Die Links-Rechts-Demagogie
Sind viele Linke nicht eigentlich verkappte Faschisten? Und viele Rechte nicht furchtbar progressiv? Ja, ist die Unterscheidung von links und rechts daher nicht schon lange überholt? Das könnte man glauben, wenn man die Nazi-Demagogie betrachtet, die zurzeit durch das Internet schwappt. Oder die Leitartikel des Mainstreams verfolgt. Sahra Wagenknecht etwa sei eigentlich rechts, ja, nahe bei AfD und NPD. Und die CDU in den letzten Jahren so weit nach links gerutscht, dass sie längst sozialdemokratisiert sei und ihre „konservativen Werte“ verloren habe. Worum geht es bei dieser Demagogie? Welche Ziele verfolgt und Interessen bedient sie? Hierüber sowie über die Mechanismen der diesbezüglichen Gegenaufklärung und Manipulation sprach Jens Wernicke mit dem Kognitionsforscher Rainer Mausfeld, der klar analysiert und benennt, worum es bei all den Nebelkerzen und der damit intendierten Verwirrung tatsächlich geht: unseren Geist zu vernebeln und Kritik am immer grausamer betriebenen „Klassenkrieg“ von Reich gegen Arm, den inzwischen selbst der Milliardär und Starinvestor Warren Buffet als solchen benennt, unmöglich zu machen.
Herr Mausfeld, soeben wurde ein wirklich sehenswertes Video-Interview mit Ihnen veröffentlicht, in dem Sie zu den Methoden und Auswirkungen der alltäglichen Indoktrination sowie zur Frage, wie man sich selbst aus der alltäglichen Ohnmacht zu befreien vermag, Rede und Antwort stehen. Aber sagen Sie mir: Wenn Medien dazu dienen sollen, die Bevölkerung über gesellschaftliche Dinge zu unterrichten, was bedeutet es dann, die Funktionsweise von Medien zu durchschauen und Indoktrination zu erkennen? Warum ist dies für den „normalen Menschen“ von Belang und wie kann er dies überhaupt leisten?
Medien stiften Gesellschaft und schaffen und formen erst unser Bild von der gesellschaftlichen und politischen Realität. Sie schaffen gemeinsame Denkräume, helfen Erfahrungen in Sinnzusammenhänge zu integrieren und stiften durch eine Synchronisation der Aufmerksamkeit gemeinsame Erfahrungen. Daher sind sie ganz zentrale Instrumente zur Organisation und zur Ausübung von politischer Macht.
Folglich gehen politische Kämpfe zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen stets mit Bemühungen einher, Zugriff auf die Medien zu gewinnen. Da jedoch die Einstiegs- und Betreiberkosten im Bereich der Massenmedien sehr hoch sind, ist es nicht überraschend, dass sie sich überwiegend im Besitz von Konzernen oder Multimillionären befinden und somit deren politische Weltsicht und Interessen zu vermitteln suchen.
Dieser Tatsache muß man sich täglich beim Lesen von „Nachrichten“ bewusst sein, um nicht der naiven Vorstellung zu verfallen, dass Medien uns über die gesellschaftliche Realität unterrichten würden. Die Leitmedien ebenso wie die Massenmedien sind Geschäftsmodelle und dienen so wenig der Vermittlung von „Wahrheit“, wie die Pharmaindustrie der Förderung der Volksgesundheit dient. Indoktrination gehört zum Wesenskern von Medien.
Wir werden also täglich manipuliert?
Alle Tagesnachrichten sind zwangsläufig hochgradig selektierte Realitätsfetzen, die ohne eine ausführliche Kontextualisierung gar nicht verständlich sein können. Eine solche Kontextualisierung erfolgt in den Medien meist unausgesprochen, das heißt durch die verwendete Sprache, durch affektive Bewertungen, durch Bilder etc.
Die Merkmale von Propaganda sind dann eindeutig erfüllt, wenn Meinung und Information in systematischer und für den Leser kaum aufzulösender Weise vermischt sind. Dies ist bei der Mehrzahl der Tagesnachrichten der privaten und öffentlich-rechtlichen Leitmedien der Fall. Bereits ihre Darbietung ist also ideologisch durchtränkt von den politischen und ökonomischen Interessen derjenigen, die eine Auswahl der Realitätsfetzen treffen, die sie über die Medien bereitstellen.
In diesem Sinne kann man durchaus sagen, dass wir bereits durch die strukturellen und ökonomischen Verhältnisse, auf deren Grundlage und in deren Rahmen Medien operieren, manipuliert werden.
Zu einer solchen Manipulation nutzen Medien ein breites Spektrum unserer psychischen Bedürfnisse aus. Sie versprechen Unterrichtung über die Welt vor allem hinsichtlich unserer Sorgen und Ängste, die unsere eigene kleine Lebenswelt betreffen. Das sind insbesondere politische Ereignisse und Entwicklungen, die unseren Status quo verschlechtern könnten. Sie befriedigen unsere Neugierde auf das Fremde und unser natürliches soziales Bedürfnis nach Klatsch, sie liefern Identifikationsfiguren zur Lebensbewältigung und zur Ablenkung vom eigenen Alltag. Auf dieser Klaviatur des Menschlichen verstehen Medien virtuos zu spielen und damit Kapital zu erwirtschaften.
All dies hat mit der Heranbildung mündiger Bürger nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Leitmedien dienen wesentlich dazu, ihren Konsumenten „geeignete“ Interpretationsrahmen für politische Ereignisse, also ganze politische Weltbilder zu verkaufen; Massenmedien haben durch eine Überflutung mit Nichtigkeiten im Wesentlichen die Funktion, die Leute von Wichtigerem, insbesondere von einer gesellschaftlichen Artikulation ihrer eigenen Interessen, fernzuhalten.
Nur wenn man sich dieser Dinge täglich bewusst ist und sich insbesondere bewusst ist, dass man sich beim Konsum der von Medien dargebotenen Informationen stets in einem Manipulationskontext befindet, hat man eine Chance, das von Medien bereitgestellte Material in angemessener Weise ‚lesen‘, bewerten und auch nutzen zu können.
Haben Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für solche Manipulationen parat?
Die Berichterstattungen zur Ukraine oder zu Syrien sind für jeden, dessen Urteilsfähigkeit nicht vollständig blockiert ist, besonders augenfällige jüngere Beispiele für die intellektuelle Korrumpiertheit und für die Schamlosigkeit, mit der sich die Leitmedien in den Dienst transatlantischer Eliten gestellt haben. Das Ausmaß der ideologischen Besessenheit, mit der die Leitmedien gegenwärtig gegen Russland hetzen und mit maßlosen Faktenverdrehungen die aggressive Globalisierungstrategie der NATO ideologisch zu rechtfertigen suchen, muss wohl selbst im historischen Maßstab Vergleichbares suchen.
Besonders gut lässt sich die Indoktrinationsfunktion von Medien im historischen Rückblick aufzeigen, weil sich im zeitlichen Abstand Realität und Propaganda leichter trennen lassen. Hier gibt es ein reiches empirisches Material, an dem sich die Angemessenheit der von den Medien in ihrer Selbstbeschreibung zugrunde gelegten Kernthese einer weitgehend objektiven und neutralen Berichterstattung – also ihres Anspruchs, die Bürger umfassend zu informieren und nicht lediglich politische Indoktrination zu betreiben – nach etablierten wissenschaftlichen Standards evaluieren lässt.
Für eine solche Evaluation eignen sich besonders Vorgänge und Situationen, über deren rechtliche und moralische Bewertung im historischen Rückblick ein gewisser Konsens erreicht werden konnte, seien es der Vietnam-Krieg, der Putsch in Chile – von den Leitmedien einhellig bejubelt -, der Sturz demokratischer Regierungen in Guatemala oder Iran, der Einmarsch in den Irak, völkerrechtswidrige Angriffskriege wie im Kosovokrieg, die Anwendung von Folter, etc., etc.
Zu derartigen Fällen haben Medienwissenschaftler eine Fülle von Analysen zu der Berichterstattung in den Leitmedien durchgeführt. Im Lichte dieser Analysen wird die Kernthese des Selbstverständnisses der Leitmedien als „Informationsmedien“ in einer so überwältigenden Weise widerlegt, dass man sich die Frage stellen muß, warum sie überhaupt noch als diskutierbare These behandelt wird. Nur durch aufwendige Indoktrination läßt sich eine solche These nicht nur als diskutierbare These, sondern als geradezu selbstverständliche Ausgangsprämisse im öffentlichen Diskussionsraum halten.
