Die Armutsindustrie
Die Armut im Land steigt weiter rasant an. Anstatt hiergegen jedoch wirksam vorzugehen, werden die bestehenden Verhältnisse entweder geleugnet, schön geredet oder einfach so organisiert, dass die Armen sich für ihre Armut auch ja selbst verantwortlich fühlen und der unsichtbaren Macht, die sie in dieser hält, im Idealfalle für ihre Almosen sogar noch dankbar sind. Derlei Selbstunterwerfung unter ein menschenverachtendes System wird dabei nicht nur mittels der Hartz-IV-Ideologie, sondern auch und vor allem durch die Tafeln im Lande besorgt – während die Wirtschaft das Elend der Armen bereits als neues Geschäftsfeld zu erschließen begonnen hat. Jens Wernicke sprach mit Tafelkritiker Stefan Selke über das „Schamland“ Bundesrepublik.
Herr Selke, Sie haben sich mit verschiedenen öffentlichen Beiträgen und zuletzt auch in Ihrem Buch „Schamland“ immer wieder kritisch mit den Tafeln im Lande auseinandergesetzt. Wieso? Wo gegen die Armut schon zu wenig getan wird, scheint es doch dringend notwendig, zumindest mehr für die Armen zu tun.
Als Öffentlicher Soziologe ist es mir wichtig, mich zu Themen zu äußern, die sich nicht in einer Tagesaktualität erschöpfen. Die Tafeln habe ich eher zufällig als Thema „entdeckt“ – das war 2006. Nachdem ich eine Tafel ein Jahr lang intensiv vor Ort begleitet hatte, wurden mir immer mehr die systematischen Nebeneffekte des Tafelwesens bewusst. Für mich sind die Tafeln damit zu einer „Signatur der Gegenwartsgesellschaft“ geworden.
Nach dem Perspektivwechsel vom Lokalen zum Strukturellen war ein weiterer wichtiger Wendepunkt der Wechsel von der Helfer- zur Nutzerperspektive. Diese nehme ich seit circa 2010 konsequent ein. Auch, um denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Womit wir wieder bei der Aufgabe Öffentlicher Soziologie wären.
Die Tafeln sind letztlich nur der Prototyp von Institutionen, die den Zeitgeist perfekt verkörpern. Meine Tafelkritik habe ich daher immer als exemplarische Gesellschaftskritik verstanden. Und diese Kritik zielt im Kern immer darauf ab, Systeme der Entmenschlichung zu demaskieren.
Was ist denn entmenschlichend daran, wenn jemand, der zu wenig Geld zum Leben und also auch Essenkaufen hat, selbiges dann geschenkt bekommt? Was genau ist das Problem?
Probleme gibt es auf mehreren Ebenen. Zum einen wird beim Nachdenken über die Tafeln schnell klar, dass wir in einer Zwei-Klassen-Konsumgesellschaft leben. Armutshandel oder Armutsökonomie bedeutet ja, dass reiche Konsumenten sich ihren Konsum auf dem Rücken von armen Konsumenten leisten. Die Textilbranche ist ein Beispiel dafür, aber auch das Almosenwesen bei den Tafeln, die die Reste des 1. Konsummarktes einfach weitergeben. Das sind ja Waren, die für die „Konsumenten 1. Klasse“ nicht mehr gut genug sind und dann „großzügig“ an die „Konsumenten 2. Klasse“ gespendet werden.
