Eine Reise hinter den Eisernen Vorhang
April 1974: Ich reise mit meinem Mitbewohner Alexander ins sozialistische Bulgarien - und schlage mich allein durch ein fremdes Land. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 73.
Alexander, einer meiner Mitbewohner in der Waldegg, der Grafiker, dessen subversive, rasch dahingeworfene Karikaturen grosses künstlerisches Talent offenbarten, der aber zuwenig ehrgeizig war, um etwas daraus zu machen, sondern lieber in den Tag hinein schlief – Alexander war schwer verliebt. Aber nicht in ein Mädchen aus Zürich, sondern in Elena. Elena jedoch lebte, fast unerreichbar weit weg in Bulgarien, hinter dem Eisernen Vorhang. Und ein Land im kommunistischen Ostblock war damals so weit entfernt wie ein anderer Kontinent.
Mein schwärmerischer Mitkommunarde hatte Elena über eine Brieffreundschaft näher kennengelernt, so wie man sich heute über eine Partnerwahlseite begegnen kann. Als sie ihm dann ein Bild von sich schickte, war es um ihn geschehen. Er redete nur noch von Elena, und er schmuggelte sie in alle seine Karikaturen und Skizzen. Überall tauchte die schöne Bulgarin auf. Alexander musste sie unbedingt endlich sehen.
Er beschloss, sie zu besuchen, und da ich mein Intermezzo an der Juventus-Schule beendet hatte, entschied ich mich spontan, mit ihm zu gehen. Die Gelegenheit, zum erstenmal einen realsozialistischen Staat zu bereisen, durfte ich nicht verpassen. Mit der Zürcher Monatszeitung «konzept» vereinbarte ich einen Reisebericht nach meiner Rückkehr – und dann, eines Tages im April 1974 flogen Alexander und ich mit der Balkan Bulgarian Airlines nach Sofia, in die bulgarische Hauptstadt.
Elena erwartete uns am Flughafen, und sie war wirklich so wunderschön wie auf dem Foto, das Alexander von ihr besass. Mit etwas zwiespältigen Gefühlen musste ich zusehen, wie sich die beiden, obwohl sie sich das erstemal gegenüberstanden, verliebt und glücklich umarmten. Auf mich wartete keine Elena, und die Aussicht, in den folgenden Tagen fünftes Rad am Wagen zu sein, missfiel mir vom ersten Augenblick an.
Elena hatte sich ausgedacht, uns ihr Land von seiner touristischsten Seite zu zeigen. Wir bestiegen deshalb mit ihr einen Bus und erreichten am Abend, nach drei Stunden Fahrt in die Berge Bulgariens, den Ort Pamporovo, auf 1700 m gelegen und noch immer verschneit bei unserer Ankunft. Heute einer der grössten Wintersportorte des Landes, war Pamporovo damals gerade im Aufbruch begriffen. «Kein richtiges Dorf», stellte ich im Tagebuch fest, «nur ein paar Hotelkästen treffen wir an, zum Teil noch im Bau wuchtig, pompös und vor allem für grosse Gruppen aus dem Ostblock gedacht. Individualtourismus ist nach wie vor unerwünscht – man will die Gäste an speziell präparierten Orten zusammenfassen, wo sie unter Kontrolle bleiben: Deshalb solche Hoteldörfer, auf den ersten Blick mit allem Komfort, aber billig und ohne Geschmack.»
In einem der neu erstellten Hotels hatte Elena mit sichtlichem Stolz zwei Zimmer für uns gebucht. Offenbar gehörte Pamporovo damals zum Besten, was Bulgarien zu bieten hatte.
Noch am selben Abend, nach dem Essen im halbleeren Restaurant, suchten wir die hoteleigene Diskothek auf. Im Tagebuch schrieb ich, nicht ohne milde zu lächeln:
«Der Nummer 1-Hit des griechischen Schlagersängers Demis Roussos, ‚Goodbye my love, goodbye‘, schallt durch den schummrig beleuchteten Raum, eine Lightshow blinkt, einige Pärchen tanzen oder schlürfen ihr Coca-Cola, ein Kellner bedient uns: So muss es in einem westeuropäischen Tanzclub am Anfang der 60er-Jahre gewesen sein. In Bulgarien ist es heute noch so. Überall, wo Touristen hingebracht werden, entstehen Vergnügungslokale im westlichen Stil. Benutzt werden sie vor allem von den jungen Bulgaren selbst. Verwöhnte Westtouristen sieht man hier bestimmt kaum. Und wären sie hier, dann würden sie sich mokieren über die westliche Nachtclubimitation.»