Wie kann man sich vor solchen Manipulationen und vor Indoktrination schützen?
Das war gerade eine der zentralen Fragen der Aufklärung. Diese hat hierzu einen reichen Werkzeugkasten zur Denkmethodologie und zu Instrumenten der Ideologiekritik bereitgestellt.
Hierzu gehört, politische und gesellschaftliche Fragen, mit denen man konfrontiert ist, zunächst daraufhin zu untersuchen, woher die Frage eigentlich kommt, welche Interessengruppen sie formuliert haben und welche ideologischen Prämissen bereits in der Formulierung der Frage enthalten sind. Denn schon die Begriffe, in denen Fragen formuliert sind, enthalten ein ganzes Bündel von unausgesprochenen Vorannahmen, Prämissen und Konsequenzen, die es sorgfältig aufzuschnüren gilt, bevor man prüft, wie eine Antwort aussehen könnte. Die Förderung dieser Anleitung zum „Selberdenken“ und „Richtigdenken“ lag im Zentrum der Bemühungen der Aufklärung, aus „vernunftbegabten vernünftige Menschen“, also mündige Bürger zu machen.
Dieser mühsam gewonnene Werkzeugkasten des kritischen Denkens wird jedoch in den wesentlichen politischen Sozialisationsinstanzen unserer Gesellschaft, also in Schulen und Universitäten, nicht tradiert. Das ist wenig überraschend. Denn ein solches Denken läuft stets auf eine Machtkritik hinaus und könnte damit den Status der jeweiligen Machteliten gefährden. Folglich sind nicht nur Medien, sondern zunehmend auch das gesamte Erziehungs- und Ausbildungswesen zu zentralen Indoktrinationsinstanzen geworden, in denen vor allem Konformität gefördert und belohnt wird.
Können Sie an einem konkreten Beispiel aufzeigen, wo und wie in wichtigen gesellschaftlichen Fragen kritische ideologische Prämissen versteckt sind, die es bei der Mediennutzung aufzudecken gilt?
Der gesamte Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist im Gefolge des Neoliberalismus dermaßen verseucht durch eine Orwellsche Umdeutung nahezu aller relevanten Begriffe, dass man ein ganzes „Falschwörterbuch“ benötigte, um die sich darin verbergenden ideologischen Vorannahmen aufzuschlüsseln. Im Neoliberalismus haben sich die Falschwörter zu einem so dichtgesponnenen Gewebe eines ganzen Weltbildes verwoben, dass es nicht leicht ist, die Realität hinter dieser Ideologie zu erkennen.
Ein aktuelles Beispiel anderer Art ist der Umgang mit den Problemen, die gegenwärtig durch Migranten aus Syrien und Afghanistan sowie aus Westafrika entstehen. Auch hier ist bei der Formulierung dessen, was eigentlich das Problem ist, sorgfältig darauf zu achten, welche ideologischen Prämissen und stillschweigenden Vorannahmen sich bereits in der Problemformulierung verbergen. Denn wer festlegen kann, was als Problem zu gelten hat, kann damit auch den Raum dessen einschränken, was als mögliche Lösung angesehen werden kann.
Das Flüchtlingsproblem ist – weil es innen- wie außenpolitisch selbst nur ein Symptom für sehr viel tieferliegende Probleme ist – so komplex, dass es hierfür keine einfachen Lösungen geben kann. Folglich ist der Spielraum sehr groß, durch unterschiedliche Fokussierungen auf verschiedene Teilaspekte zu unterschiedlichen Haltungen und Wertungen zu kommen. Die daraus resultierenden Konflikte müssen aber in einer Demokratie nicht nur ausgehalten werden, sondern gehören geradezu zum Wesensmerkmal einer Demokratie; sie müssen im öffentlichen Diskurs gelöst werden.
Bei der Formulierung dessen, was eigentlich das Problem darstellt, müssen wir uns jedoch vor historischen und ideologischen Verkürzungen hüten. Wir sollten uns also derjenigen Aspekte des Problems bewußt sein, für die „wir“ – also europäische Staaten und ihre Bürger – politische Verantwortung für die gegenwärtige Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten tragen. Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 steht stellvertretend hierfür. Wir haben seitdem große Teile des Nahen und Mittleren Ostens in seinen gewachsenen kulturellen Strukturen und in seinen funktionierenden Nationalstaaten zerstört, wir haben ganze Staaten zusammengebombt, den Islam radikalisiert und in dem Vakuum Organisationen wie die Taliban und den IS entstehen lassen und sogar gefördert.
Die Probleme, mit denen die Opfer unserer Verwüstungen zu kämpfen haben, schreiben wir nun ihnen selber zu, da wir unsere Verbrechen – einschließlich des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf den Irak – längst dem gezielten Erinnerungsverlust unserer kollektiven Gedächtnisse überantwortet haben oder sie gar zu Akten unserer altruistischen „Zivilisationsförderung“ umdeklariert haben.
Mehr als 100 Jahre haben wir Gewalt exportiert – zum ökonomischen Nutzen der daran beteiligten Täter-Nationen und zur Steigerung des Lebensstandards ihrer Bevölkerungen. Nun erreichen erstmals einige Konsequenzen unserer Untaten europäischen Boden, und nun beschweren wir uns darüber, dass die Opfer uns mit den Folgen unserer Untaten in unserem eigenen Lebensbereich behelligen.
Doch man kann nicht zum eigenen Nutzen Tretminen und Giftgas exportieren und sich dann darüber beklagen, dass man durch Explosionslärm und Giftgestank gestört wird. Ein Blick auf die Geschichte sollte also klarmachen, dass man nicht in internationalem Maßstab Untaten begehen kann und sich dann in nationalem Rahmen gegen ihre Folgen abschotten kann. Wer dennoch entsprechende Lösungen vorschlägt, macht sich genau jener Heuchelei und Doppelmoral schuldig, die man im Falle anderer globaler Akteure zu Recht anprangert.
Wenn, wie Sie sagen, viele der Probleme, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, so komplex sind, dass es keine klaren oder einfachen Lösungen gibt und geben kann, hat dann nicht auch die historische Unterscheidung von linken und rechten Haltungen ihre Bedeutung verloren? Geht es dann nicht in erster Linie darum, pragmatisch konkrete Lösungen für konkrete Probleme zu finden? Einige Akteure im politischen Spektrum deuten derlei aktuell ja gern einmal an…
Das ist genau die Ideologie, mit der – ziemlich erfolgreich – versucht wird, demokratische Strukturen durch eine Herrschaft technokratischer Eliten zu ersetzen. Daniel Bell hatte ja schon 1960 das „Ende der Ideologie“ verkündet und Francis Fukuyama 1992 gar das „Ende der Geschichte“ durch den Siegeszug des Kapitalismus. Beide Thesen sind rasch in sich zusammengefallen und haben sich als das erwiesen, was sie sind: als Versuche, eine Ideologie zu schaffen, mit der sich der Status der herrschenden Eliten stabilisieren und ihre Macht vergrößern läßt.
Links und rechts sind ja nicht lediglich – in ihrem Bezug auf die Sitzordnung in der verfassunggebenden französischen Nationalversammlung von 1789 – historische Einteilungen entlang einer eindimensionalen Eigenschaft. Als solche wären sie in der Tat nicht nur historisch überholt, sondern auch hoffnungslos unterkomplex. Links steht vielmehr für die normativen moralischen und politischen Leitvorstellungen, die über den Menschen und über die Möglichkeiten seiner gesellschaftlichen Organisation in einem langen und mühsamen historischen Prozeß gewonnen wurden und die in der Aufklärung besonders prägnant formuliert wurden. Den Kern dieser Leitvorstellungen bildet ein universeller Humanismus, also die Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen.
Bereits aus dieser Leitvorstellung ergeben sich schwerwiegende und weitreichende Folgerungen. Beispielsweise schließt ein universeller Humanismus Positionen aus, die auf der Überzeugung einer prinzipiellen Vorrangstellung der eigenen biologischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppe beruhen; er schließt also Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus oder Exzeptionalismus aus. Zudem beinhaltet er, dass alle Machtstrukturen ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen haben, sonst sind sie illegitim und somit zu beseitigen.
Aus dem universellen Humanismus ergibt sich also das spezifische Leitideal einer radikal-demokratischen Form einer Gesellschaft, in der ein jeder einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen hat, die die eigene ökonomische und gesellschaftliche Situation betreffen; er schließt also Gesellschaftsformen aus, die auf einer Elitenherrschaft oder auf einem Führerprinzip beruhen. Diese in der Aufklärung erstmals klar formulierten Leitideale sind seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert worden und stellen den Identitätskern des linken Projektes dar.
