Das Jetzt gleicht fallenden Dominosteinen

Wer in einem See schwimmt, wenige Tage nach einer Hitzeperiode, in kühleren Verhältnissen und unter bedecktem Himmel, erfährt die Wassertemperatur als späte Folge der vorausgegangenen Sonneneinstrahlung. Der Schwimmer erlebt das Wasser, als wäre es eine Decke im frühen Herbst. Seine erst noch zögerlichen, dann kräftigeren Schwimmbewegungen gleichen einer Ode an den vergangenen Sommer.
Der Schwimmende vermählt sich nochmals mit einer nachwirkenden Zeitspanne. Das Wasser aber, eine Zeitader, eine wärmende Erinnerung, hat schon die Zukunft aufgenommen. Es verweist zurück und vorwärts, immer unmittelbar beim Schwimmer. Die Zeit lässt nie locker und keiner wird froh, wenn er sich nicht auf ihre Ferne und Nähe einlässt. Die Zeit ist das Garn, das uns alle umgibt, das uns keine Freiheit lässt und das uns befreien kann, wenn wir uns mit ihm einlassen. Wir können die Zeit beschreiben, wir müssen es nicht tun; sie bleibt uns treu, in welcher sinnlichen, sprachlichen oder wissenschaftlichen Form auch immer.

Zeit ist allgegenwärtig. Dem Schwimmer ist sie sehr nah, dem Rechnenden ebenso, dem Schachspieler, dem Ökonomen auch. Die Zeit haust um uns und wir versuchen, mit ihr klar zu kommen, obwohl sie flinker noch als eine Meerjungfrau Komplimente, Analysen, Grenzen und Verwünschungen negiert.
Der Schwimmer im See erfährt die im Wasser gebundenen Sommerstunden. Er kann sie für sich «nutzen», indem er eine äussere Zeiterscheinung zu einem inneren Zeiterleben macht. Dieses verhilft seinem Bewusstsein zu einer Einsicht in die Flüchtigkeit und Präsenz der Zeit. In der wechselseitigen Erfahrung zwischen dem sich wandelnden und aussetzenden Körper, an dem der Zahn der Zeit immer schon nagte, entsteht das denkerische Gefühl des gegenwärtigen Moments. Dieses «Jetzt» gleicht fallenden Dominosteinen: Es kommt zum Erliegen und wird Erinnerung. Aus ihr schöpft das Bewusstsein die Vorstellung des Wiederkommenden unter anderen, oft auch schmerzlicheren Bedingungen. Der körperliche und geistige Schmerz ist ein Zeitphänomen. Die Einsamkeit im Schmerz meint die unausweichliche subjektive Wahrheit der Zeit. Therapie als gemeinsame Anstrengung in der Befristung macht die tiefste Form von Solidarität aus und die Lebenszeit voller. Wie alle Freundschaft auch.     

Markus Waldvogel (*1952), Germanist und Philosoph, freischaffender Autor; Leiter der Beratungsfirma Pantaris (www.pantaris.ch). Mitbegründer der Bieler Philosophietage; lebt in Evilard bei Biel.
12. März 2017
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