Alexander fiel das alles nicht auf. Er hatte nur Augen für Elena, und je später es wurde, umso näher kamen sie sich. Als ich mich gegen Mitternacht von ihnen verabschiedete, war mein Entschluss gefasst. Hier blieb ich nicht. An der Rezeption erkundigte ich mich nach dem ersten öffentlichen Bus, der Pamporovo am Morgen verliess. Frühmorgens packte ich, legte den beiden Verliebten eine Notiz vor die Tür und nahm den Bus ins erstbeste Dorf, das mich wieder näher an Sofia brachte. Es war der gleiche Weg, auf dem wir am Vorabend angereist waren, und einen Augenblick dachte ich: Fahre ich vor mir selber davon? Hätte ich noch eine Weile bleiben müssen, anstatt gleich die Flucht zu ergreifen? Doch wie schon so oft, war es auch diesmal: Fühlte ich mich gefangen, dann musste ich gehen. Auf der Stelle.
In Devin, nach einer Fahrt auf holprigen, gewundenen Strassen, war bereits Endstation. Hier musste ich auf die Weiterfahrt mit dem nächsten Bus warten. Kaum angekommen, machte ich eine für mich neue Erfahrung. Vom gleichgültig behandelten Touristen wurde ich zum neugierig beobachteten Fremden. «Sobald ich aussteige», schrieb ich im Tagebuch, «werde ich angestarrt. Dann folgt ein Getuschel, und man verfolgt genau, was ich tue. Die Menschen hier haben offenbar noch nie einen Reisenden aus dem Westen gesehen. Eine Unsicherheit überkommt mich. Ich fühle mich allein und verloren mitten in diesem Angestaunt-Werden und möchte nicht in diesem Nest kleben bleiben.»
Nach einer weiteren langen Fahrt durchs Gebirge, das ich vom Vortag noch in Erinnerung hatte, erreichte ich am späten Nachmittag Dospat. In meinem Reisebericht für das «konzept» schilderte ich meine Ankunft:
«Der letzte Bus zur nächsten Kleinstadt, nach Batak, ist abgefahren. Ich stehe auf dem Dorfplatz und weiss nicht weiter. Von den Dorfbewohnern, die in Gruppen herumstehen, werde ich verstohlen gemustert. Doch dann erscheint bereits ein junger Soldat und bedeutet mir, mitzukommen. Er führt mich ins Haus nebenan, wo hinter dem kleinen Schreibtisch ein beleibter Offizier thront, der Kommandant der im Dorf stationierten Einheit, vermute ich, mit verschwitztem Gesicht, die Mütze in den Nacken geschoben und im Begriff, ein uraltes Telefon zu bedienen.»
«Kaum stehe ich vor ihm, schieben sich zwei jüngere Männer in die Kommandatur: Sie begrüssen mich kaum und wollen sofort meinen Pass sehen. Wir können uns nur in Zeichensprache verständigen, doch immerhin wird mir klar, dass ich meine Reise, mindestens heute, nicht auf eigene Faust fortsetzen darf. Ich muss hier im Ort übernachten. So plötzlich, wie sie erschienen sind, verschwinden die beiden Männer auch wieder. Es sind die Dorfpolizisten, erfahre ich später, gleichzeitig aber auch die lokalen Politkommissare. Offenbar haben sie festgestellt, dass der junge Hippie mit seinem Rucksack kein Westagent ist.»
«Ich darf das Büro verlassen und trete ratlos ins Freie. Was nun? Da schiebt sich ein salopp gekleideter junger Mann durch die Herumstehenden und spricht mich an – auf französisch. Sofort schart sich die Menge um uns und verfolgt unser Gespräch voller Neugier. Der junge Mann stellt sich mir als Französischlehrer an der örtlichen Schule vor und scheint überglücklich zu sein, sein Französischwissen endlich einmal gebrauchen zu können. Den Dorfbewohnern gibt er klar zu erkennen, dass er mein Gastgeber sein wird. Denn als Einziger im Dorf kann er sich mit mir unterhalten, er allein kennt die nötigen Umgangsformen. Den ganzen Abend wird er mich nun begleiten, so dass im Dorf alle wissen: Emile – mit französischem ‚e‘ am Schluss – hat Besuch aus dem Westen.»