Da diese Leitideale gewaltige politische Konsequenzen haben, wurden sie seit je auf das schärfste bekämpft; historisch war das der Kern der sogenannten Gegenaufklärung, der es wesentlich um die Wahrung des jeweiligen Status quo ging. Die Behauptung, eine Links-Rechts-Unterscheidung hätte sich historisch überlebt, würde also letztlich beinhalten, dass sich die Leitideen einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen und einer ernsthaften demokratischen Gesellschaftsorganisation überholt hätten – eine These, die natürlich gerne von denen vertreten wird, deren Macht gerade auf rassistischen, chauvinistischen, nationalistischen oder exzeptionalistischen Ideologien basiert.
Wenn, wie Sie sagen, links und rechts gesellschaftliche und politische Gegenpole bilden, wie kann es dann eine Querfront geben und wie können Linke tatsächlich oder vermeintlich „rechts-offen“ sein? Oder stellen diese Begriffe auch nur Propaganda dar, um Linke zu diskreditieren? Wenn ja, was sind dann die Gründe hierfür?
In der Sache sind links und rechts in der Tat Gegenpole und können daher in der Substanz so wenig Berührungspunkte miteinander haben wie Aufklärung und Gegenaufklärung oder wie Demokratie und Elitenherrschaft. Blickt man jedoch statt auf die Sache auf die Ebene einzelner Personen oder auf die Ebene konkreter politischer Gruppierungen, die sich als links bezeichnen, so lassen sich aus naheliegenden Gründen alle möglichen Konstellationen von Haltungen finden, die in der Sache völlig unvereinbar miteinander sind.
Das war auch zur Zeit der Aufklärung nicht anders. Beispielsweise gilt der große schottische Philosoph David Hume als zur Aufklärung gehörig; gleichwohl sah er Schwarze „von Natur aus den Weißen unterlegen“ an, vertrat also rassistische Auffassungen. Auf der Ebene einzelner Personen können also Überzeugungen gleichzeitig nebeneinander bestehen, die in der Sache völlig unverträglich miteinander sind. Das ist eine Konsequenz unserer beschränkten Rationalität und anderer Eigenschaften unseres Geistes. Wir sind oft nicht in der Lage zu erkennen, dass einige unserer Überzeugungen in der Sache miteinander unverträglich sind. Beispielsweise können uns bestimmte Affekte daran hindern, derartige Unverträglichkeiten zu bemerken.
So war Hume einerseits von den Leitidealen der Aufklärung fasziniert; zugleich vertrat er – weil er eine mögliche Gefährdung seiner eigenen privilegierten Lebensform fürchtete – ein gesellschaftliches Weltbild, das die damalige gesellschaftliche und kolonialistische Praxis rechtfertigte. Doch auch unter denjenigen, die sich aufrichtig und konsequent der radikalen Aufklärung und den genannten Leitidealen verpflichtet fühlten, fanden sich zahlreiche, die Bedenken hatten, das Volk über diese Leitdeale aufzuklären, weil sie fürchteten, durch den dadurch möglicherweise ausgelösten gesellschaftlichen Transformationsprozess Nachteile hinsichtlich ihres privilegierten Status quo zu erleiden. Erst kommt bei den Privilegierten eben die Sicherung des eigenen gesellschaftlichen Status quo, dann kommt die Moral.
Wir müssen also die sachliche Ebene moralischer und politischer Leitideale klar von einer personellen Ebene trennen. Man wird dann auch innerhalb von Organisationsformen, die sich als links verstehen, Personen finden, die Überzeugungen vertreten, die den genannten Leitidealen widersprechen. Es gibt also Personen, die sich als links bezeichnen und gleichwohl chauvinistische, nationalistische oder kulturell-rassistische Positionen vertreten und ideologische Prämissen von Kapitalismus, Neoliberalismus, Neo-Imperialismus und ähnliches teilen. Das wird umso stärker der Fall sein, je stärker Personen in ihrem gesellschaftlichen Status und in ihren Privilegien von der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung profitieren. In solchen Fällen neigen dann auch sich als links verstehende Personen dazu, die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zu akzeptieren und eine linke Perspektive auf moderate Reformen an den jeweiligen Verhältnissen zu beschränken.
Noch einmal: In der Sache kann es im Kern keine Berührungspunkte zwischen links und rechts geben; auf der Ebene individueller Personen und Gruppierungen ist jedoch so ziemlich alles an Kombinationen politischer Einstellungen möglich. Auch hier bedarf es einer kontinuierlichen Aufklärungsarbeit, um die Unverträglichkeiten bestimmter politischer Überzeugungen mit den Leitidealen der Aufklärung und somit mit dem Kern des linken Projektes aufzuzeigen.
Warum aber wird gerade jetzt die Linke so durch Vorwürfe wie Querfront oder rechts-offen unter Beschuss genommen? Ich habe alles andere als den Eindruck, dass alle hier Angefeindeten wirklich rechts, geschweige denn eine Bedrohung für gesellschaftliche Werte oder Demokratie darstellen. Ganz im Gegenteil scheint es hier oft eine unglaublich aufgeladene Debatte zu geben, die, wie mir scheinen will, radikale Kritik, ja, wenn ich so sagen darf, zunehmend totzuschlagen versucht…
Auch an der Linken ging die tiefgreifende neoliberale Indoktrination mit ihrer ideologischen Kernthese der Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse, gelinde gesagt, nicht spurlos vorüber. Diese Ideologie wurde gleichsam zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, da offensichtlich auch in der Linken der Denkraum möglicher Alternativen radikal schrumpfte und ihre Anliegen zunehmend zu einer reformistischen Perspektive verkümmerten.
Je stärker sie sich im Rahmen des gegenwärtigen neoliberalen Konsenses weniger als Opposition, sondern eher als mitgestaltende politische Kraft versteht oder verstehen möchte, umso mehr ist sie in Gefahr, dem Irrglauben zu erliegen, soziale Reformen könnten gleichsam symbiotisch im Konsens mit den herrschenden Eliten durchgesetzt werden.
Wir sollten stets in Erinnerung behalten, dass es gerade reformistisch-sozialistische und sozialdemokratische Parteien waren und sind, die in Europa das neoliberale Projekt am konsequentesten vorangetrieben und rechtlich verankert haben. Die notwendigen Konsequenzen daraus lassen sich nur ziehen, wenn die Ursachen für das Scheitern der – oft zunächst sehr vielversprechenden – linken Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte unter diesem Aspekt sehr viel genauer analysiert würden.
Zu Ihrer Frage, warum die Linke gegenwärtig einen so heftigen Selbstzersetzungsprozeß betreibt, kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Lange historische Erfahrungen lehren uns ja, dass die Linke naturgemäß – da sie ja gerade auf eine Delegitimierung von Machteliten zielt – seit je im Zentrum von Zersetzungsbemühungen durch die jeweils herrschenden Eliten steht, die stets großen Aufwand betrieben haben, linke Bewegungen und überhaupt alle politischen Organisationen der Verlierer der jeweils herrschenden Ordnung zu spalten, auszuzehren und zu neutralisieren.
Insofern sind die neueren „Querfront-Attacken“ nicht sonderlich überraschend. Interessant ist jedoch, dass diese Attacken zu einem Zeitpunkt an Intensität zugenommen haben, an dem weite Teile der politisch organisierten Linken sich in einer reformistisch-symbiotischen Beziehung zu den herrschenden Machtverhältnissen eingerichtet haben.
Dadurch ist die Linke mehr als zu früheren Zeiten mit einem tiefgehenden Identitätsproblem konfrontiert. Gerade Gruppierungen, die ihre Ziele auf das beschränken, was auf reformistisch-symbiotischem Wege als erreichbar angesehen wird, haben ihre Leitideale und damit ihre eigenen Wurzeln verloren. Nur zur Erinnerung: Ein universeller Humanismus und das sich daraus ergebende Leitideal einer gerechten und menschwürdigen demokratischen Gesellschaft sind mit einer kapitalistischen Wirtschaftsform nicht verträglich. Demokratie in einem ernsthaften Sinne und Kapitalismus schließen sich aus.
Parteien im linken Teil des politischen Spektrums erfüllen jedoch für die herrschenden Eliten eine wichtige Stabilisierungsfunktion. Nur sie können die Verlierer der herrschenden Wirtschaftsordnung, deren Interessen sie ja zu vertreten vorgeben, in einen politischen Konsens einbinden, wodurch der Status der herrschenden Eliten stabilisiert wird. Dafür werden ihre Vertreter dann mit geeigneten Privilegien und mit einem Platz an den Katzentischen im Palais der Machteliten belohnt. Damit die Parteien diese Pazifizierungsfunktion für die Klasse, deren Interessen zu vertreten sie vorgibt, erfüllen können, muß natürlich sichergestellt werden, dass in ihnen nicht Kräfte Einfluß gewinnen, die sich tatsächlich für die Interessen der Bevölkerung einsetzen – also für eine gerechtere und wirklich demokratische Gesellschaft.
Für die Neutralisierung der Vertreter ernsthaft linker Positionen sind Ausgrenzungskriterien wichtig, die für die Öffentlichkeit zumindest vordergründig eine gewisse Plausibilität haben. In der Sache ist der Spielraum für solche Ausgrenzungskriterien sehr beschränkt und reicht kaum darüber hinaus, die genannten Leitideale als utopisch, unrealistisch oder weltfremd zu diffamieren. Eine solche Diffamierung ist bereits eine recht wirksame Methode, den öffentlichen Denkbereich auf „vernünftige“, also systemstabilisierende Ziele zu begrenzen. Sehr viel wirksamer läßt sich jedoch eine Ausgrenzung und Ächtung radikalerer Positionen aus diesem Spektrum dadurch erreichen, dass man auf die persönliche Ebene wechselt und Vertreter solcher Positionen, die Spielraum für solche Angriffe bieten könnten, durch Diffamierungen, Anspielungen, üble Nachrede, Gerüchte, Verleumdungen oder Rufmord zu diskreditieren sucht.
Es ist daher besonders erhellend zu untersuchen, von wem diese Attacken ausgehen und gegen wen sie sich richten. Die Systematik hierbei scheint recht offenkundig zu sein: Die „Querfront“- und „Rechtsoffen“-Vorwürfe gehen fast stets von Vertretern der reformistischen „system-offenen“ Linken aus und richten sich überwiegend gegen Personen, die in ernsthafter Weise gegenwärtige Machtverhältnisse hinterfragen und sich für eine gerechtere und wirklich demokratische Gesellschaft einsetzen. Denn diese Personen gefährden nicht nur die Erfüllung der systemstabilisierenden Funktion der reformistisch-symbiotischen Linken, sondern erinnern diese auf psychologischer Ebene auch immer wieder an deren Verrat ihrer eigenen Leitideale. Das erklärt vielleicht die Verbindung von Aggressivität, intellektueller Dürftigkeit und Verworrenheit und moralischer Heuchelei, die ein charakteristisches Merkmal solcher Kampagnen ist.
Es gibt Themen, bei denen sich Kritik von links und Kritik von rechts auf vordergründig gleiche Ziele richtet: etwa Medien, die Rolle der EU oder die Rolle der USA. Was bedeutet das? Kann es dafür Gründe etwa strategischer Art geben? Wie geht man damit um? Wird durch vordergründig gleiche Ziele linke Kritik plötzlich rechts?
Auch hier muß man wieder, bevor man eine Antwort zu geben versucht, untersuchen, was eigentlich die Frage ist und welche stillschweigenden Prämissen in ihr verborgen sind. Wir neigen nämlich von Natur aus dazu, in unserem Denken dem Banne des Wortes zu erliegen. Das gilt im politischen Bereich noch viel mehr und stellt geradezu die Grundlage von Propaganda dar.
Wenn wir Wörter oder Wortverbindungen wie „Kampf um Demokratie und Menschenrechte“ oder „humanitäre Intervention“ hören, fällt es uns manchmal schwer, das tatsächlich damit Gemeinte hinter der Oberfläche der Wörter zu identifizieren. Wir sind also im politischen Bereich stets darauf angewiesen, bei allen Begriffen die ideologischen Vorannahmen und Prämissen zu identifizieren, die mit ihnen einhergehen. Ohne eine solche gedankliche Arbeit laufen wir Gefahr, dem bloßen Wortgeklingel zum Opfer zu fallen. Das gilt auch für die Frage, ob es ernsthafte, gemeinsame Ziele zwischen linken und rechten Perspektiven geben kann.
Wenn wir von rechter Seite Wörter wie „Medienkritik“ oder „Kritik der EU“ oder „anti-imperialistische Kritik der USA“ vernehmen, sind wir versucht zu meinen, dass die Art der Kritik und die Art des Zieles, auf das sie sich richtet, möglicherweise mit linken Anliegen übereinstimmen könnte. Es lässt sich jedoch leicht aufzeigen, dass aus linker Perspektive darunter jeweils etwas grundlegend Anderes zu verstehen ist als aus rechter Perspektive.
Es ist nämlich konstitutiv für die rechte Perspektive, dass sie das normative Ideal einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen mit all seinen Implikationen rigoros zurückweist und eine radikal nationalistische, chauvinistische und rassistische Haltung – ihr Rassismus tarnt sich nur dürftig durch ihr Konzept des „Ethnopluralismus“ – vertritt. Ihr Gesellschaftsideal ist das einer kulturell homogenen und hierarchisch-elitär organisierten Volksgemeinschaft, in die sich der Einzelne einzufügen und der er sich unterzuordnen habe. Ihr Hauptgegner ist folglich gerade die „Humanitätsideologie“ der Aufklärung und damit alles linke Gedankengut, das zu einer „weltanschaulichen Entwurzelung“ und zu einer Schwächung der „gewachsenen Ordnung der ethnischen Volksgemeinschaft“ und somit der „nationalen Identität“ geführt habe. Es kann also weder in den Zielen noch in den Mitteln Gemeinsamkeiten zwischen dem linken und dem rechten Projekt geben.
Auch auf einer rein strategischen Ebene der Erreichung gänzlich unstreitiger Ziele läßt sich angesichts der vollständigen Unverträglichkeit der Leitideale und Vorstellungen über gesellschaftliche Ziele keine Art der Kooperation rechtfertigen. Das ist eine Einsicht, die in der Linken in anderen Fällen einer grundlegenden Unverträglichkeit von Zielen völlig unstreitig wäre. Eine strategische Kooperation linker Bewegungen etwa mit Monsanto oder Nestlé, um gemeinsam gegen „den Hunger“ in der Welt zu kämpfen, oder etwa mit der Bill-Gates-Stiftung, um gemeinsam gegen „Gesundheitsprobleme“ in der Dritten Welt zu kämpfen, oder mit dem National Endowment for Democracy, um gemeinsam für „Demokratie“ zu kämpfen, ist kaum sinnvoller, als mit Bomben für „die Menschenrechte“ zu kämpfen.
Bereits die Idee solcher Kooperationen resultiert aus gedanklichen Verwirrungen und Konfusionen darüber, worum es wirklich geht. Es bleibt also Aufgabe des linken Projektes, im Einklang mit dessen Leitidealen seine eigenen Ziele zu verfolgen und sich dabei nicht durch scheinbare Gemeinsamkeit auf der Oberfläche der Wörter irreführen zu lassen.
Derartige Konfusionen werden jedoch auch innerhalb der Linken gezielt vonseiten einer reformistischen „system-offenen“ Linken gefördert, um Kritikbereiche, in denen eine grundlegende Kritik die Stabilität der herrschenden Eliten gefährden könnte, aus dem Bereich “vernünftiger“ und “verantwortlicher“ Positionen auszugrenzen.
Was täte politisch Ihrer Meinung nach am meisten Not? Was stünde, im Kampf gegen den Neoliberalismus und das durch diesen forcierte Ende der Demokratie, Ihrer Meinung nach gerade als Wichtigstes auf der politischen Agenda?
Der Neoliberalismus zielt ja darauf, uns im Denken und Fühlen zu entmündigen und uns so – möglichst ohne sichtbare Gewalt – für die Interessen herrschender Eliten zu verzwecken, also verwertbar zu machen. Folglich muß unsere vorrangige Aufgabe darin bestehen, Autonomie zurückzugewinnen – Autonomie im Denken und Autonomie im Fühlen. Nur so können wir auch wieder Spielräume für eine Autonomie im Handeln und damit für eine Verfolgung unserer eigenen gesellschaftlichen Interessen gewinnen. Das wird nicht ohne kontinuierliche Denkarbeit möglich sein und auch nicht ohne ein größeres Zutrauen in unsere natürliche Befähigung zur Moralität, also zu Urteilen über Verletzungen elementarer moralischer Prinzipien, etwa über Verteilungsgerechtigkeit.
Die lange Geschichte des linken Projektes stellt uns klar formulierte gesellschaftliche Leitideale bereit, und es gibt keine stichhaltigen Gründe, dass eine Annäherung an diese Leitideale außerhalb dessen läge, was dem Menschen aufgrund der Beschaffenheit seines Geistes möglich ist. Wenn wir uns diese Leitideale und Zielvorstellungen wieder stärker in Erinnerung rufen, können sie uns wieder Hoffnung geben, dass die Dinge änderbar sind und auch wieder stärker die Begeisterung und Leidenschaft auslösen, die nötig ist, um beständig für ihr Erreichen zu kämpfen. Die vorrangige Aufgabe sehe ich dabei darin, die mittlerweile verheerende gesellschaftliche Fragmentierung und die mit ihr einhergehende politische Lethargie zu überwinden und aufzuzeigen, dass es gangbare Wege gibt, die vom jetzigen Zustand zu einem wünschenswerteren gesellschaftlichen Zustand führen können.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Rainer Mausfeld, geboren 1949, studierte Psychologie, Mathematik und Philosophie in Bonn. Er ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung.
Medien stiften Gesellschaft und schaffen und formen erst unser Bild von der gesellschaftlichen und politischen Realität. Sie schaffen gemeinsame Denkräume, helfen Erfahrungen in Sinnzusammenhänge zu integrieren und stiften durch eine Synchronisation der Aufmerksamkeit gemeinsame Erfahrungen. Daher sind sie ganz zentrale Instrumente zur Organisation und zur Ausübung von politischer Macht.
Folglich gehen politische Kämpfe zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen stets mit Bemühungen einher, Zugriff auf die Medien zu gewinnen. Da jedoch die Einstiegs- und Betreiberkosten im Bereich der Massenmedien sehr hoch sind, ist es nicht überraschend, dass sie sich überwiegend im Besitz von Konzernen oder Multimillionären befinden und somit deren politische Weltsicht und Interessen zu vermitteln suchen.
Dieser Tatsache muß man sich täglich beim Lesen von „Nachrichten“ bewusst sein, um nicht der naiven Vorstellung zu verfallen, dass Medien uns über die gesellschaftliche Realität unterrichten würden. Die Leitmedien ebenso wie die Massenmedien sind Geschäftsmodelle und dienen so wenig der Vermittlung von „Wahrheit“, wie die Pharmaindustrie der Förderung der Volksgesundheit dient. Indoktrination gehört zum Wesenskern von Medien.
Wir werden also täglich manipuliert?
Alle Tagesnachrichten sind zwangsläufig hochgradig selektierte Realitätsfetzen, die ohne eine ausführliche Kontextualisierung gar nicht verständlich sein können. Eine solche Kontextualisierung erfolgt in den Medien meist unausgesprochen, das heißt durch die verwendete Sprache, durch affektive Bewertungen, durch Bilder etc.
Die Merkmale von Propaganda sind dann eindeutig erfüllt, wenn Meinung und Information in systematischer und für den Leser kaum aufzulösender Weise vermischt sind. Dies ist bei der Mehrzahl der Tagesnachrichten der privaten und öffentlich-rechtlichen Leitmedien der Fall. Bereits ihre Darbietung ist also ideologisch durchtränkt von den politischen und ökonomischen Interessen derjenigen, die eine Auswahl der Realitätsfetzen treffen, die sie über die Medien bereitstellen.
In diesem Sinne kann man durchaus sagen, dass wir bereits durch die strukturellen und ökonomischen Verhältnisse, auf deren Grundlage und in deren Rahmen Medien operieren, manipuliert werden.
Zu einer solchen Manipulation nutzen Medien ein breites Spektrum unserer psychischen Bedürfnisse aus. Sie versprechen Unterrichtung über die Welt vor allem hinsichtlich unserer Sorgen und Ängste, die unsere eigene kleine Lebenswelt betreffen. Das sind insbesondere politische Ereignisse und Entwicklungen, die unseren Status quo verschlechtern könnten. Sie befriedigen unsere Neugierde auf das Fremde und unser natürliches soziales Bedürfnis nach Klatsch, sie liefern Identifikationsfiguren zur Lebensbewältigung und zur Ablenkung vom eigenen Alltag. Auf dieser Klaviatur des Menschlichen verstehen Medien virtuos zu spielen und damit Kapital zu erwirtschaften.
All dies hat mit der Heranbildung mündiger Bürger nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Leitmedien dienen wesentlich dazu, ihren Konsumenten „geeignete“ Interpretationsrahmen für politische Ereignisse, also ganze politische Weltbilder zu verkaufen; Massenmedien haben durch eine Überflutung mit Nichtigkeiten im Wesentlichen die Funktion, die Leute von Wichtigerem, insbesondere von einer gesellschaftlichen Artikulation ihrer eigenen Interessen, fernzuhalten.
Nur wenn man sich dieser Dinge täglich bewusst ist und sich insbesondere bewusst ist, dass man sich beim Konsum der von Medien dargebotenen Informationen stets in einem Manipulationskontext befindet, hat man eine Chance, das von Medien bereitgestellte Material in angemessener Weise ‚lesen‘, bewerten und auch nutzen zu können.
Haben Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für solche Manipulationen parat?
Die Berichterstattungen zur Ukraine oder zu Syrien sind für jeden, dessen Urteilsfähigkeit nicht vollständig blockiert ist, besonders augenfällige jüngere Beispiele für die intellektuelle Korrumpiertheit und für die Schamlosigkeit, mit der sich die Leitmedien in den Dienst transatlantischer Eliten gestellt haben. Das Ausmaß der ideologischen Besessenheit, mit der die Leitmedien gegenwärtig gegen Russland hetzen und mit maßlosen Faktenverdrehungen die aggressive Globalisierungstrategie der NATO ideologisch zu rechtfertigen suchen, muss wohl selbst im historischen Maßstab Vergleichbares suchen.
Besonders gut lässt sich die Indoktrinationsfunktion von Medien im historischen Rückblick aufzeigen, weil sich im zeitlichen Abstand Realität und Propaganda leichter trennen lassen. Hier gibt es ein reiches empirisches Material, an dem sich die Angemessenheit der von den Medien in ihrer Selbstbeschreibung zugrunde gelegten Kernthese einer weitgehend objektiven und neutralen Berichterstattung – also ihres Anspruchs, die Bürger umfassend zu informieren und nicht lediglich politische Indoktrination zu betreiben – nach etablierten wissenschaftlichen Standards evaluieren lässt.
Für eine solche Evaluation eignen sich besonders Vorgänge und Situationen, über deren rechtliche und moralische Bewertung im historischen Rückblick ein gewisser Konsens erreicht werden konnte, seien es der Vietnam-Krieg, der Putsch in Chile – von den Leitmedien einhellig bejubelt -, der Sturz demokratischer Regierungen in Guatemala oder Iran, der Einmarsch in den Irak, völkerrechtswidrige Angriffskriege wie im Kosovokrieg, die Anwendung von Folter, etc., etc.
Zu derartigen Fällen haben Medienwissenschaftler eine Fülle von Analysen zu der Berichterstattung in den Leitmedien durchgeführt. Im Lichte dieser Analysen wird die Kernthese des Selbstverständnisses der Leitmedien als „Informationsmedien“ in einer so überwältigenden Weise widerlegt, dass man sich die Frage stellen muß, warum sie überhaupt noch als diskutierbare These behandelt wird. Nur durch aufwendige Indoktrination läßt sich eine solche These nicht nur als diskutierbare These, sondern als geradezu selbstverständliche Ausgangsprämisse im öffentlichen Diskussionsraum halten.
Wie kann man sich vor solchen Manipulationen und vor Indoktrination schützen?
Das war gerade eine der zentralen Fragen der Aufklärung. Diese hat hierzu einen reichen Werkzeugkasten zur Denkmethodologie und zu Instrumenten der Ideologiekritik bereitgestellt.
Hierzu gehört, politische und gesellschaftliche Fragen, mit denen man konfrontiert ist, zunächst daraufhin zu untersuchen, woher die Frage eigentlich kommt, welche Interessengruppen sie formuliert haben und welche ideologischen Prämissen bereits in der Formulierung der Frage enthalten sind. Denn schon die Begriffe, in denen Fragen formuliert sind, enthalten ein ganzes Bündel von unausgesprochenen Vorannahmen, Prämissen und Konsequenzen, die es sorgfältig aufzuschnüren gilt, bevor man prüft, wie eine Antwort aussehen könnte. Die Förderung dieser Anleitung zum „Selberdenken“ und „Richtigdenken“ lag im Zentrum der Bemühungen der Aufklärung, aus „vernunftbegabten vernünftige Menschen“, also mündige Bürger zu machen.
