einem triumphalen persönlichen Wahlerfolg für die Grünen 2003 in den Bayerischen Landtag ein. Aus diesem Anlass schrieb sie enthusiastisch an Renate Künast und Claudia Roth: „Eine dolle Umarmung, Ihr wunderbaren Frauen.“ Dabei war Barbara Rütting nicht mit fliegenden Fahnen zurück in eine Partei gegangen, die sie vor Jahren wegen des Kosovokriegs verlassen hatte. „Doch so schmerzlich die Wende der Grünen weg vom Pazifismus zurzeit auch ist: Welche Alternative bleibt uns?“ Die Ehe mit den Grünen als Besser-als-nix-Beziehung, hier zeigt sich eine erste Sollbruchstelle.



Barbara Rütting wird Alterspräsidentin und Sprecherin für Ernährung, Verbraucher- und Tierschutz und kämpft dabei permanent gegen „Windmühlen“, sprich gegen eine überwältigende Zweidrittel-Mehrheit der CSU. Ihre Anträge für mehr Tierschutz werden von einem arroganten Machtkartell immer wieder abgeschmettert. Doch sie bleibt anfangs optimistisch: „Das weiche Wasser bricht den Stein.“ Der neue Lebensabschnitt steht auch für einen intensiven Lebensstil: „Ich will auch noch riskant leben, wenn ich hundert bin! Ich will ein pralles Leben führen, nicht nur so dahindümpeln.“ Und riskant ist ihr Leben, prall vor allem ihr Terminkalender. Nicht einmal „die Jungen“ laden sich so viele Aktivitäten auf. Barbara Rütting kämpft für ihre Überzeugungen, bleibt im Landtag aber ein „bunter Hund“. Eine Außenseiterin, geschätzt, gehasst, bespöttelt – immer höflich, oft unbequem.



Gewählt, aber nicht geliebt



Barbara Rütting will sich nicht verbiegen lassen. Sie will kein „Ellbogenmensch“ werden. Und sie mag nicht einsehen, warum man richtigen Ansichten nicht zustimmen darf, nur weil die Betreffenden in der „falschen“ Partei sind. Mit dieser Einstellung eckt sie bald nicht nur bei der Mehrheits-CSU, sondern auch bei ihren grünen Parteifreund/innen an. Im Januar 2004 fällt eine erste Bilanz ernüchternd aus: „Es wird immer klarer: Die Grünen wollten mich nur als Zugpferd für die Wahl haben. Aber die ‚alte Schachtel’ sollte bloß nicht in den Landtag kommen!“



Schon vor ihrem Einzug in den Landtag hätten einige die streitbare „Promi-Frau“ am liebsten wieder abgesägt. Kaum gewählt, hatte ihr Landesvorsitzende Margarete Bause den Verzicht nahegelegt. „Du nimmst doch die Wahl nicht an?“ Man brauchte eine Galionsfigur im Wahlkampf, niemanden, der selbst den Kurs mitbestimmt. Barbara Rütting aber lässt sich nicht „wegloben“, mischt kräftig mit und erwirbt sich dadurch bei Vielen Respekt. Im Laufe der Zeit wachsen die Differenzen mit einer Partei, die noch immer Weißwürste als unverzichtbaren Bestandteil jedes Pressetermins betrachtet und der grausamen Hubertusjagd ihren Segen gibt.



Parteikonformismus – und zu viele Niederlagen



Ein Jahr nach der Wahl werden die Differenzen mit der Parteiführung unübersehbar, und erste Erschöpfungserscheinungen zeigen sich: „Das erste halbe Jahr war mörderisch. Kaum Zeit zu schlafen, kaum Zeit zu essen. Um eine bessere Lebensqualität für andere zu erreichen, bin ich angetreten – und die eigene bleibt auf der Strecke. (…) Der Parteikonformismus ist das eigentlich Frustrierende an diesem Job. Ich werde mich gegebenenfalls darüber hinwegsetzen.“ Damit eckt sie bei den Parteifreundinnen gewaltig an – und macht gelegentlich ausgerechnet mit dem politischen Gegner positive Erfahrungen.



So entschuldigte sich Barbara Rütting bei CSU-Minister Schnappauf für die beleidigende Überschrift einer Pressemeldung („Schnappaufs Initiative ist nichts als heiße Luft“). Niemand war über die Entschuldigung erstaunter als der Gescholtene. „Er sagte daraufhin zu mir, das würde er nie vergessen, so etwas hätte er noch nie erlebt.“ Der Vorfall stellt der Gesprächskultur in der Politik kein gutes Zeugnis aus. Barbara Rüttings Ansprüche werden denn auch immer bescheidener: „Vielleicht habe ich Glück und mir bricht nicht vor Ende der Legislaturperiode das Herz.“ Vorerst aber macht sie weiter.



Tierversuche, Fleischwahnsinn und ein toter Bär



Immer wieder verblüfft die Autorin in ihren Redebeiträgen durch rhetorische Highlights. So zum Thema Tierversuche: „Entweder sind die Tiere uns nicht ähnlich, dann führen die Versuche in die Irre, oder die Tiere sind uns ähnlich – dann sind diese Quälereien ethisch verwerflich. So einfach ist das.“ Oder über Fleischkonsum und Welthunger: „Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen. Etwa sieben bis zehn Kilo pflanzliches Eiweiß werden als Futtermittel benötigt, damit ein Kilo tierisches Eiweiß entstehen kann. Eine ungeheure, verantwortungslose Verschwendung.“



Kräftig gab Rütting Kontra, als 2006 die Vogelgrippen-Hysterie ausbrach: „Aus Sicht der Legebatterien-Barone hätte das Timing gar nicht besser sein können. Eine Mischung aus Zufall und schon längst in Planung befindlicher Politik sorgte dafür, dass die Vogelgrippe in Deutschland den Interessen dieser Klientel sehr entgegenkam.“ Und tatsächlich: Das für Januar 2007 geplante Verbot der Käfighaltung für Legehennen wurde aufgehoben. Sehr bissig auch ihre Anmerkungen anlässlich des Abschusses von Bär Bruno: „Bayern und damit Deutschland ist nach über 170 Jahren wieder ‚bärenfrei’. Früher galten Städte, Dörfer und ganze Landstriche zeitweilig als ‚ketzerfrei’, später als ‚judenfrei’.“ Und, sehr trefflich beobachtet: „Nur kranke Menschen bringen den Pharmariesen Gewinn, nicht die gesunden.“ Eine so einsichtige und direkte Sprache vermisst man bei „normalen“ Politikern.



Ein „Sektenskandal“



Bei so vielen Kämpfen auf so vielen Fronten verwundert es, dass die Jahre bis 2007 ohne äußere Brüche verliefen und Barbara Rütting noch immer „stand“. Dann allerdings wurde durch einen innerparteilichen Streit aus der Sollbruchstelle ein tiefer Riss zwischen Rütting und ihrer Partei. Schuld daran waren ihre spirituellen Neigungen. Kennern der Schauspielerin und Buchautorin waren diese längst bekannt, in der Politik aber schienen sie „unpassend“. Barbara Rütting trat bei einer Tierschutzveranstaltung auf, die von der Religionsgemeinschaft „Universelles Leben“ initiiert wurde. Es kam zu heftigen Angriffen wegen zu großer Nähe zur „Sekte“: Barbara Rütting verteidigte sich in einer Haltung von schon Voltairescher Größe: „Ich selbst gehöre keiner Religionsgemeinschaft an, werde mich aber jederzeit dafür einsetzen, dass Minderheiten nicht nur geduldet, sondern respektiert werden, so auch das Universelle Leben.“



Es half nichts: Die Parteirebellin musste versprechen, sich künftig vom UL fernzuhalten. Für sie ein schwer erträglicher Kniefall vor dem Kleingeist. „Wie viele engstirnige, kleinbürgerliche, intolerante Spießbürger gibt es doch auch bei den Grünen! Was habe ich bloß in dieser Partei zu suchen?“



