Darüber spricht man nicht

So tabulos unsere Zeit daherkommt: Wir leiden unter erheblichen Denkverboten.

«Du sollst dir kein Bildnis machen.» Der von Moses übermittelte Auftrag seines Gottes an die Gläubigen ist einer der ältesten dokumentierten Versuche, etwas zu tabuisieren: den Dienst an fremden Göttern. Ein solcher würde die Gemeinschaft der Gläubigen auflösen und damit die Allmacht Gottes in Frage stellen – das Ende aller Göttlichkeit in monotheistischen Religionen.
Gleichzeitig verbietet Gott seinen Gläubigen auch, sich ein Bild von ihm selbst zu machen. Zu allmächtig ist er und zu umfassend, als dass ihm Bilder gerecht werden könnten. Als Konsequenz davon sind Gottesdarstellungen im Judentum, im Islam und zum Teil auch im bibelnahen Teil der Christenheit tabu. Gott ist zu gross, um wahrgenommen, geschweige denn abgebildet zu werden. Die letzte Wahrheit kann nicht verstanden werden, deshalb soll man es auch nicht versuchen. Das ist die Mutter aller Tabus.
Dies ist bereits im polynesischen Ursprung des Wortes angelegt: es bedeutet gleichzeitig «heilig» und «verboten». Auf den Salomon-Inseln waren zum Beispiel Orte, wo die Geister wohnten, tabu. Sie zu verstehen würde sie entmystifizieren.


Wir leben also in einer Welt, in der die letzten Wahrheiten nicht angetastet werden dürfen. Wir bevorzugen die vertrauten Kulissen gegenüber dem Blick hinter die universellen Konventionen, wo alles möglich ist. Denn dort ist der menschliche Geist mächtiger als uns lieb ist. Er schafft sich seine Welt.
Die Elementarteilchen unserer Erde, abstandslos zusammengebacken, ergeben einen grösseren Würfelzucker vom Gewicht des Globus. Was wir als physische Erscheinung sehen und worauf wir uns als Menschen bewegen, ist letztlich nicht viel mehr als Zwischenraum in verschiedenen energetischen Zuständen. Und diese Energie – das wissen wir seit der Quantenphysik – ist informationssensibel und reagiert auf Geist. In gewisser Hinsicht ist das physikalische Universum also das Produkt unserer kollektiven Wahrnehmung und der sich daraus ergebenden Überzeugungen. Nicht auszudenken, wozu der kollektive Menschengeist in der Lage ist, im Guten wie in Schlechten.


Um dieses Gefüge und alle seine Machtkonstellationen stabil zu halten, braucht es Denk- und Handlungsverbote. Und weil Verbote eine Sache erst recht attraktiv machen – die Vertreibung aus dem Paradies ist dazu ein archetypisches Lehrstück – dürfen diese Verbote nicht ausgesprochen werden. Tabus erfüllen diese Funktion bestmöglich: Sie gelten, ohne genannt zu werden; sie wirken, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Sigmund Freud hat dies in einem seiner liebsten Werke, «Totem und Tabu» von 1913 deutlich erkannt: «Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.»


Die schwer zu durchschauende Doppelnatur ist Teil des Charakteristikums des Tabus: Die einen schützen das Heilige vor der Profanisierung und damit der Zerstörung; die anderen verbergen was nicht sein darf, weil es uns in tiefste Abgründe der Unmenschlichkeit stürzen würde – zum Beispiel Mord und Kinderschändung als vielleicht universellste Tabus aller Kulturen. Dazwischen gibt es eine breite Grauzone von Denk- und Handlungsverboten, vom Inzest über den Konsum von Hundefleisch bis zur Legitimation des Privatbesitzes. Die einen Tabus verschonen uns vor Ekel, Angst und Unmenschlichkeit, die anderen bewahren die Macht vor unangenehmen Fragen und schützen ihre Lügen. Das ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. In Frankreich sprach man lange Zeit nicht vom Algerienkrieg, sondern von den «évènements d‘Algérie». In Deutschland war bis in die 60er Jahre «Planung» politisch tabu, in Österreich der Austrofaschismus und in der Schweiz meinen wir noch heute, die direkte Demokratie sei die beste aller Staatsformen. Dabei hat sie, bei allen Vorteilen, eine Tendenz zum Gruppenegoismus, sie ist langsam und wenig innovativ – Nachteile, die in dieser Zeit besonders schwer wiegen.


Wer den Schein hinterfragt, rüttelt an den Säulen der Macht, und das wollen der gesellschaftliche Mainstream und namentlich seine Hüter nicht.
Besonders drastisch zeigt sich dies in unserem Geldsystem, der quasi-göttlichen Allmacht der Moderne, die (fast) alle Menschen der Erde in einen Glaubens- und Verhaltenskodex einbindet. Wer leben will, muss Geld verdienen. Wert hat nur, was verkauft und bezahlt werden kann. Alles andere wird der Zerstörung überlassen.
Ich erinnere mich noch gut an das Gespräch mit einem Vertreter der Nationalbank 2006. Es ging um die Vorsorge im Falle eines schnellen Wertzerfalls der Devisenreserven und der daraus folgenden Gefährdung des Schweizer Frankens.


