Der aufrechte Gang
«Nach kritischen Rückmeldungen verzichtet die Baselbieter Regierung auf eine explizite Pflicht zum Handschlag in Schulen. In Anlehnung an die Bundesverfassung wird lediglich ‹die Achtung der Werte einer freiheitlichen, gleichberechtigten und solidarischen Gesellschaft› verlangt.» Dies stand am 4. Juli 2017 in verschiedenen Schweizer Tageszeitungen. Die Meldung birgt etlichen Zündstoff:
1. Wer steht hinter den «kritischen Rückmeldungen»? Wenn die Leserschaft einer solchen Meldung informiert werden sollen, muss klar sein, aus welcher gedanklichen Küche die Beeinflussung des Baselbieter Regierungsrates stammt. Ansonsten entsteht der Eindruck, dass «es genügt», sich zu irgendwelchen brisanten Vorlagen kritisch zu äussern, um sie bachab zu schicken. Es muss auch offengelegt werden, welche Argumente einen allgemeinen kulturellen Brauch ausser Kraft setzen.
2. Was bedeutet es, wenn von expliziter resp. impliziter Pflicht gesprochen wird? Pflicht ist doch Pflicht. Eine implizite Pflicht Steuern zu zahlen, gibt es schliesslich auch nicht. Die basel-landschaftliche Regierung will vermutlich nichts anderes mehr, als ein «nice to have». Dies im Sinne von: Es wäre schön, wenn Du Deiner Lehrerin die Hand geben würdest, denn sie ist schliesslich auch ein vollwertiger Mensch; aber selbstverständlich wollen wir als Gastgeber unsere Geladenen nicht vor den Kopf stossen.
3. Diese Haltung führt zu einem Rattenschwanz an Folgeproblemen: Wer in der Schule einer Frau die Hand nicht geben muss, wird dies auch in der Armee, vor Gericht, im Spital oder an vermischten Familienanlässen nicht tun. Berufen kann er sich immer auf die Baselbieter Regierung, die eine explizite Pflicht dazu ablehnt. Mit anderen Worten: Eine kleine Gruppe von Menschen kann so Sitten und Gebräuche recht einfach aushebeln. Denn Schweizer Kinder sind natürlich im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetz mitgemeint. Oder anders: Im Kanton Baselland darf man sich noch per Handschlag begrüssen …
4. Doch warum eigentlich nur der Handschlag? Ist es nicht noch viel schlimmer, wenn Jungs ihrer Lehrerin beim Sprechen ins Gesicht blicken müssen? Und weshalb dürfen die Kleinen in den Kindergärten nicht weiter auf ihren I-Phones spielen, während sie mit Erwachsenen reden? Und gibt es nicht schon etliche «kritische Rückmeldungen» darüber, dass im Unterricht nichts Gesüsstes getrunken werden darf? Die «Hausärzte für Kinderrechte» haben da auf jeden Fall einen Vorstoss im Köcher … Zudem: Ist es letztlich nicht doch unschicklich und für gewisse Strenggläubige unzumutbar, wenn Mädchen öffentlich Hosen tragen? Fundamentalistische Christen planen folgerichtig einen Vorstoss, dass Mädchen nicht mehr neben Jungen sitzen oder in gemischten Arbeitsgruppen mittun müssen. Ebenso hört man vom Anliegen aus der ultrakonservativen katholischen Opus-Dei-Ecke, dass Hauswirtschaftsunterricht für Knaben untersagt werden solle, um die ohnehin gefährdete männliche Geschlechter- und Rollenidentität nicht vollends zu zerstören. Nicht unerwähnt gelassen werden darf in diesem Zusammenhang die Forderung nach geschlechtergetrennten Altersheimen, welche von der «Liga für ein gendergerechtes Altern» erhoben wird. Und last but not least ist die Spurengruppe «Dürfen statt Müssen» der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz zu erwähnen, die einen Katalog aller expliziten Pflichten in der schweizerischen Öffentlichkeit erstellt, die zu impliziten Wünschen herabgestuft werden können.*
«Die Unschuld ist wesentlich dumm», sagt Schopenhauer. Sie wird zur nicht weniger dummen Schuld, wenn sie in der Form von öffentlicher Naivität auftritt und moderne Formen von Anstand und Respekt durch eine fade Toleranz ersetzt. Die Anything-goes-Haltung hat wenig mit dem «aufrechten Gang» zu tun, von dem Helmut Gollwitzer angesichts des nationalsozialistischen Terrors gegenüber jeder Form von Zivilcourage schrieb. Wer die Pflichten und Gebräuche geringschätzt, öffnet schliesslich jenen autoritären Charakteren Tür und Tor, die ihre Sonderinteressen explizit über das allgemeine Zusammenleben stellen.
Bertrand Russell schreibt: «Die moderne Menschheit hat zwei Arten von Moral; eine, die sie predigt und eine andere, die sie anwendet, aber nicht predigt.» Die basellandschaftliche Regierung zeigt, wie man das macht. Explizit.
*) Die Aussagen unter Punkt 4 sind frei erfundene Möglichkeiten.
Weiteres zum Schwerpunktthema «mutig – feige» in Zeitpunkt 151
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