Zum anderen ist das System selbst ein Problem: Die Tafeln haben sich als „Un-Orte“ mitten in der Gesellschaft platziert und verstetigt. Sie wurden zu einem sozialen Platzanweiser: Wer zu Tafeln geht, der hat ein Problem. Zu dieser „individualisierten“ Schuldzuweisung kommt aber noch ein anderer Aspekt: Die Tafeln schaffen durch die pure Dauer ihrer Existenz – immerhin schon über 20 Jahre – einen neuen Typus von Sozialraum. In dieser „Zone“ sammeln sich die Ausgeschlossenen, die Entkoppelten, die Überflüssigen, dort sind sie gemeinsam ausgeschlossen. Es handelt sich also keineswegs um eine soziale Utopie, wie etwa Kathrin Göring-Eckardt meint, sondern eine Parallelwelt, eine sich verfestigende Dystopie. Und in dieser haben die, die „geben“, alleinige Macht, während jene, die bloß „empfangen“, letztlich die Ohnmächtigen sind. Es gibt also strukturelle, zeitliche, sozialräumliche und situative Elemente der Entmenschlichung – verstanden als etwas, das auf Dauer und irreversibel die Grund- und Menschenrechte aushöhlt. Wenn die steigende Zahl der Tafelnutzer – ca. 1 Million 2008 und 1,5 Millionen 2015 – inzwischen als „Erfolg“ des Systems gewertet wird, dann stehen die Verhältnisse doch komplett auf dem Kopf.
Und wie wirkt derlei Lebenspraxis sich aus, was macht sie mit den Betroffenen? Sie sind ja selbst immer wieder bei Tafeln und also mit deren „Nutzern“ bestens vertraut…
Menschen sind – in Abhängigkeit von der Dauer der Nutzung des Tafelsystems – unterschiedlich von dieser Entmenschlichung betroffen. Über die Zeiteffekte wissen wir noch zu wenig. Fest steht aber, dass die Nutzung der Tafeln mit einer fast bodenlosen Scham einhergeht. Nicht umsonst verschweigen fast alle meine Gesprächspartner selbst in ihrem nahen sozialem Umfeld und teils auch in der eigenen Familie die Nutzung der Tafeln.
Die Wirkung der Tafeln ist überhaupt nicht zu verstehen, wenn man nur einmalige Situationen der Lebensmittelausgabe in den Blick nimmt. Erst, wenn man darüber nachdenkt, was durch die beständige Wiederholung solcher Situationen und also Demütigungen entsteht, merkt man, dass sich das Schamgefühl tief in die Psyche der Menschen eingräbt – als Selbstabwertung, Selbsthass und mehr. Und dass es die Tafelnutzer zudem gleichzeitig tendenziell zu Abhängigen eines fremdbestimmten Versorgungsystems macht, also das Gegenteil von Emanzipation oder Veränderung forciert.
Und wir sind überhaupt nicht fähig, diese Entwicklung und deren Folgen für Psyche, Gesundheit und letztlich Gesellschaft ehrlich und angemessen zu bilanzieren. Neben den „Gewinnen“ – erhaltene Lebensmittel also etwa – gibt es immer auch „Verluste“ in Form von zusätzlichen Belastungen, für die wir kaum ein Gefühl, kaum eine Sprache haben. Das Erhaltene wiegt das Erlebte dabei nicht unbedingt auf.
Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie die Tafeln in Ihrem Buch als „Orte unterschwelliger Gewalt“ skizzieren – oder geht diese Beschreibung noch darüber hinaus?
Soziologen haben einen umfassenden Begriff von Gewalt, der weit über körperliche Gewaltanwendung hinausgeht. Tafeln sind zum Beispiel Orte symbolischer Gewalt, weil sie wie mit sozialer Signalfarbe angestrichen wirken und damit verdeutlichen, auf welcher Stufe der Gesellschaft man angekommen ist. Sie sind zudem Orte struktureller Gewalt, weil Macht und Ohnmacht sich gegenüberstehen: Hilfe wird ja auch bei den Tafeln nicht bedingungslos gewährt, sondern ist an offensichtliche – Bedürftigkeitsprüfung – oder latente – Dankbarkeitspflicht – Bedingungen gebunden. Auch kommt es zwischen den Nutzern zu einer Art „Konkurrenz um die Reste“, die den letzten Rest Würde dieser Menschen bedroht, einfach weil sie hier in eine Zwangslage gebracht werden, die sich gar nicht gerecht auflösen lässt.
Manch einer wird, wenn er uns so über Armut und Scham und Ohnmacht sprechen hört, sicher einwenden, es gäbe ja gar keine wirkliche Armut im Lande, niemand müsse wirklich Hunger leiden und bei den Verhältnissen in der sogenannten 3. Welt solle man nicht so viel Jammern etc. Was erwidern Sie hier?
Diese Relativierung bringt nicht viel. Armut lässt sich nur unzureichend in blanken Kennziffern abbilden. Wie bei allen qualitativen Dimensionen des Lebens braucht es dazu vor allem Einfühlungsvermögen.
Menschen sind „differenzempfindliche Wesen“, wie Georg Simmel es nennt, und der soziale Vergleich zu Bezugsgruppen ist daher wesentlicher als jede Prozentrechnung oder -zahl.
Noch ein Argument gegen die reine Vermessung der Armut: Was sich in unserer Gesellschaft verändert hat, ist nicht allein die Armut, sondern auch und vor allem die Bewertung der Armen.
Mit „Hartz IV“ haben wir zudem ein kollektives Stigma erschaffen, dass beispiellos ist und Menschen unter fast grenzenlosen Kollektivverdacht stellt. Das hat mit Jammern nichts zu tun, da geht es um knallharte Diskriminierung.
Würden Sie sagen, dass die Tafeln sozusagen Ausdruck dafür sind, dass der Kampf gegen Armut staatlicherseits längst aufgegeben wurde und diese Lücke nun mehr und mehr von freiwilligen und barmherzigen Almosensystemen geschlossen wird?
Wir wissen aus den USA und aus Großbritannien, dass solche Systeme – wie übrigens auch die Sanktionen im Bereich von Hartz-IV – in die staatliche Sozialpolitik einkalkuliert werden. Dadurch geschieht etwas Schlimmes. Denn erstens wird damit freiwilliges Engagement instrumentalisiert. Und zweitens wird damit der Wert der Freiwilligkeit selbst korrumpiert: Wenn wir zunehmend in einer „Freiwilligengesellschaft“ leben, in der Bürgerinnen und Bürger Lückenbüßerfunktionen für staatlicherseits eingestellte allgemeine und nachhaltige Unterstützungen übernehmen, dann gewöhnen wir uns mehr und mehr an einen Zustand, der alles andere als dem sozialen Zusammenhalt zuträglich ist. Auch das ist wieder eine Diagnose, die erst mit dem Blick auf die Dauerhaftigkeit des Grundzustandes verständlich wird.
Das allein scheint mir dennoch nicht den Boom der Tafeln, aber auch jenen von 1-Euro-Shops und vielem anderen im Lande zu erklären. Vielmehr sieht es so aus, als hätte der Markt die Armen und ihre Armut sozusagen als Geschäftsmodell entdeckt. Kann das wohl sein?
Die Grundierung durch Zynismus, der in der Behauptung liegt, dass es empirisch gesehen schon immer Armut gab und immer geben wird, bekommt aktuell eine neoliberale Neu-Lackierung. Und zwar, indem man, ganz wie Sie sagen, zunehmend entdeckt, dass diese Armut ja auch die Grundlage für neue Geschäftsmodelle sein kann – gerade weil sie einfach freiwillig abtreten zu wollen scheint.
Und, ja: Um das Phänomen Armut lässt sich eine ganze Wertschöpfungskette installieren und sie wird wohl gerade auch installiert. Angefangen bei mit Steuergeldern bezahlten Beschäftigungs- und Weiterbildungsangeboten, weiter über einen eigenen Billigsegmentmarkt für Arme in immer mehr Bereichen – Lebensmittel, Kleidung, Dienstleistungen etc. – bis hin zu der Veredelung der Armut durch moralische Unternehmen innerhalb der Armutsökonomie.
Sie meinen, da wird richtig Geld verdient – auch mit den Tafeln? Wie denn konkret? Wie funktioniert sozusagen „das System“?
Innerhalb der Armutsökonomie lassen sich zwei Märkte unterscheiden. Erstens der Markt, in dem direkt Umsatz mit Armen gemacht wird – hieran sind auch alle Wohlfahrtsverbände beteiligt, die Armut geradezu für ihre Existenz voraussetzen müssen.
Zweitens moralische Märkte, die ein gutes Gefühl und symbolische Reputation für Dritte vermarkten. Die Tafeln sind dabei der Prototyp solcher moralischen Unternehmen. Sie lassen sich von Industriepartnern sponsern und offerieren diesen im Gegenzug den Schein von Moralität. Die Unternehmen können diese Moralität dann in ihre Märkte und bei ihren Kunden in unterschiedlicher Form – direkt oder indirekt – wieder zu Profit machen. In moralischen Unternehmen wird quasi „über Bande“ gespielt, frei nach der Devise: „Wir sind gerecht, kauft am besten bei uns.“
Und all das erkennen aber nur wenige Betroffene? Will sagen: Gibt es denn bei und an den Tafeln nicht immer auch Kritik?
Was die Betroffenen erkennen, wissen wir nicht, weil sie keine Lobby haben. Anders übrigens als die ehrenamtlichen Helfer, denen man gerne zuhört – denn sie produzieren ja Moralität. Kritik gibt es jedoch überall.
Die Gründerin der ersten Tafel, Sabine Werth, kritisiert inzwischen selbst Aspekte der Tafeln – wie etwa den Zukauf von Lebensmitteln -, und auch ehemalige Tafelhelfer geben sich kritisch. Und im „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ haben sich nun alle möglichen Kritiker – auch aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände – zusammengeschlossen und geben der Kritik hierdurch mehr Gewicht.
Was all das aber nicht ausrichten kann, ist, den Zeitgeist zu verscheuchen, der nur das Gute und Hilfreiche an den Tafeln sehen will. Vielleicht müssen wir erst weitere „Jubiläen“ erleben – 2018: 25 Jahre Tafeln! -, um zu begreifen, dass sich schleichend eine soziale Katastrophe mitten unter uns entwickelt hat.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Stefan Selke ist Professor für Soziologie und gesellschaftlichen Wandel an der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Furtwangen im Schwarzwald. Als Buchautor, Publizist und öffentlicher Soziologe wurde Stefan Selke zum zentralen Kritiker der sogenannten „Tafelbewegung“ in Deutschland. In seinem Blog „Stabile Seitenlage“ äußert sich Selke regelmäßig zum gesellschaftlichen Wandel.
Als Öffentlicher Soziologe ist es mir wichtig, mich zu Themen zu äußern, die sich nicht in einer Tagesaktualität erschöpfen. Die Tafeln habe ich eher zufällig als Thema „entdeckt“ – das war 2006. Nachdem ich eine Tafel ein Jahr lang intensiv vor Ort begleitet hatte, wurden mir immer mehr die systematischen Nebeneffekte des Tafelwesens bewusst. Für mich sind die Tafeln damit zu einer „Signatur der Gegenwartsgesellschaft“ geworden.
Nach dem Perspektivwechsel vom Lokalen zum Strukturellen war ein weiterer wichtiger Wendepunkt der Wechsel von der Helfer- zur Nutzerperspektive. Diese nehme ich seit circa 2010 konsequent ein. Auch, um denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Womit wir wieder bei der Aufgabe Öffentlicher Soziologie wären.
Die Tafeln sind letztlich nur der Prototyp von Institutionen, die den Zeitgeist perfekt verkörpern. Meine Tafelkritik habe ich daher immer als exemplarische Gesellschaftskritik verstanden. Und diese Kritik zielt im Kern immer darauf ab, Systeme der Entmenschlichung zu demaskieren.
Was ist denn entmenschlichend daran, wenn jemand, der zu wenig Geld zum Leben und also auch Essenkaufen hat, selbiges dann geschenkt bekommt? Was genau ist das Problem?
Probleme gibt es auf mehreren Ebenen. Zum einen wird beim Nachdenken über die Tafeln schnell klar, dass wir in einer Zwei-Klassen-Konsumgesellschaft leben. Armutshandel oder Armutsökonomie bedeutet ja, dass reiche Konsumenten sich ihren Konsum auf dem Rücken von armen Konsumenten leisten. Die Textilbranche ist ein Beispiel dafür, aber auch das Almosenwesen bei den Tafeln, die die Reste des 1. Konsummarktes einfach weitergeben. Das sind ja Waren, die für die „Konsumenten 1. Klasse“ nicht mehr gut genug sind und dann „großzügig“ an die „Konsumenten 2. Klasse“ gespendet werden.
Zum anderen ist das System selbst ein Problem: Die Tafeln haben sich als „Un-Orte“ mitten in der Gesellschaft platziert und verstetigt. Sie wurden zu einem sozialen Platzanweiser: Wer zu Tafeln geht, der hat ein Problem. Zu dieser „individualisierten“ Schuldzuweisung kommt aber noch ein anderer Aspekt: Die Tafeln schaffen durch die pure Dauer ihrer Existenz – immerhin schon über 20 Jahre – einen neuen Typus von Sozialraum. In dieser „Zone“ sammeln sich die Ausgeschlossenen, die Entkoppelten, die Überflüssigen, dort sind sie gemeinsam ausgeschlossen. Es handelt sich also keineswegs um eine soziale Utopie, wie etwa Kathrin Göring-Eckardt meint, sondern eine Parallelwelt, eine sich verfestigende Dystopie. Und in dieser haben die, die „geben“, alleinige Macht, während jene, die bloß „empfangen“, letztlich die Ohnmächtigen sind. Es gibt also strukturelle, zeitliche, sozialräumliche und situative Elemente der Entmenschlichung – verstanden als etwas, das auf Dauer und irreversibel die Grund- und Menschenrechte aushöhlt. Wenn die steigende Zahl der Tafelnutzer – ca. 1 Million 2008 und 1,5 Millionen 2015 – inzwischen als „Erfolg“ des Systems gewertet wird, dann stehen die Verhältnisse doch komplett auf dem Kopf.
Und wie wirkt derlei Lebenspraxis sich aus, was macht sie mit den Betroffenen? Sie sind ja selbst immer wieder bei Tafeln und also mit deren „Nutzern“ bestens vertraut…
Menschen sind – in Abhängigkeit von der Dauer der Nutzung des Tafelsystems – unterschiedlich von dieser Entmenschlichung betroffen. Über die Zeiteffekte wissen wir noch zu wenig. Fest steht aber, dass die Nutzung der Tafeln mit einer fast bodenlosen Scham einhergeht. Nicht umsonst verschweigen fast alle meine Gesprächspartner selbst in ihrem nahen sozialem Umfeld und teils auch in der eigenen Familie die Nutzung der Tafeln.
Die Wirkung der Tafeln ist überhaupt nicht zu verstehen, wenn man nur einmalige Situationen der Lebensmittelausgabe in den Blick nimmt. Erst, wenn man darüber nachdenkt, was durch die beständige Wiederholung solcher Situationen und also Demütigungen entsteht, merkt man, dass sich das Schamgefühl tief in die Psyche der Menschen eingräbt – als Selbstabwertung, Selbsthass und mehr. Und dass es die Tafelnutzer zudem gleichzeitig tendenziell zu Abhängigen eines fremdbestimmten Versorgungsystems macht, also das Gegenteil von Emanzipation oder Veränderung forciert.
Und wir sind überhaupt nicht fähig, diese Entwicklung und deren Folgen für Psyche, Gesundheit und letztlich Gesellschaft ehrlich und angemessen zu bilanzieren. Neben den „Gewinnen“ – erhaltene Lebensmittel also etwa – gibt es immer auch „Verluste“ in Form von zusätzlichen Belastungen, für die wir kaum ein Gefühl, kaum eine Sprache haben. Das Erhaltene wiegt das Erlebte dabei nicht unbedingt auf.
Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie die Tafeln in Ihrem Buch als „Orte unterschwelliger Gewalt“ skizzieren – oder geht diese Beschreibung noch darüber hinaus?
Soziologen haben einen umfassenden Begriff von Gewalt, der weit über körperliche Gewaltanwendung hinausgeht. Tafeln sind zum Beispiel Orte symbolischer Gewalt, weil sie wie mit sozialer Signalfarbe angestrichen wirken und damit verdeutlichen, auf welcher Stufe der Gesellschaft man angekommen ist. Sie sind zudem Orte struktureller Gewalt, weil Macht und Ohnmacht sich gegenüberstehen: Hilfe wird ja auch bei den Tafeln nicht bedingungslos gewährt, sondern ist an offensichtliche – Bedürftigkeitsprüfung – oder latente – Dankbarkeitspflicht – Bedingungen gebunden. Auch kommt es zwischen den Nutzern zu einer Art „Konkurrenz um die Reste“, die den letzten Rest Würde dieser Menschen bedroht, einfach weil sie hier in eine Zwangslage gebracht werden, die sich gar nicht gerecht auflösen lässt.
Manch einer wird, wenn er uns so über Armut und Scham und Ohnmacht sprechen hört, sicher einwenden, es gäbe ja gar keine wirkliche Armut im Lande, niemand müsse wirklich Hunger leiden und bei den Verhältnissen in der sogenannten 3. Welt solle man nicht so viel Jammern etc. Was erwidern Sie hier?
Diese Relativierung bringt nicht viel. Armut lässt sich nur unzureichend in blanken Kennziffern abbilden. Wie bei allen qualitativen Dimensionen des Lebens braucht es dazu vor allem Einfühlungsvermögen.
Menschen sind „differenzempfindliche Wesen“, wie Georg Simmel es nennt, und der soziale Vergleich zu Bezugsgruppen ist daher wesentlicher als jede Prozentrechnung oder -zahl.
Noch ein Argument gegen die reine Vermessung der Armut: Was sich in unserer Gesellschaft verändert hat, ist nicht allein die Armut, sondern auch und vor allem die Bewertung der Armen.
Mit „Hartz IV“ haben wir zudem ein kollektives Stigma erschaffen, dass beispiellos ist und Menschen unter fast grenzenlosen Kollektivverdacht stellt. Das hat mit Jammern nichts zu tun, da geht es um knallharte Diskriminierung.
Würden Sie sagen, dass die Tafeln sozusagen Ausdruck dafür sind, dass der Kampf gegen Armut staatlicherseits längst aufgegeben wurde und diese Lücke nun mehr und mehr von freiwilligen und barmherzigen Almosensystemen geschlossen wird?
Wir wissen aus den USA und aus Großbritannien, dass solche Systeme – wie übrigens auch die Sanktionen im Bereich von Hartz-IV – in die staatliche Sozialpolitik einkalkuliert werden. Dadurch geschieht etwas Schlimmes. Denn erstens wird damit freiwilliges Engagement instrumentalisiert. Und zweitens wird damit der Wert der Freiwilligkeit selbst korrumpiert: Wenn wir zunehmend in einer „Freiwilligengesellschaft“ leben, in der Bürgerinnen und Bürger Lückenbüßerfunktionen für staatlicherseits eingestellte allgemeine und nachhaltige Unterstützungen übernehmen, dann gewöhnen wir uns mehr und mehr an einen Zustand, der alles andere als dem sozialen Zusammenhalt zuträglich ist. Auch das ist wieder eine Diagnose, die erst mit dem Blick auf die Dauerhaftigkeit des Grundzustandes verständlich wird.