Zugegeben, die Frage war vermutlich etwas verfrüht. Aber die Antwort war typisch: Erstens könne allein die Tatsache, dass sich die Nationalbank öffentlich zu einem solchen Thema äussere, das Vertrauen der Finanzmärkte beschädigen und zweitens sei das Eidg. Finanzdepartement zuständig. Dort sagte man mir übrigens, das Management akuter Krisen falle in die Kompetenz der Nationalbank. So viel zum Bereitschaftsgrad unserer Krisenmanager.
Was das Beispiel zeigt: Unser Geldsystem ist tabu und schon die öffentliche Diskussion naheliegender Fragen stellt eine Gefahr dar. Deswegen ist es eine der primären Aufgaben der Politiker und Wirtschaftskapitäne, grundlegende Fragen mit Beredtsamkeit totzuschweigen. Und die Medien schweigen lauthals mit. Wir werden mit allem versorgt: mit Propaganda, Nebensächlichkeiten, Skandalen – nur Ehrlichkeit ist Mangelware.


Nun gab es berechtigte Hoffnungen, dass sich mit dem Internet und dem freien Informationsfluss der mit Tabus zementierte Status quo ändern würde. Tatsächlich findet man im Netz alles zu allem. Aber drei Entwicklungen haben diese Erwartungen zerstört: Zum Einen konzentriert sich ein grosser Teil der Aufmerksamkeit auf Tabus, die ohne gravierende Folgen tabu bleiben könnten: Pornografie, Gewalt und Rassismus in den verschiedensten Spielarten. Zum Zweiten entsteht durch individualisierte Kommunikation keine neue Wirklichkeit; ein kollektives Nachdenken ist auf elektronischem Weg trotz Kommentarfunktionen, «likes» und anderen Zwitscher-Instrumenten nicht wirklich entstanden, bzw. beschränkt sich auf Nischen ohne Breitenwirkung. Und da, wo die Gefahr dazu real ist, sind drittens die Monopolisten mit unsichtbarer Gewalt dazwischengetreten.


Wer mit Google sucht, erhält personalisierte, von Durchschnittswerten sanktionierte und von geheimdienstlichen Algorithmen gefilterte Resultate. Unsere Wahrnehmung ist dadurch nicht mehr unmittelbar, sondern von Tabus verschleiert, deren Existenz wir nicht einmal ahnen. Wie das funktioniert, zeigt China mit der grössten Internet-Polizei der Welt: Wer dort nach den Begriffen «Verfassungsgericht», «konstitutionelle Demokratie», «schwarze Gefängnisse» oder «Massenpetition» sucht, findet nichts und wird sich entsprechend alleingelassen vorkommen – das Schicksal aller Tabubrecher.


Diese Wahrnehmungssteuerung ist eine kulturelle Revolution, die sich in der Wirkung mit der historischen Kulturrevolution Chinas durchaus vergleichen lässt, über die der grosse chinesische Schriftsteller Ba Jun schreibt: «Nach dem September im Jahre 1966 machte ich unter der Drohung ‹der Leitung der Rebellen› (oder anders formuliert, unter der Leitung der Peitsche) ausschliesslich vom Denken der Gehirne anderer Gebrauch. Brüllten andere ‹Nieder mit Ba Jin!›, erhob auch ich meine rechte Hand und fiel in das Echo ein. Denke ich jetzt an mein Verhalten zurück, kann ich es nicht begreifen. Aber damals hatte ich nicht geheuchelt, aufrichtig hatte ich zu erkennen gegeben, von den Menschen total niedergemacht werden zu wollen, so dass ich neu anfangen und ein neuer Mensch werden konnte.»


Der neue Mensch in der Endphase des Kapitalismus ist ein Mensch, der den Anweisungen des big brother folgt, ohne sich seiner Existenz überhaupt bewusst zu sein, eine Sklave, der willig den Anweisungen folgt, weil er meint, es seien seine eigenen. Der neue Mensch lebt im potemkinschen globalen Dorf des Wachstums, der Sparprogramme, der Kriege gegen den Terrorismus. Er wird unterhalten von Tabubrüchen niederer Ordnung, von Peinlichkeiten, sex and crime, damit er meint, er lebe in der grösstmöglichen Freiheit und ja nicht auf die Idee kommt, die wirklichen Tabus zu brechen: den Glauben an unsere demokratischen Institutionen, an die Rechtmässigkeit des Elends und der Kriege und dass es zu all dem keine Alternative gibt.


Die Frage nach dem Tabubruch, den die heutige Zeit erfordert, lässt einen ein bisschen ratlos. Wo sind die Tabubrecher der 60er Jahre, die die Rassendiskriminierung in den USA beseitigten, die sexuelle Heuchelei überwanden, den Prager Frühling spriessen und den summer of love glühen liessen? Was kann die zweite kopernikanische Wende auslösen, der unser Weltbild so dringend bedarf?
Was uns die Geschichte lehren sollte: Man darf von einzelnen Menschen nicht zu viel erwarten, ganz sicher nicht den grossen Tabubruch, den es jetzt braucht. Natürlich wäre es hilfreich, wenn Angela Merkel für einmal nicht beschwichtigen, sondern die Wahrheit sagen würde. Ganz sicher würden wir uns freuen, wenn die Gates und Buffets dieser Welt ihren Reichtum verschenkten, weil er nur so zu erhalten ist. Aber darauf können wir uns nicht verlassen. Vielleicht wartet der grosse Tabubruch darauf, dass wir ihn begehen, indem wir erkennen, dass er mit uns beginnt. Die Wahrheit wird uns frei machen.Aber nur, wenn wir den Mut haben, sie zu leben.



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Mehr zu diesen Thema finden Sie im Heft 136 «Berichte aus der Tabuzone»


Es gibt Dinge, über die spreche ich nicht einmal mit mir selbst. Konrad Adenauer



Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone