Der tiefe Blick in die Langsamkeit

Erinnern Sie sich an Zeitlupen-Bilder von rennenden Geparden? Jeder Muskel wird sichtbar, die volle Konzentration und das Erlöschen der Kraft, wenn er sein Opfer, wie meistens, doch nicht erreicht. Ein kurzes Mirakel in voller Länge.

Die ganze Welt möchte man in Zeitlupe sehen und vor allem auch die magische Begegnung von Mann und Frau. Dieses Wunder, das wir alle aus unserem eigenen Leben kennen, haben die Tänzer Susanne Daeppen und Christoph Lauener in ihrer Performance «Silk» in Szene gesetzt, die am 28.Januar in Biel Premiere hatte.
Ihre choreographische Sprache ist der Butoh, ein sehr langsamer, expressiver Tanz, der im Japan der sechziger Jahre als Protest gegen die Amerikanisierung der Kultur entstand. Die Langsamkeit der Bewegungen lässt den Zuschauern ungewöhnlich viel Zeit, die Bilder auf der Bühne mit ihren eigenen Bildern zu verschmelzen. Das ist, gerade wegen der ruhigen Gebärden, ausserordentlich spannend. Denn je mehr Zeit der Zuschauer zur Entwicklung seiner eigenen Erwartungen hat, desto mehr weichen sie ab vom Verlauf der Geschichte. Die Langsamkeit offenbart die ständige Überraschung der Gegenwart. So dauert es in «Silk» unendliche zwanzig Minuten bis zur ersten Berührung der beiden Protagonisten, eine Zeit, in der man im Saal den Atem anhält und dafür jeden Hauch auf der Bühne mitbekommt. Von da entwickelt sich die Begegnung zu einer reifen, goldenen Beziehung, in der der Mann Mann und die Frau Frau sein können.

Die suggestive Kraft der Performance könnte sich nicht entwickeln ohne die für das Stück komponierte Musik des New Yorker Gitarristen Michael Hewett, die Bühneninstallation aus blauem Segelpapier des Solothurner Künstlers Jürg Mollet und das Lichtdesign der Baslerin Brigitte Dubach. Sie schaffen mit bewusst einfachen Mitteln starke Kontraste und Stimmungswellen, die das Paar durch ihr Spiel tragen. Nach achtzig Minuten wacht man auf aus einer Traumwelt, die in ihrer Langsamkeit so viel über die Realität verrät, dass man sich ernsthaft fragen darf, ob unsere beschleunigte Wirklichkeit nicht doch eine Illusion ist.Susanne Daeppen ist Pionierin des Butoh in der Schweiz und man kann nur hoffen, dass sie hier in ihrer Heimat so viel Erfolg hat wie in New York und dass viele Veranstalter den Mut finden, ihre Zuschauer in die Langsamkeit zu schicken. Wer diese Bilder einmal gesehen hat, wird sie nicht so schnell vergessen.

Weitere Vorführungen von Silk:
Basel: Probebühne Cirqu’enflex, 26.2., 20.00 Uhr und 27.2., 11.00 und 17.00 Uhr
Altdorf: theater(uri), 28.5., 20.00 Uhr, 29.5., 11.00 und 17.00 Uhr
Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst, 24./25.6., 20.00 Uhr, 26.6., 11.00 und 17.00 Uhr.
Weitere Daten und Infos: www.dakini-dance.ch
Wir haben das Stück als Matinée gesehen und finden, dass es sich ausgezeichnet für eine Vorführung am Morgen eignet.

Meine Reise in die Langsamkeit, ZP 109, Text von Susanne Daeppen:http://www.zeitpunkt.ch/fileadmin/download/ZP_109/ZP_109_Meine_Reise_in_die_Langsamkeit.pdfDie

Tanzpädagogin und Performance-Künstlerin Susanne Daeppen praktiziert seit 25 Jahren Butoh, den Tanz der langsamen Bewegungen, den sie in den USA und in Japan bei den grossen Meistern dieser Kunst erlernt hat. Sie ist Pionierin des Butoh in der Schweiz, Trägerin des Kunstpreises der Stadt Biel (2004) und Autorin des Buches «Die Kunst der Langsamkeit».

Aktuelle Angaben zu ihrem Workshop- und Performance-Programm: www.dakini-dance.ch
 
Susanne Daeppen: Die Kunst der Langsamkeit – ein Tanz von der Natur zur Seele. Biel, edition clandestin, 2009. 140 S. (deutsch/ englisch). Fr. 45.-.
Buchbestellung: http://www.dakini-dance.ch/d/book.jsp




02. Februar 2011
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