Das allein scheint mir dennoch nicht den Boom der Tafeln, aber auch jenen von 1-Euro-Shops und vielem anderen im Lande zu erklären. Vielmehr sieht es so aus, als hätte der Markt die Armen und ihre Armut sozusagen als Geschäftsmodell entdeckt. Kann das wohl sein?
Die Grundierung durch Zynismus, der in der Behauptung liegt, dass es empirisch gesehen schon immer Armut gab und immer geben wird, bekommt aktuell eine neoliberale Neu-Lackierung. Und zwar, indem man, ganz wie Sie sagen, zunehmend entdeckt, dass diese Armut ja auch die Grundlage für neue Geschäftsmodelle sein kann – gerade weil sie einfach freiwillig abtreten zu wollen scheint.
Und, ja: Um das Phänomen Armut lässt sich eine ganze Wertschöpfungskette installieren und sie wird wohl gerade auch installiert. Angefangen bei mit Steuergeldern bezahlten Beschäftigungs- und Weiterbildungsangeboten, weiter über einen eigenen Billigsegmentmarkt für Arme in immer mehr Bereichen – Lebensmittel, Kleidung, Dienstleistungen etc. – bis hin zu der Veredelung der Armut durch moralische Unternehmen innerhalb der Armutsökonomie.
Sie meinen, da wird richtig Geld verdient – auch mit den Tafeln? Wie denn konkret? Wie funktioniert sozusagen „das System“?
Innerhalb der Armutsökonomie lassen sich zwei Märkte unterscheiden. Erstens der Markt, in dem direkt Umsatz mit Armen gemacht wird – hieran sind auch alle Wohlfahrtsverbände beteiligt, die Armut geradezu für ihre Existenz voraussetzen müssen.
Zweitens moralische Märkte, die ein gutes Gefühl und symbolische Reputation für Dritte vermarkten. Die Tafeln sind dabei der Prototyp solcher moralischen Unternehmen. Sie lassen sich von Industriepartnern sponsern und offerieren diesen im Gegenzug den Schein von Moralität. Die Unternehmen können diese Moralität dann in ihre Märkte und bei ihren Kunden in unterschiedlicher Form – direkt oder indirekt – wieder zu Profit machen. In moralischen Unternehmen wird quasi „über Bande“ gespielt, frei nach der Devise: „Wir sind gerecht, kauft am besten bei uns.“
Und all das erkennen aber nur wenige Betroffene? Will sagen: Gibt es denn bei und an den Tafeln nicht immer auch Kritik?
Was die Betroffenen erkennen, wissen wir nicht, weil sie keine Lobby haben. Anders übrigens als die ehrenamtlichen Helfer, denen man gerne zuhört – denn sie produzieren ja Moralität. Kritik gibt es jedoch überall.
Die Gründerin der ersten Tafel, Sabine Werth, kritisiert inzwischen selbst Aspekte der Tafeln – wie etwa den Zukauf von Lebensmitteln -, und auch ehemalige Tafelhelfer geben sich kritisch. Und im „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ haben sich nun alle möglichen Kritiker – auch aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände – zusammengeschlossen und geben der Kritik hierdurch mehr Gewicht.
Was all das aber nicht ausrichten kann, ist, den Zeitgeist zu verscheuchen, der nur das Gute und Hilfreiche an den Tafeln sehen will. Vielleicht müssen wir erst weitere „Jubiläen“ erleben – 2018: 25 Jahre Tafeln! -, um zu begreifen, dass sich schleichend eine soziale Katastrophe mitten unter uns entwickelt hat.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Stefan Selke ist Professor für Soziologie und gesellschaftlichen Wandel an der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Furtwangen im Schwarzwald. Als Buchautor, Publizist und öffentlicher Soziologe wurde Stefan Selke zum zentralen Kritiker der sogenannten „Tafelbewegung“ in Deutschland. In seinem Blog „Stabile Seitenlage“ äußert sich Selke regelmäßig zum gesellschaftlichen Wandel.
23. September 2015
von:
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können