Das Wilde in dir?

Das Wörtchen «wild» ist häufig negativ belegt. Zum «Wildsein» muss man also erst einmal einen positiven Zugang finden.

Wildnis
«Wild sein gestattet unserer inneren Natur, sich zu öffnen.» Foto: zVg Bobby Langer

Schon mal was von Mystik gehört? Was für ein oft unverstandenes bzw. missverstandenes Wort. Und was hat das bitte schön mit unserem Thema, also mit «Wildheit», zu tun? Und warum spricht man nicht mehr von «Wilden», sondern von «Indigenen»? Selbst das gute alte Winnetou-Wort «Indianer» ist verpönt. Aus ihm wurde der «nordamerikanische Ureinwohner» am Marterpfahl der politischen Korrektheit. Gleichzeitig feiern die Germanen hierzulande wieder fröhliche Urständ. Dabei gab es die als Volk gar nicht. Seltsam, wirklich alles sehr seltsam. Aber es passt.

«Sei nicht so wild!», hätte wohl Senator Thomas Buddenbrook seinen vierjährigen Enkel ermahnt und sich dabei selbstgefällig den parfümierten Schnurrbart gestrichen. Sich den Schnurrbart zu parfümieren, ist eben das Gegenteil von wild sein. Es ist nicht so lange her, da waren die «Wilden» noch nicht einmal als Menschen anerkannt. Man durfte sie nach Herzenslust versklaven, vergewaltigen, misshandeln, verstümmeln und umbringen, denn es fehlten ihnen angeblich «vernunftbegabte Seelen».

Erst am 2. Juni 1537 verkündete Papst Paul III. – er war lange von Missionaren dazu gedrängt worden –, dass es sich bei Indianern um «wirkliche Menschen» handle. Trotzdem dauerte es noch über 300 Jahre, bis in den USA die Sklaverei abgeschafft wurde. Für die Deutschen, von Ausnahmen abgesehen, war zwischen 1939 und 1945 Sklaverei ganz normal. Der Name hatte sich geändert – Sklaverei hiess jetzt Zwangsarbeit –, die Inhalte nicht; die hatten sich teilweise sogar verschlimmert.

Wilde Kinder – unerwünscht

Das Wörtchen «wild» ist häufig negativ belegt. Zum «Wildsein» muss man also erst einmal einen positiven Zugang finden. Wild sein funktioniert ja auch in unserer wildnisfernen, dafür supermarktnahen, durchreglementierten, städtischen Welt nicht mehr so richtig. Auch auf dem Dorf herrscht längst die Stadt.

Ihr Kind sei ein «wildes Kind» – welche Eltern hören das schon gerne aus dem Mund der Horterzieherin oder des Klassenleiters. Ein «wildes Kind», das hört sich nicht nach «wohlerzogen» an und schon gar nicht nach «wahrscheinlicher akademischer Karriere», eher doch nach verpasster Karriereleiter und Bürgergeld. Spätestens in der vierten Klasse sollten «Kinder mit Zukunft» nicht mehr mit wilden Kindern spielen, damit deren schlechter Charakter nicht auf sie abfärbt.

Wild ist so etwas wie ungehobelt, ohne kulturelle Verfeinerung, zügellos. Zootiere sind keine wilden Tiere; eingesperrt und wild schliesst sich gegenseitig aus. Wir alle sind Zootiere mit gelegentlichen Wildheits-Attacken. Ein wild werdender Standard-Mann schmeisst den Bierkrug krachend gegen die Wand, fährt volltrunken Auto oder beschimpft Polizisten, die ganz ordnungsgemäss und uniformiert einen Wasserwerfer bedienen. Und die Standard-Frau, die wild ist oder wird? Was spricht da das Klischee? Man(n) kann sich’s denken. Vermutlich trägt sie kein Dirndl und keine Seidenstrümpfe. Oder erst recht! Sofern es sich bei der Wildheit um einen vorübergehenden Zustand handelt, lässt man sie Jungs und Männern noch eher durchgehen als Mädchen und Frauen. Das wäre ja ein emanzipatorischer Rückschritt; denn nach herkömmlicher Lesart tritt eine sich emanzipierende Frau in das Regelwerk des Mannes ein. Ein Wunder, dass Ronja Räubertochter derart erfolgreich war und ist.

Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung

Auf die Frage «Wann bist du das letzte Mal wild gewesen?» dürfte ein ehrlicher Vierzigjähriger antworten: «Vor 35 Jahren» – wenn überhaupt jemals. Vermutlich wird er sich aber gar nicht mehr erinnern können oder mögen, zumal er ja gar nichts vom Wesen des Wilden weiss. Und trifft die Wildheits-Amnesie auf Frauen ebenso zu, möglicherweise noch viel stärker, weil sie patriarchal epigenetisch eingeschüchtert sind?

Aber mal ehrlich: Sollten wir überhaupt Zugang finden zum «Wilden in uns»? Bringt uns das letztlich nicht nur Ärger ein? Sagen wir mal so: Wer sein Selbstbewusstsein und das Mass seiner Würde nach dem Schulterklopfen der anderen bemisst, dem sei dringend davon abgeraten. Wer hingegen Wege von der Fremdbestimmung hin zur Selbstbestimmung und zur eigenen Kraft sucht, der ist mit diesem Weg gut beraten.

Was heisst hier «Weg»? Tatsächlich handelt es sich um ein ganzes Bündel von Wegen, die in die potenzielle Freiheit führen.

Das Wilde schnuppern

Ein guter Anfang oder doch wenigstens ein Hineinschnuppern ins Wilde, ein Antesten wilder Erfahrung wäre die an indigene Rituale angelehnte Visionssuche, die inzwischen von vielen erfahrenen und kompetenten LehrerInnen angeboten wird (visionssuche.de). Ein Urgestein dieses Wegs, der Journalist Geseko von Lüpke, nannte seine Homepage nicht umsonst frei-verbunden-sein.de. Was der strengen zivilisatorischen Logik ein Widerspruch ist, nämlich frei und verbunden sein zugleich, gehört im Wilden unweigerlich zusammen.

Erst wer verbunden ist mit der Natur, der Mitwelt, dem Nichtmenschlichen – manche sprechen auch von Gott –, der kann frei sein, ohne abzustürzen. Tatsächlich stehen die drei Wortbestandteile aber jeweils auch für sich. «Frei» und «verbunden» sind klar, aber was bedeutet «sein»? Am besten kommt Gehalt des Seins (den zu erkunden hier zu weit führen würde) in dem von dem buddhistischen Lehrer Thich Nath Hanh geprägten Begriff «interbeing» zum Ausdruck. Wildes Sein heisst, den Lebenskontakt spüren und zulassen und zurückgeben. Tief stieg Erich Fromm mit seinem Buch «Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuer Gesellschaft» (ISBN 978-3-423-34234-6) in die Thematik ein.

Die psychedelischen Wegweiser

Ein vielfach Ängste auslösender Weg ist der alte, in Deutschland weitgehend tabuisierte «Weg der Wilden». Denn auch die Wilden waren ja weit weniger wild, als es die romantische Vorstellung wahrhaben will. Auch sie waren in ein Labyrinth von magischen Glaubensvorstellungen, Ängsten, Gewohnheiten und Tabus eingebunden, was ihre alltäglichen Schritte vielleicht nicht ganz so zuverlässig lenkte wie das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch, aber doch viel mehr Freiräume liess.

Einen grossen Unterschied gab es allerdings in den meisten mir bekannten «wilden Gesellschaften»: das Wissen um einen Weg der Befreiung, gehalten von Weisen, ZauberInnen oder SchamanInnen. Sie kannten Pilze und Absude, mit deren Hilfe Menschen, eingebunden in schützende Rituale, wild werden konnten und durften, wo sie Kontakt bekamen mit der wahren Wildnis in sich, mit dem Urgrund, der sie mit allen anderen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen verband. Dieser psychedelische Weg steht uns auch heute noch offen, freilich müssen wir vorsichtig sein, auf welche Torhüterin wir uns einlassen: Peyote oder Ayahuasca, Meskalin, Psilocybin oder LSD?