«Er, der Intellektuelle aus der Industriestadt Plovdiv, will nicht bloss als einfacher Dorflehrer gelten. Mehrmals erwähnt er mir gegenüber seinen vom Staat bewilligten Studienaufenthalt in Paris. Er zeigt mir Bilder, Adressen, Erinnerungen. Sein Französisch wird immer gewandter, je länger er mit mir spricht, seine Augen leuchten, wenn er mir beim Französisch reden behilflich sein kann. In seiner repräsentablen Wohnung spielt er mir französische Chansonniers vor, die bei uns in die Sparte der Schlagersänger gehören. Für ihn sind sie ein Stück Kultur aus dem von ihm so verehrten Frankreich.»
«Nachdem er für mich ein Zimmer im lokalen Hotel organisiert hat, darf ich in der Schule sein Klassenzimmer besichtigen, dessen erstaunlich moderne Ausstattung davon zeugt, dass im sozialistischen Bulgarien dem Bildungswesen grosse Bedeutung geschenkt wird. Unter Zuhilfenahme von Sprachlabor, Diaprojektor und Tonbandgerät führt mir Emile eine Unterrichtsstunde vor. Die technischen Hilfsmittel sind für ihn und für jede bulgarische Schule offenbar selbstverständlich – während wir in der Schweiz davon noch weit entfernt sind.»
Fast verschwörerisch erzählte mir der Französischlehrer aus Dospat von einem Freifach, das er in der Schule eingeführt hatte: Er unterrichtete interessierte Schüler in Esperanto. Die universelle Kunstsprache Esperanto ermöglicht es Menschen auch heute noch über alle sprachlichen Grenzen hinweg, sich zu verständigen. Für Bürger im Ostblock war sie damals eine zwar streng kontrollierte, aber geduldete Form der Kommunikation mit Menschen auch in westlichen Ländern.
«Mithilfe von Esperanto», beschrieb ich Emilies Engagement, «können die Schüler in seinen Klassen mit esperantokundigen Jugendlichen im Ausland korrespondieren. So kann er sie dabei unterstützen, den Anschluss an die heutige Zeit nicht zu verpassen. Entsprechend stolz sind die Schüler auf ihren weltmännischen Lehrer, der sie nun sogar mit einem Schweizer bekannt macht. Während mir Emile die Schule zeigt, werden wir von seinen Schülern begleitet, denn meine Anwesenheit hat sich herumgesprochen. Kaum jünger als ich, umringen sie mich, nehmen begierig auf, was ich sage und frage und wollen mit mir die Adressen tauschen.»
*
Meine Begegnung mit dem frankophonen Bulgaren war interessant und lehrreich für mich, und ich war dankbar für seine Gastfreundschaft. Trotzdem wurde ich nicht wirklich warm mit ihm. Das zeigte mir auch der letzte Eindruck, den ich von Emile gewann.
«Abends nimmt er mich mit ins Dorfzentrum, wo im Hinblick auf Lenins Geburtstag ein sowjetischer Spielfilm gezeigt wird. Halblaut übersetzt er laufend für mich, was im Film gesprochen wird. Damit stört er die anderen Zuschauer – was ihn aber nicht hindert, seinerseits autoritär Ruhe zu fordern, sobald andere Zuschauer flüstern oder leise lachen. Emile hat seinen grossen Tag – er kann sein Französisch, seine akademische Bildung, seine Fortschrittlichkeit beweisen. Als Städter in der Provinz hat er diese Selbstbestätigung offenbar nötig.»
Ich war wieder einmal sehr direkt mit meinem Urteil, aber ich glaube, dass ich das Richtige spürte. Nach dem Ende der Vorstellung wurde ich von Emile und seinen Schülern bis zum Hotel eskortiert, wo wir uns herzlich verabschiedeten. Am anderen Morgen war der Französischlehrer verhindert, weil er Prüfungen abnehmen musste. An seiner Stelle begleitete mich sein Kollege, der Deutschlehrer, vom Hotel zur Busstation. Auch er stammte aus Plovdiv, doch seine Einstellung war eine andere.
«Im Gegensatz zu Emile erklärt mir der Deutschlehrer offen, er habe sich abgefunden mit seinem Platz in der Provinz. Er werde im Dorf gebraucht, er habe hier eine Aufgabe. Auch ihm ist es ein Anliegen, seinen Schüler westliches Gedankengut näherzubringen, aber er will sie nicht von der westlichen Mentalität überzeugen. Der Deutschlehrer hat nicht die Gewandtheit von Emile, doch er wirkt auf mich menschlicher. Ich sehe ihn noch lange an der Bushaltestelle stehen und mir nachwinken.»