Dieser mühsam gewonnene Werkzeugkasten des kritischen Denkens wird jedoch in den wesentlichen politischen Sozialisationsinstanzen unserer Gesellschaft, also in Schulen und Universitäten, nicht tradiert. Das ist wenig überraschend. Denn ein solches Denken läuft stets auf eine Machtkritik hinaus und könnte damit den Status der jeweiligen Machteliten gefährden. Folglich sind nicht nur Medien, sondern zunehmend auch das gesamte Erziehungs- und Ausbildungswesen zu zentralen Indoktrinationsinstanzen geworden, in denen vor allem Konformität gefördert und belohnt wird.
Können Sie an einem konkreten Beispiel aufzeigen, wo und wie in wichtigen gesellschaftlichen Fragen kritische ideologische Prämissen versteckt sind, die es bei der Mediennutzung aufzudecken gilt?
Der gesamte Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist im Gefolge des Neoliberalismus dermaßen verseucht durch eine Orwellsche Umdeutung nahezu aller relevanten Begriffe, dass man ein ganzes „Falschwörterbuch“ benötigte, um die sich darin verbergenden ideologischen Vorannahmen aufzuschlüsseln. Im Neoliberalismus haben sich die Falschwörter zu einem so dichtgesponnenen Gewebe eines ganzen Weltbildes verwoben, dass es nicht leicht ist, die Realität hinter dieser Ideologie zu erkennen.
Ein aktuelles Beispiel anderer Art ist der Umgang mit den Problemen, die gegenwärtig durch Migranten aus Syrien und Afghanistan sowie aus Westafrika entstehen. Auch hier ist bei der Formulierung dessen, was eigentlich das Problem ist, sorgfältig darauf zu achten, welche ideologischen Prämissen und stillschweigenden Vorannahmen sich bereits in der Problemformulierung verbergen. Denn wer festlegen kann, was als Problem zu gelten hat, kann damit auch den Raum dessen einschränken, was als mögliche Lösung angesehen werden kann.
Das Flüchtlingsproblem ist – weil es innen- wie außenpolitisch selbst nur ein Symptom für sehr viel tieferliegende Probleme ist – so komplex, dass es hierfür keine einfachen Lösungen geben kann. Folglich ist der Spielraum sehr groß, durch unterschiedliche Fokussierungen auf verschiedene Teilaspekte zu unterschiedlichen Haltungen und Wertungen zu kommen. Die daraus resultierenden Konflikte müssen aber in einer Demokratie nicht nur ausgehalten werden, sondern gehören geradezu zum Wesensmerkmal einer Demokratie; sie müssen im öffentlichen Diskurs gelöst werden.
Bei der Formulierung dessen, was eigentlich das Problem darstellt, müssen wir uns jedoch vor historischen und ideologischen Verkürzungen hüten. Wir sollten uns also derjenigen Aspekte des Problems bewußt sein, für die „wir“ – also europäische Staaten und ihre Bürger – politische Verantwortung für die gegenwärtige Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten tragen. Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 steht stellvertretend hierfür. Wir haben seitdem große Teile des Nahen und Mittleren Ostens in seinen gewachsenen kulturellen Strukturen und in seinen funktionierenden Nationalstaaten zerstört, wir haben ganze Staaten zusammengebombt, den Islam radikalisiert und in dem Vakuum Organisationen wie die Taliban und den IS entstehen lassen und sogar gefördert.
Die Probleme, mit denen die Opfer unserer Verwüstungen zu kämpfen haben, schreiben wir nun ihnen selber zu, da wir unsere Verbrechen – einschließlich des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf den Irak – längst dem gezielten Erinnerungsverlust unserer kollektiven Gedächtnisse überantwortet haben oder sie gar zu Akten unserer altruistischen „Zivilisationsförderung“ umdeklariert haben.
Mehr als 100 Jahre haben wir Gewalt exportiert – zum ökonomischen Nutzen der daran beteiligten Täter-Nationen und zur Steigerung des Lebensstandards ihrer Bevölkerungen. Nun erreichen erstmals einige Konsequenzen unserer Untaten europäischen Boden, und nun beschweren wir uns darüber, dass die Opfer uns mit den Folgen unserer Untaten in unserem eigenen Lebensbereich behelligen.
Doch man kann nicht zum eigenen Nutzen Tretminen und Giftgas exportieren und sich dann darüber beklagen, dass man durch Explosionslärm und Giftgestank gestört wird. Ein Blick auf die Geschichte sollte also klarmachen, dass man nicht in internationalem Maßstab Untaten begehen kann und sich dann in nationalem Rahmen gegen ihre Folgen abschotten kann. Wer dennoch entsprechende Lösungen vorschlägt, macht sich genau jener Heuchelei und Doppelmoral schuldig, die man im Falle anderer globaler Akteure zu Recht anprangert.
Wenn, wie Sie sagen, viele der Probleme, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, so komplex sind, dass es keine klaren oder einfachen Lösungen gibt und geben kann, hat dann nicht auch die historische Unterscheidung von linken und rechten Haltungen ihre Bedeutung verloren? Geht es dann nicht in erster Linie darum, pragmatisch konkrete Lösungen für konkrete Probleme zu finden? Einige Akteure im politischen Spektrum deuten derlei aktuell ja gern einmal an…
Das ist genau die Ideologie, mit der – ziemlich erfolgreich – versucht wird, demokratische Strukturen durch eine Herrschaft technokratischer Eliten zu ersetzen. Daniel Bell hatte ja schon 1960 das „Ende der Ideologie“ verkündet und Francis Fukuyama 1992 gar das „Ende der Geschichte“ durch den Siegeszug des Kapitalismus. Beide Thesen sind rasch in sich zusammengefallen und haben sich als das erwiesen, was sie sind: als Versuche, eine Ideologie zu schaffen, mit der sich der Status der herrschenden Eliten stabilisieren und ihre Macht vergrößern läßt.
Links und rechts sind ja nicht lediglich – in ihrem Bezug auf die Sitzordnung in der verfassunggebenden französischen Nationalversammlung von 1789 – historische Einteilungen entlang einer eindimensionalen Eigenschaft. Als solche wären sie in der Tat nicht nur historisch überholt, sondern auch hoffnungslos unterkomplex. Links steht vielmehr für die normativen moralischen und politischen Leitvorstellungen, die über den Menschen und über die Möglichkeiten seiner gesellschaftlichen Organisation in einem langen und mühsamen historischen Prozeß gewonnen wurden und die in der Aufklärung besonders prägnant formuliert wurden. Den Kern dieser Leitvorstellungen bildet ein universeller Humanismus, also die Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen.
Bereits aus dieser Leitvorstellung ergeben sich schwerwiegende und weitreichende Folgerungen. Beispielsweise schließt ein universeller Humanismus Positionen aus, die auf der Überzeugung einer prinzipiellen Vorrangstellung der eigenen biologischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppe beruhen; er schließt also Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus oder Exzeptionalismus aus. Zudem beinhaltet er, dass alle Machtstrukturen ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen haben, sonst sind sie illegitim und somit zu beseitigen.
Aus dem universellen Humanismus ergibt sich also das spezifische Leitideal einer radikal-demokratischen Form einer Gesellschaft, in der ein jeder einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen hat, die die eigene ökonomische und gesellschaftliche Situation betreffen; er schließt also Gesellschaftsformen aus, die auf einer Elitenherrschaft oder auf einem Führerprinzip beruhen. Diese in der Aufklärung erstmals klar formulierten Leitideale sind seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert worden und stellen den Identitätskern des linken Projektes dar.
Da diese Leitideale gewaltige politische Konsequenzen haben, wurden sie seit je auf das schärfste bekämpft; historisch war das der Kern der sogenannten Gegenaufklärung, der es wesentlich um die Wahrung des jeweiligen Status quo ging. Die Behauptung, eine Links-Rechts-Unterscheidung hätte sich historisch überlebt, würde also letztlich beinhalten, dass sich die Leitideen einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen und einer ernsthaften demokratischen Gesellschaftsorganisation überholt hätten – eine These, die natürlich gerne von denen vertreten wird, deren Macht gerade auf rassistischen, chauvinistischen, nationalistischen oder exzeptionalistischen Ideologien basiert.
Wenn, wie Sie sagen, links und rechts gesellschaftliche und politische Gegenpole bilden, wie kann es dann eine Querfront geben und wie können Linke tatsächlich oder vermeintlich „rechts-offen“ sein? Oder stellen diese Begriffe auch nur Propaganda dar, um Linke zu diskreditieren? Wenn ja, was sind dann die Gründe hierfür?
