Ein neues Wir

Wie es entstehen kann. Reflexionen

Die Gemeinschaft, nicht die Kleinfamilie, ist die ursprüngliche Heimat des Menschen. Vertrauensgemeinschaften sind kein Jugendtraum, sie sind der nächste Schritt der Evolution. Anders gesagt: Solange der moderne Mensch in Single-Haushalten vereinsamt, ist er den Grosssystemen ausgeliefert. Doch wenn er sich in zeitgemässen Gemeinschaften zusammenschliesst, wenn er lernt, untereinander Vertrauen, Solidarität und Wahrheit zu erzeugen, wird er autonom und selbständig. So kann mensch ein Gegengewicht zum globalen Kapitalismus schaffen.

In den Widerstandscamps auf der Wall Street, in Madrid oder Kairo erlebten junge Menschen das Wunder der Gemeinschaft. Sie erkannten, dass ihre Probleme nicht privat waren, schlossen sich zusammen, fanden gemeinsam Lösungen. Sie erfanden Kommunikationsformen und demokratische Spielregeln, teilten Essen und Gedanken, entwarfen Aktionen, erwarben Wissen, spürten Liebe, fühlten sich verstanden. Alles schien möglich! Kaum jemand wollte mehr nach Hause. Das war das eigentliche Leben, sie wollten es nie wieder verlassen.
Sie hatten Gold entdeckt – aber dann rann es ihnen durch die Finger wie Sand. Wenn endlose Diskussionen um Banalitäten kreisten und das Wesentliche nicht mehr angesprochen wurde; wenn eine schweigende Mehrheit entstand und andere endlos argumentierten – dann war das ganze ermüdende Zahnrad der Konkurrenzgesellschaft wieder eingerastet. Es war eine bittere Erkenntnis: Die Gemeinschaft war sich so lange einig, wie man sich gegen einen gemeinsamen Gegner verbünden konnte. Es fehlten Erfahrung und Wissen, auch ohne Abgrenzung, ohne Feindbild dauerhafte Gemeinschaft zu erzeugen. So zerbrach der Traum – und zwar meistens bevor die Polizei oder die Armee die Camps räumten.
Dies ist kein Wunder. Das vorherrschende Feld heisst immer noch: «Tu es besser allein.» Konkurrenz, Abgrenzung und Gegeneinander bestimmen Politik, Wirtschaft und Alltag bis in unsere seelische Innenwelt hinein. So wurden die meisten von uns konditioniert – und so bringen wir die Erde in den Ruin, wenn wir uns nicht ändern. Denn ohne das authentische Empfinden von Ganzheit und Gemeinsamkeit, ohne zu spüren, was uns verbindet, ohne diese «unsichtbare Substanz der Zugehörigkeit» (Albert Bates, Mitgründer von «The Farm») werden wir nicht in der Lage sein, gemeinsam, rasch und effektiv auf eine sich immer schneller verändernde Welt zu reagieren. Die meisten innovativen Projekte und Initiativen gehen nicht an äusseren Bedrohungen zugrunde, sondern an inneren Zerwürfnissen – an Machtkämpfen, Heimlichtuerei oder Eifersucht. Damit die «andere Welt», von der wir träumen, wirklich entsteht, brauchen wir ein neues gesellschaftliches Feld: Gemeinschaften des Vertrauens als Selbstverständlichkeit.

Gemeinschaftsbildung liegt uns sozusagen in den Zellen. Die Geschichte der Evolution ist voll von Kooperationen und Krisenmanagement durch Teambildung. Es begann schon bei den urzeitlichen Einzellern, die unter Stressbedingungen dazu übergingen, einen gemeinsamen Organismus zu bilden: den Schleimpilz. Einzelne, bisher konkurrierende Lebewesen wurden zu Organen eines Organismus, verständigten sich mit den anderen Organen über ihre Aufgabe und – überlebten. Das Rezept heisst: Wirkt zusammen – oder geht unter! Der Biologe Bruce Lipton sagt: «Würden die Zellen eines Körpers so in Konkurrenz und Misstrauen leben wie die Menschen untereinander, würde er fast sofort auseinander fallen.»
Überleben bedeutet, zusammen zu leben. Überleben braucht die Fähigkeit, die Anderen (Menschen, Tiere, Pflanzen, alles Lebendige) als Verwandte anzuerkennen und – auch wenn sie noch so anders denken, aussehen oder riechen – als Teil desselben Ganzen zu sehen. Diese Fähigkeit ist der globale Imperativ, den die Erde gerade den Menschen aufträgt: Lernt wieder, miteinander zu leben! Bildet Gemeinschaften!