Die „Strahleäugige“, weinend im Büro



Die größer werdende Distanz zur Partei ließ sich dann kaum mehr unter dem Deckel halten. 2008 bei einer Demo in Rosenheim sagte Rütting: „Wählt uns, wir sind immer noch das kleinste Übel“. Eine erfrischend realitätsnahe Bemerkung, aber der „Parteikarriere“ nicht unbedingt zuträglich. Sie spürte immer mehr Gegenwind. Wenn Barbara Rütting von Geflügel sprach, begann jemand zu gackern und zu krähen. Informationen wurden ihr vorenthalten, ihre Erfolge klein geredet. Das ernüchternde Resümee: „Tierschutzthemen interessieren die Grünen nicht.“ Und fast naiv: „Oft frage ich mich, was ich in einer Partei zu suchen habe, deren Vorsitzender zum Beispiel in einer Sitzung sagt: Überlegt doch mal, wie wir der CSU am besten schaden können.“



Die Folge: „Immer öfter macht das Herz Probleme.“ Schon im Juni 2006 war Barbara Rütting im Zug zur Arbeit ohnmächtig zusammengebrochen. Im Sommer 2007 häuften sich die Signale, „ich hörte nicht darauf.“ Die Diagnose lautete Vorhofflimmern. Fast noch schlimmer aber die seelische Belastung: „Ob außer mir noch andere Abgeordnete manchmal heulend in ihren Büros sitzen? Was läuft nur schief mit dieser Menschheit?“ Sie zweifelte heftig an ihrer selbst gewählten Rolle der „strahleäugigen, immer gut gelaunten, nie alternden Mutmacherin“. Dieses Klischee zu bedienen, fällt ihr zunehmend schwer. Längst vor dem Fall Robert Enke zeigt sich hier auch eine Schattenseite der Leistungsgesellschaft – mit einem besonderen Aspekt: Unermüdliche Aktivisten für sozialen, ökologischen Fortschritt sind besonders von Burnout bedroht. Denn die Liste der „Baustellen“ ist endlos, die Macht der Gegner scheint unüberwindlich.



2009: Der Zusammenbruch



Dann kommen die Einschläge näher: „Die Signale werden stärker. Ich muss aufhören. Ich gehe nicht kaputt – ich bin schon kaputt gegangen.“ Und: „Das Gefühl, versagt zu haben, gescheitert zu sein.“ „Es ist der Landtagsfrust, der mich zermürbt, die Ohnmacht, ständig gegen Windmühlen ankämpfen zu müssen ohne die geringste Aussicht, dass die ganzen Anstrengungen Früchte tragen.“ Anfang 2009 bittet sie Margarete Bause und Sepp Dürr, Vorsitzende der Grünenfraktion im bayerischen Landtag, sie vorzeitig von ihrem Mandat zu entbinden. Sie geht „ohne sich noch einmal umzuschauen“. Ohne Abschiedsrede im Parlament, ohne Feier im kleinen Kreis.



Eine Zeit lang blieb sie noch Mitglied bei Bündnis 90/ Die Grünen. Als dann aber im Herbst 2009 Renate Künast vor der Fernsehkamera einen Fisch erschlug, bringt dieses Ereignis das Fass zum Überlaufen. Die „wunderbare Frau“ zeigt sich als gefühlskalte Taktiererin, die sich bei Fischern und Jägern anbiedern will. Vor laufender Kamera, in der Sendung „Maischberger“ erklärte Barbara Rütting daraufhin ihren Austritt aus der Partei.