In der Sache sind links und rechts in der Tat Gegenpole und können daher in der Substanz so wenig Berührungspunkte miteinander haben wie Aufklärung und Gegenaufklärung oder wie Demokratie und Elitenherrschaft. Blickt man jedoch statt auf die Sache auf die Ebene einzelner Personen oder auf die Ebene konkreter politischer Gruppierungen, die sich als links bezeichnen, so lassen sich aus naheliegenden Gründen alle möglichen Konstellationen von Haltungen finden, die in der Sache völlig unvereinbar miteinander sind.
Das war auch zur Zeit der Aufklärung nicht anders. Beispielsweise gilt der große schottische Philosoph David Hume als zur Aufklärung gehörig; gleichwohl sah er Schwarze „von Natur aus den Weißen unterlegen“ an, vertrat also rassistische Auffassungen. Auf der Ebene einzelner Personen können also Überzeugungen gleichzeitig nebeneinander bestehen, die in der Sache völlig unverträglich miteinander sind. Das ist eine Konsequenz unserer beschränkten Rationalität und anderer Eigenschaften unseres Geistes. Wir sind oft nicht in der Lage zu erkennen, dass einige unserer Überzeugungen in der Sache miteinander unverträglich sind. Beispielsweise können uns bestimmte Affekte daran hindern, derartige Unverträglichkeiten zu bemerken.
So war Hume einerseits von den Leitidealen der Aufklärung fasziniert; zugleich vertrat er – weil er eine mögliche Gefährdung seiner eigenen privilegierten Lebensform fürchtete – ein gesellschaftliches Weltbild, das die damalige gesellschaftliche und kolonialistische Praxis rechtfertigte. Doch auch unter denjenigen, die sich aufrichtig und konsequent der radikalen Aufklärung und den genannten Leitidealen verpflichtet fühlten, fanden sich zahlreiche, die Bedenken hatten, das Volk über diese Leitdeale aufzuklären, weil sie fürchteten, durch den dadurch möglicherweise ausgelösten gesellschaftlichen Transformationsprozess Nachteile hinsichtlich ihres privilegierten Status quo zu erleiden. Erst kommt bei den Privilegierten eben die Sicherung des eigenen gesellschaftlichen Status quo, dann kommt die Moral.
Wir müssen also die sachliche Ebene moralischer und politischer Leitideale klar von einer personellen Ebene trennen. Man wird dann auch innerhalb von Organisationsformen, die sich als links verstehen, Personen finden, die Überzeugungen vertreten, die den genannten Leitidealen widersprechen. Es gibt also Personen, die sich als links bezeichnen und gleichwohl chauvinistische, nationalistische oder kulturell-rassistische Positionen vertreten und ideologische Prämissen von Kapitalismus, Neoliberalismus, Neo-Imperialismus und ähnliches teilen. Das wird umso stärker der Fall sein, je stärker Personen in ihrem gesellschaftlichen Status und in ihren Privilegien von der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung profitieren. In solchen Fällen neigen dann auch sich als links verstehende Personen dazu, die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zu akzeptieren und eine linke Perspektive auf moderate Reformen an den jeweiligen Verhältnissen zu beschränken.
Noch einmal: In der Sache kann es im Kern keine Berührungspunkte zwischen links und rechts geben; auf der Ebene individueller Personen und Gruppierungen ist jedoch so ziemlich alles an Kombinationen politischer Einstellungen möglich. Auch hier bedarf es einer kontinuierlichen Aufklärungsarbeit, um die Unverträglichkeiten bestimmter politischer Überzeugungen mit den Leitidealen der Aufklärung und somit mit dem Kern des linken Projektes aufzuzeigen.
Warum aber wird gerade jetzt die Linke so durch Vorwürfe wie Querfront oder rechts-offen unter Beschuss genommen? Ich habe alles andere als den Eindruck, dass alle hier Angefeindeten wirklich rechts, geschweige denn eine Bedrohung für gesellschaftliche Werte oder Demokratie darstellen. Ganz im Gegenteil scheint es hier oft eine unglaublich aufgeladene Debatte zu geben, die, wie mir scheinen will, radikale Kritik, ja, wenn ich so sagen darf, zunehmend totzuschlagen versucht…
Auch an der Linken ging die tiefgreifende neoliberale Indoktrination mit ihrer ideologischen Kernthese der Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse, gelinde gesagt, nicht spurlos vorüber. Diese Ideologie wurde gleichsam zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, da offensichtlich auch in der Linken der Denkraum möglicher Alternativen radikal schrumpfte und ihre Anliegen zunehmend zu einer reformistischen Perspektive verkümmerten.
Je stärker sie sich im Rahmen des gegenwärtigen neoliberalen Konsenses weniger als Opposition, sondern eher als mitgestaltende politische Kraft versteht oder verstehen möchte, umso mehr ist sie in Gefahr, dem Irrglauben zu erliegen, soziale Reformen könnten gleichsam symbiotisch im Konsens mit den herrschenden Eliten durchgesetzt werden.
Wir sollten stets in Erinnerung behalten, dass es gerade reformistisch-sozialistische und sozialdemokratische Parteien waren und sind, die in Europa das neoliberale Projekt am konsequentesten vorangetrieben und rechtlich verankert haben. Die notwendigen Konsequenzen daraus lassen sich nur ziehen, wenn die Ursachen für das Scheitern der – oft zunächst sehr vielversprechenden – linken Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte unter diesem Aspekt sehr viel genauer analysiert würden.
Zu Ihrer Frage, warum die Linke gegenwärtig einen so heftigen Selbstzersetzungsprozeß betreibt, kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Lange historische Erfahrungen lehren uns ja, dass die Linke naturgemäß – da sie ja gerade auf eine Delegitimierung von Machteliten zielt – seit je im Zentrum von Zersetzungsbemühungen durch die jeweils herrschenden Eliten steht, die stets großen Aufwand betrieben haben, linke Bewegungen und überhaupt alle politischen Organisationen der Verlierer der jeweils herrschenden Ordnung zu spalten, auszuzehren und zu neutralisieren.
Insofern sind die neueren „Querfront-Attacken“ nicht sonderlich überraschend. Interessant ist jedoch, dass diese Attacken zu einem Zeitpunkt an Intensität zugenommen haben, an dem weite Teile der politisch organisierten Linken sich in einer reformistisch-symbiotischen Beziehung zu den herrschenden Machtverhältnissen eingerichtet haben.
Dadurch ist die Linke mehr als zu früheren Zeiten mit einem tiefgehenden Identitätsproblem konfrontiert. Gerade Gruppierungen, die ihre Ziele auf das beschränken, was auf reformistisch-symbiotischem Wege als erreichbar angesehen wird, haben ihre Leitideale und damit ihre eigenen Wurzeln verloren. Nur zur Erinnerung: Ein universeller Humanismus und das sich daraus ergebende Leitideal einer gerechten und menschwürdigen demokratischen Gesellschaft sind mit einer kapitalistischen Wirtschaftsform nicht verträglich. Demokratie in einem ernsthaften Sinne und Kapitalismus schließen sich aus.
Parteien im linken Teil des politischen Spektrums erfüllen jedoch für die herrschenden Eliten eine wichtige Stabilisierungsfunktion. Nur sie können die Verlierer der herrschenden Wirtschaftsordnung, deren Interessen sie ja zu vertreten vorgeben, in einen politischen Konsens einbinden, wodurch der Status der herrschenden Eliten stabilisiert wird. Dafür werden ihre Vertreter dann mit geeigneten Privilegien und mit einem Platz an den Katzentischen im Palais der Machteliten belohnt. Damit die Parteien diese Pazifizierungsfunktion für die Klasse, deren Interessen zu vertreten sie vorgibt, erfüllen können, muß natürlich sichergestellt werden, dass in ihnen nicht Kräfte Einfluß gewinnen, die sich tatsächlich für die Interessen der Bevölkerung einsetzen – also für eine gerechtere und wirklich demokratische Gesellschaft.