Wer freilich glaubt, er könne sich damit die Arbeit an sich selbst ersparen, dem seien Samuel Widmers Worte mitgegeben:

Die Droge schenkt uns nichts, was wir behalten können. Sie nimmt es uns am Ende der Erfahrung wieder weg. Sie zeigt uns nur den Weg, zeigt uns die Möglichkeit, ist Wegweiser und damit Hilfe, den Weg zu finden.

Weit umfassender, aber weit schwieriger zu begehen, ist der «Weg der Tolteken», der übersichtlich von Norbert Classen beschrieben wird.

Eule

Lebenspfade ins Herz des Wilden

Hilfe auf dem Weg zum wilden Sperrbezirk in uns schaffen drei miteinander verbundene und sich teilweise überschneidende Lebenspfade: der Weg der Achtsamkeit, der Weg der Meditation und der Weg der Schattenarbeit. Sie alle wären eigene, ausführliche Beiträge wert, denn jeder dieser Wege für sich kann die Anwender ins Herz des Wilden führen, muss aber nicht. Besonders erhellend für den Erstkontakt sind die Überschneidungszonen der drei Methoden: Achtsamkeit und Meditation überschneiden sich an ihrem Stillepunkt.

Der Weg der Achtsamkeit gelingt am besten, wenn die Empfangsantenne unseres Geistes rausch- und filterfrei ist, ohne Fremdgeräusche, eben still; und Stille führt im Herzen der Meditation in direkten Kontakt mit dem Urgrund. Eine nach innen gewandte, filterfreie Achtsamkeit schliesst nichts aus und erlaubt dem ansonsten Ausgeschlossenen einen Weg an die Oberfläche bewusster Wahrnehmung. Dieses ansonsten Ausgeschlossene ist aber nichts anderes als der Schatten in uns; verdrängte positive wie negative Persönlichkeitsanteile, die erhebliche Teile unseres Energiehaushalts gebunden, uns somit geschwächt haben und folglich aller Wildheit im Weg stehen. Einmal gesehen, sichtbar geworden, lassen sie sich mit achtsamer Betrachtung bzw. Kontemplation auflösen wie der Nebel auf dem Badezimmerspiegel durch einen Föhn. Losgeworden ist man sie damit noch lange nicht, der Spiegel beschlägt sich schnell wieder.

Aus sich selbst stark werden

Mit welchem dieser Wegweiser oder Lebenspfade man experimentieren will, ist eine Sache des geistigen Zugangs und der Neigung. Keiner davon funktioniert letztlich auf die Schnelle, und mit keinem lässt sich der Zugang zur Wildheit in uns erzwingen. Eher klappt es mit dem Hofmachen, mit dem ganz unzeitgemäss geduldigen Umwerben und liebevollen Annähern, das dann auch schon mal inbrünstig sein darf. Solches Werben kann, je nach Intensität, Jahre dauern.

Doch die Geduld lohnt sich. Wild sein gestattet unserer inneren Natur, sich zu öffnen, aufzusteigen, es befeuert Grossmut, Kreativität und Intuition. Wild sein, das ist Freikörperkultur für die Seele; das ist «seine Stimme finden»; das heisst, sich mit dem «inneren Eingeborenen» verbünden und aus sich selbst heraus stark werden – sich aufs Pferd schwingen ohne ideologische, konfessionelle oder esoterische Steigbügel. Und Mystik, zu guter Letzt? Mystik ist die aktive und zugleich demütige Annäherung an den wilden Urgrund, in dem das Wilde und das Heilige ineinanderfliessen; im besten Fall ist Mystik der KONTAKT.