Tod eines Hundes – und Neuanfang



Von all dem erzählt ihr Buch „Wo bitte geht’s ins Paradies?“ Aber auch vom neu erwachtem Lebensmut einer Frau, die sich nicht unterkriegen lässt. Am Tag ihres Ausscheidens aus dem Landtag stirbt Barbara Rüttings geliebter Hund Osho an den Folgen eines Unfalls. Fast alles, was bisher ihren Lebensinhalt ausgemacht hatte, ist mit einem Schlag zusammengebrochen. Barbara Rütting verfällt in eine Depression, die eine tiefe, existenzielle Ebene berührte: „Warum kann ich mich trotz geradezu irrwitziger Bemühungen auf diesem Planeten nicht zu Hause fühlen?“ Ihr Name Barbara bedeutet nicht umsonst „Die Fremde“. Dabei bewahrt sich die Polit-Aussteigerin noch einen wahrhaft grimmigen Humor. So denkt sie nach über eine Fortsetzung ihres Bestsellers „Ich bin alt, und das ist gut so“. Titel: „Ich bin tot, und das ist gut so. Barbara Rütting plaudert aus dem Jenseits.“



Doch der Himmel kann warten. Die jetzt 83-jährige wagt noch einmal einen Neuanfang und zieht ins abgelegene Michelrieth (Spessart), wo sie ein neues inspirierendes Umfeld findet. Von Parteipolitik hat sie erst einmal genug. Ihr Credo: Anstatt offenbar unbelehrbaren Politikern ins Gewissen zu reden, muss jeder versuchen, sich in seinem privaten Umfeld anständig zu verhalten, am besten in Gemeinschaft mit anderen. Wenn viele das tun, entsteht daraus langfristig auch eine menschlichere Gesellschaft. Barbara Rütting bleibt ein politischer Mensch und will sich außerparlamentarisch weiter für den Tierschutz engagieren. Man wird also weiter mit ihr rechnen können.



Politik aus der Schaf- und Hühnerperspektive



„Wo bitte geht’s ins Paradies“ ist auch eine Geschichte des Tierschutzes in Bayern und Deutschland – bezogen auf die letzen sechs Jahre. Politik, gesehen aus der Frosch-, Schaf- und Hühnerperspektive. Wir erfahren Details, die in den Medien sonst meist unter den Tisch fallen. Z.B. wie Horst Seehofer das von Bundesministerin Renate Künast beschlossene Verbot der Käfighaltung bei Hühnern wieder aufhob. Wie die CSU beim Rauchverbot zurückruderte. Und warum es so schwierig ist, an Schulen die obligatorische Leberkässemmel zugunsten vollwertiger, vegetarischer Kost zurückzudrängen. Wir erfahren, warum in Bulgarien Strassenhunde in Vernichtungslagern grausam getötet werden und wie es Barbara Rütting gelang, dem Einhalt zu gebieten.



Wir lesen eine flammende Anklage gegen die Kirche, die, so die Autorin, die „Tiere verraten hat“ und erfahren zu unserer Verblüffung, warum das Töten für manche Jäger offenbar erotischen Reiz hat. So schrieb der Jäger und Neurologe Paul Parin: „Das Jagdfieber erfasst mich immer wieder mit der gleichen Macht wie sexuelles Begehren. Das Ziel der Gier war jetzt der Mord an einer Kreatur.“



Das Paradies ist in Arbeit



Es entsteht das entlarvende und aufrüttelnde Porträt eines Politikbetriebs, der scheinbar nicht mehr reformierbar ist – rettungslos in Sachzwängen, Opportunismus und hohlen Ritualen des Machterhalts gefangen. Außenseiter/innen mit einem intakten Gewissen – so das ernüchternde Fazit – werden vom System „ausgespieen“, reiben sich auf und enden in Frustration und Burnout. Gerade auch vor dem Hintergrund des aktuellen „Grünen-Booms“, der dazu verleitet, diese Partei zu überschätzen, ist das Buch lesenswert. Wo also geht’s ins Paradies? Man findet es wohl am ehesten in sich selbst und in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die im „Kleinen“ an einer liebevolleren Welt arbeiten. Der Politikbetrieb jedenfalls, so zeigt Barbara Rüttings Geschichte, ist für sensible Naturen mitunter alles andere als das Paradies. 



Barbara Rütting: Wo bitte geht’s ins Paradies? – Burnout einer Abgeordneten und Neuanfang. Herbig Verlag, 2010. 317, S., Euro 19,95



13. Dezember 2010
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