Die Nachbarschaft beginnt im Haus

Es ist ein seltsamer Auswuchs des modernen Stadtlebens, nicht zu wissen, wer in der Wohnung nebenan ein- und ausgeht. «Wir alle fanden diese Anonymität grässlich», erzählt Stephan Schmidlin, ein 62-jähriger Lehrer, der mit seiner Partnerin Theres als Mieter in einem alten Haus im Berner Länggass-Quartier wohnt. Mit vier weiteren Parteien haben sie sich vor einem Jahr zu einer lockeren Hausgemeinschaft zusammengeschlossen. Was zeichnet sie aus? «Die gute Stimmung.» Das war nicht immer so im Haus – ein ewiger Streit unter den beiden Besitzerinnen vergiftete das Klima, bis eine der beiden das Haus alleine übernahm. Theres und Stephan hatten sich bereits vorher um mehr Gemeinschaft bemüht, waren aber entweder mit häufig wechselnden Bewohnern konfrontiert oder auf verschlossene Türen gestossen. «Eine gewisse Beständigkeit ist nötig, um sich miteinander einzurichten.» Man muss sich nicht einmal besonders ähnlich sein. Im Haus wohnen fünf Parteien, vier Paare und eine Familie, die meisten links und grün, aber auch ein dezidierter Rechtswähler. «Da gibt’s immer wieder Diskussionen, aber das ist kein Grund, nicht miteinander Feste zu feiern oder einander zu helfen.»

In dieser Hausgemeinschaft haben die Bewohner ein Gleichgewicht zwischen Nähe und Anonymität gefunden. Neben Festen im Garten und Apéros an Feiertagen organisieren sich die Bewohnerinnen auch im Alltag gemeinsam. Sie haben beispielsweise einen informellen Kinder-Hütedienst gegründet und beim Hauseingang eine Mediothek eingerichtet. Wer verreist, lässt seine Katzen und Pflanzen in der Obhut der Nachbarn. «Niemand hat sich bisher in seiner Privatsphäre gestört gefühlt – im Gegenteil, wir sind daran, uns noch weiter zu öffnen.»


Weitere spannenden Geschichten, Beispiele und interessante Essays zum Thema «Nachbarschaft» im nächsten Zeitpunkt Ende April.

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20. April 2011
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