Leider weckt heute schon allein das Wort «Gemeinschaft» bei vielen ungute Gefühle. Man denkt an Gruppen, die sich nach aussen abgrenzen, die gleiche Kleidung und die gleiche Sprache benutzen, wo Gemeinschaftsgefühl dadurch entsteht, dass man sich über andere erhebt. Stammtische und Fussballstadien sind da noch harmlose Beispiele. Unterschiede werden unterdrückt, Individualität geleugnet, man fühlt sich stark allein dadurch, dass man Hass und Häme auf «die Anderen» lenkt: meist eine andere Volksgruppe, Religion oder das andere Geschlecht. In diesen homogenisierten Zusammenschlüssen versteckt sich der Einzelne in der Menge, Hemmschwellen für Gewalttaten sinken. Und wenn ein Führer oder Guru da ist, braucht man nicht mal mehr selbst zu denken. Wilhelm Reich nannte das die «Massenpsychologie des Faschismus». Viele zogen daraus die Schlussfolgerung: Gemeinschaft? Nein danke! Lieber auf die eigene Kraft setzen. Dabei zeigt das Phänomen vor allem eins: wie stark die Sehnsucht und gleichzeitig auch die Unfähigkeit ist, sich mit anderen Menschen zusammenzutun.
Wie viele seelische und körperliche Defekte sind durch diesen Verlust, diesen Mangel an Miteinander zu erklären. Der Single-Mensch ist ein Produkt der modernen Industriegesellschaft – der Manipulation, Meinungs- und Angstmache ausgeliefert, denn ihm fehlen Mittel, um den eigenen Standpunkt zu finden.

Wie erhalten Gemeinschaften Dauer? Das Vorbild von Zukunftsgemeinschaften ist das Biotop, nicht die Herde oder die Armee. Zukunftsgemeinschaften leben nicht von Gleichmacherei, sondern von ausgeprägter Individualität und Vielfalt. Wir müssen in unseren Gemeinschaften genug Platz für die Entwicklung des Einzelnen lassen, genügend Zeit für das Allein-Sein und für das gegenseitige Erkennen: Wir werden sehen, dass Unterschiede und Vielfalt unsere Gemeinschaft bereichern. Wir werden auch den Unterschied zwischen dem Ich und dem Ego erkennen: Während das Ego trennt, ist das Ich immer etwas, das verbindet.
Es gibt keine funktionierende Gemeinschaft ohne Individualität. Umgekehrt gibt es keine Individualität ohne Gemeinschaft: Wir entwickeln sie nicht allein im Kämmerlein, wir brauchen Kontakt, Feedback, Reibung, um zu erkennen, wer wir sind und ein Gefühl für unsere Stärken und Schwächen zu bekommen. Die Gemeinschaft kann ein Schutzraum sein, unsere persönliche Wahrheit zu erkennen und auszusprechen.
In keiner Gemeinschaft werden sich die Mitglieder immer sympathisch sein. Es ist wie bei einer Partnerschaft: Wenn die erste Verliebtheit abflaut und die Projektionen bröckeln, müssen wir entscheiden, ob wir auseinandergehen oder etwas finden, das stärker ist als momentane Sympathie oder Antipathie. Im I-Ging steht: «Nicht Sonderwerke des Ichs, sondern Menschheitsziele rufen dauerhafte Gemeinschaft hervor.» Globale Anteilnahme und ein gemeinsames Ziel, mit dem sich seine Mitglieder stark verbinden können, sind essentiell. Unter den Mitgliedern wächst ein starkes Band, wenn sie merken, dass sie sich in Bezug auf das gemeinsame Ziel ergänzen und aufeinander verlassen können.

Vertrauen entsteht durch Transparenz. Es entsteht, wenn man im Innersten gesehen wird und den anderen sieht. Und das geschieht, weil man sich selbst zeigt. Es ist erstaunlich, was für eine Last von einem fällt, wenn man weiss: Ich muss keine Angst vor heimlicher Verurteilung haben, die anderen werden mir sagen, wenn sie etwas an mir nicht mögen. Statt heimliches Gerede braucht jede Gemeinschaft Formen, die ihren «Untergrund» sichtbar machen – all das, was man so gerne höflich verschweigen und verdrängen würde, was aber das Klima vergiftet, wenn es nicht ausgeräumt wird. Dieser Austausch sollte von Humor, Wohlwollen und menschlichem Wissen getragen sein. Eine freie Aussprache, bei der man keine ängstlichen oder wütenden Reaktionen zu befürchten hat, ist erlösend für jede Gemeinschaft.
Und: Jede Gemeinschaft ist nur so gut, wie sie es schafft, das Weibliche und das Männliche als polare Kräfte zu ehren. Weitblick, Zielstrebigkeit, Rationalität, Theorie, Tatkraft – egal ob von Männern und Frauen vertreten – sind ebenso wichtig wie Fürsorge, Empathie, Anteilnahme, Pragmatismus, Zuhören-Können.

Das Vorbild der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung ist nicht mehr die Pyramide, sondern der Kreis. Der nordamerikanische Indianer Manitonquat schreibt: «In einem Kreis ist jeder ein Führender. Das heisst, dass jeder die Verantwortung für den ganzen Kreis übernimmt.» Ohne partizipative Entscheidungsprozesse, in der alle Stimmen gehört werden, entsteht keine Gemeinschaft. Letztlich sollten Entscheidungen von denen getroffen werden, die bereit sind, Verantwortung zu tragen.


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19. September 2016
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