Auf der Weiterfahrt in Richtung Simitli machte ich mir Gedanken darüber, warum ich mit dem Französischlehrer keine Gemeinsamkeiten empfand. Ich wusste den Grund: Wir gingen in die entgegengesetzte Richtung. Während ich den kapitalistischen Westen immer kritischer sah und in Bulgarien den realen Sozialismus erleben wollte, empfand der bulgarische Intellektuelle den sozialistischen Staat, in dem er zu leben gezwungen war, als Hindernis seiner individuellen Entfaltung. Am liebsten wäre er wohl nach Paris emigriert. Ich bin sicher, dass der Französischlehrer aus Dospat 15 Jahre später, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, den erstbesten Flug in sein Land der Verheissung buchte. Heute würde ich ihn verstehen. Aber damals zog es mich in die andere Richtung. Ich brauchte ein utopisches Feuer, das mir die Welt, aus der ich stammte, nicht bieten konnte.
*
Ich fuhr mit dem Bus nach Batak, dann weiter bis Velingrad, dort nahm ich die Eisenbahn, die mich bummelnd von Ort zu Ort bis nach Raslog brachte, wo ich mir für die Passfahrt ins benachbarte Simitli ein Taxi gönnte, das so unglaublich billig war wie alles in diesem Land. In Simitli würde ich auf die grosse Hauptstrasse Richtung Sofia stossen. Dort, so vermutete ich, könnte es mit Autostopp klappen.
Ich hatte eine Karte bei mir und sah die Strasse nach Sofia. Aber ich sah auch, woher diese Strasse kam. Sie kam aus dem Süden. Und im Süden war Griechenland. Die Taxifahrt führte zunächst durch die bergige, mit Tannen bewaldete Gegend, die ich schon kannte. Überall lagen noch Reste von Schnee. Doch nach dem Erreichen der Passhöhe, auf dem Weg hinunter ins Tal änderte sich das Bild. Keine Tannen mehr, hellere Farben, eine wärmere Temperatur schufen eine südliche, meditterane Stimmung, die mir, wie ich im Tagebuch schrieb, «ungeheuren Auftrieb» verlieh. «Selten habe ich Kontraste so deutlich empfunden». Die Landschaft war wie verwandelt. Und auch in mir selber geschah etwas.
Gegen Abend in Simitli angekommen, wandte ich mich nicht gegen Norden. Ich nahm den Zug Richtung Süden. Nach Griechenland. Ich wollte plötzlich nur noch weg aus Bulgarien. Die Menschen waren mir wohlgesinnt, doch ich war ein Fremder für sie, und das spürte ich. Hinzu kam, dass ich allein war. Das verstärkte noch mein Gefühl, nicht dazuzugehören. Was ich jetzt brauchte, war etwas Vertrautes – und Griechenland, als westliches Land, war mir vertraut. Einmal sogar, mit meinen Eltern, war ich schon dort gewesen.
Noch 5 Tage blieben mir bis zum Rückflug aus Sofia zurück in die Schweiz – Zeit genug, um mich aufzuwärmen in Griechenland. «Im Zug nach Kulata, dem Grenzort, werde ich von den Passagieren einmal mehr mit Blicken und Fragen bedrängt. Ich verstehe ihre Neugier – doch jetzt bin ich müde. Es ist schon dunkel, als wir in Kulata ankommen, und ich habe nur einen Wunsch: So schnell wie möglich die Grenze zu überqueren. Erst dann kann ich aufatmen.»
Diese letzten Sätze zeugen davon, wie ernst es mir plötzlich war, den Eisernen Vorhang hinter mir lassen zu können. Ich ahnte nicht, welche Hürde mir noch bevorstand.
«Als einsamer Grenzgänger komme ich am bulgarischen Zoll an. Ich bin der Einzige, der zu dieser Stunde noch über die Grenze will. Touristen gibt es hier nur im Sommer, und Bulgaren, wenn sie keine Fernfahrer sind, dürfen nicht nach Griechenland reisen. Der Zollbeamte kontrolliert meinen Pass – und auf einmal schaut er mich prüfend an. Dann zeigt er auf ein Datum in meinem Ausweis. Das Ablaufdatum. Der Pass sei abgelaufen, gibt er mir schroff zu verstehen. Ich dürfe aus Bulgarien zwar ausreisen – aber nicht wieder einreisen.»
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