Für die Neutralisierung der Vertreter ernsthaft linker Positionen sind Ausgrenzungskriterien wichtig, die für die Öffentlichkeit zumindest vordergründig eine gewisse Plausibilität haben. In der Sache ist der Spielraum für solche Ausgrenzungskriterien sehr beschränkt und reicht kaum darüber hinaus, die genannten Leitideale als utopisch, unrealistisch oder weltfremd zu diffamieren. Eine solche Diffamierung ist bereits eine recht wirksame Methode, den öffentlichen Denkbereich auf „vernünftige“, also systemstabilisierende Ziele zu begrenzen. Sehr viel wirksamer läßt sich jedoch eine Ausgrenzung und Ächtung radikalerer Positionen aus diesem Spektrum dadurch erreichen, dass man auf die persönliche Ebene wechselt und Vertreter solcher Positionen, die Spielraum für solche Angriffe bieten könnten, durch Diffamierungen, Anspielungen, üble Nachrede, Gerüchte, Verleumdungen oder Rufmord zu diskreditieren sucht.
Es ist daher besonders erhellend zu untersuchen, von wem diese Attacken ausgehen und gegen wen sie sich richten. Die Systematik hierbei scheint recht offenkundig zu sein: Die „Querfront“- und „Rechtsoffen“-Vorwürfe gehen fast stets von Vertretern der reformistischen „system-offenen“ Linken aus und richten sich überwiegend gegen Personen, die in ernsthafter Weise gegenwärtige Machtverhältnisse hinterfragen und sich für eine gerechtere und wirklich demokratische Gesellschaft einsetzen. Denn diese Personen gefährden nicht nur die Erfüllung der systemstabilisierenden Funktion der reformistisch-symbiotischen Linken, sondern erinnern diese auf psychologischer Ebene auch immer wieder an deren Verrat ihrer eigenen Leitideale. Das erklärt vielleicht die Verbindung von Aggressivität, intellektueller Dürftigkeit und Verworrenheit und moralischer Heuchelei, die ein charakteristisches Merkmal solcher Kampagnen ist.
Es gibt Themen, bei denen sich Kritik von links und Kritik von rechts auf vordergründig gleiche Ziele richtet: etwa Medien, die Rolle der EU oder die Rolle der USA. Was bedeutet das? Kann es dafür Gründe etwa strategischer Art geben? Wie geht man damit um? Wird durch vordergründig gleiche Ziele linke Kritik plötzlich rechts?
Auch hier muß man wieder, bevor man eine Antwort zu geben versucht, untersuchen, was eigentlich die Frage ist und welche stillschweigenden Prämissen in ihr verborgen sind. Wir neigen nämlich von Natur aus dazu, in unserem Denken dem Banne des Wortes zu erliegen. Das gilt im politischen Bereich noch viel mehr und stellt geradezu die Grundlage von Propaganda dar.
Wenn wir Wörter oder Wortverbindungen wie „Kampf um Demokratie und Menschenrechte“ oder „humanitäre Intervention“ hören, fällt es uns manchmal schwer, das tatsächlich damit Gemeinte hinter der Oberfläche der Wörter zu identifizieren. Wir sind also im politischen Bereich stets darauf angewiesen, bei allen Begriffen die ideologischen Vorannahmen und Prämissen zu identifizieren, die mit ihnen einhergehen. Ohne eine solche gedankliche Arbeit laufen wir Gefahr, dem bloßen Wortgeklingel zum Opfer zu fallen. Das gilt auch für die Frage, ob es ernsthafte, gemeinsame Ziele zwischen linken und rechten Perspektiven geben kann.
Wenn wir von rechter Seite Wörter wie „Medienkritik“ oder „Kritik der EU“ oder „anti-imperialistische Kritik der USA“ vernehmen, sind wir versucht zu meinen, dass die Art der Kritik und die Art des Zieles, auf das sie sich richtet, möglicherweise mit linken Anliegen übereinstimmen könnte. Es lässt sich jedoch leicht aufzeigen, dass aus linker Perspektive darunter jeweils etwas grundlegend Anderes zu verstehen ist als aus rechter Perspektive.
Es ist nämlich konstitutiv für die rechte Perspektive, dass sie das normative Ideal einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen mit all seinen Implikationen rigoros zurückweist und eine radikal nationalistische, chauvinistische und rassistische Haltung – ihr Rassismus tarnt sich nur dürftig durch ihr Konzept des „Ethnopluralismus“ – vertritt. Ihr Gesellschaftsideal ist das einer kulturell homogenen und hierarchisch-elitär organisierten Volksgemeinschaft, in die sich der Einzelne einzufügen und der er sich unterzuordnen habe. Ihr Hauptgegner ist folglich gerade die „Humanitätsideologie“ der Aufklärung und damit alles linke Gedankengut, das zu einer „weltanschaulichen Entwurzelung“ und zu einer Schwächung der „gewachsenen Ordnung der ethnischen Volksgemeinschaft“ und somit der „nationalen Identität“ geführt habe. Es kann also weder in den Zielen noch in den Mitteln Gemeinsamkeiten zwischen dem linken und dem rechten Projekt geben.
Auch auf einer rein strategischen Ebene der Erreichung gänzlich unstreitiger Ziele läßt sich angesichts der vollständigen Unverträglichkeit der Leitideale und Vorstellungen über gesellschaftliche Ziele keine Art der Kooperation rechtfertigen. Das ist eine Einsicht, die in der Linken in anderen Fällen einer grundlegenden Unverträglichkeit von Zielen völlig unstreitig wäre. Eine strategische Kooperation linker Bewegungen etwa mit Monsanto oder Nestlé, um gemeinsam gegen „den Hunger“ in der Welt zu kämpfen, oder etwa mit der Bill-Gates-Stiftung, um gemeinsam gegen „Gesundheitsprobleme“ in der Dritten Welt zu kämpfen, oder mit dem National Endowment for Democracy, um gemeinsam für „Demokratie“ zu kämpfen, ist kaum sinnvoller, als mit Bomben für „die Menschenrechte“ zu kämpfen.
Bereits die Idee solcher Kooperationen resultiert aus gedanklichen Verwirrungen und Konfusionen darüber, worum es wirklich geht. Es bleibt also Aufgabe des linken Projektes, im Einklang mit dessen Leitidealen seine eigenen Ziele zu verfolgen und sich dabei nicht durch scheinbare Gemeinsamkeit auf der Oberfläche der Wörter irreführen zu lassen.
Derartige Konfusionen werden jedoch auch innerhalb der Linken gezielt vonseiten einer reformistischen „system-offenen“ Linken gefördert, um Kritikbereiche, in denen eine grundlegende Kritik die Stabilität der herrschenden Eliten gefährden könnte, aus dem Bereich “vernünftiger“ und “verantwortlicher“ Positionen auszugrenzen.
Was täte politisch Ihrer Meinung nach am meisten Not? Was stünde, im Kampf gegen den Neoliberalismus und das durch diesen forcierte Ende der Demokratie, Ihrer Meinung nach gerade als Wichtigstes auf der politischen Agenda?
Der Neoliberalismus zielt ja darauf, uns im Denken und Fühlen zu entmündigen und uns so – möglichst ohne sichtbare Gewalt – für die Interessen herrschender Eliten zu verzwecken, also verwertbar zu machen. Folglich muß unsere vorrangige Aufgabe darin bestehen, Autonomie zurückzugewinnen – Autonomie im Denken und Autonomie im Fühlen. Nur so können wir auch wieder Spielräume für eine Autonomie im Handeln und damit für eine Verfolgung unserer eigenen gesellschaftlichen Interessen gewinnen. Das wird nicht ohne kontinuierliche Denkarbeit möglich sein und auch nicht ohne ein größeres Zutrauen in unsere natürliche Befähigung zur Moralität, also zu Urteilen über Verletzungen elementarer moralischer Prinzipien, etwa über Verteilungsgerechtigkeit.
Die lange Geschichte des linken Projektes stellt uns klar formulierte gesellschaftliche Leitideale bereit, und es gibt keine stichhaltigen Gründe, dass eine Annäherung an diese Leitideale außerhalb dessen läge, was dem Menschen aufgrund der Beschaffenheit seines Geistes möglich ist. Wenn wir uns diese Leitideale und Zielvorstellungen wieder stärker in Erinnerung rufen, können sie uns wieder Hoffnung geben, dass die Dinge änderbar sind und auch wieder stärker die Begeisterung und Leidenschaft auslösen, die nötig ist, um beständig für ihr Erreichen zu kämpfen. Die vorrangige Aufgabe sehe ich dabei darin, die mittlerweile verheerende gesellschaftliche Fragmentierung und die mit ihr einhergehende politische Lethargie zu überwinden und aufzuzeigen, dass es gangbare Wege gibt, die vom jetzigen Zustand zu einem wünschenswerteren gesellschaftlichen Zustand führen können.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Rainer Mausfeld, geboren 1949, studierte Psychologie, Mathematik und Philosophie in Bonn. Er ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung.
Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.
29. August 2016
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