Es begann mit einer Lüge
Dass das erste Opfer des Krieges stets die Wahrheit ist – diese Weisheit firmiert seit Langem als geflügeltes Wort im deutschsprachigen Raum und ist durch vielerlei vortreffliche Recherchen, die ein trauriges Bild der Funktion unserer Massenmedien zu Kriegs- und Krisenzeiten zeichnen, belegt. Der Zeithistoriker und Konfliktforscher Kurt Gritsch bereichert Analyse sowie Kritik nun mit einem soeben erschienenen Buch, in dem er die Lügen des Westens sowie deren Wege durch die Medien aufdeckt. Jens Wernicke sprach mit ihm zu Kriegen, Kriegslügen, massenmedial verbreiteter Propaganda sowie zur Frage, wer uns zu Kriegszeiten wie und aus welchen Gründen belügt.
Herr Gritsch, soeben erschien Ihr neues Buch „Krieg um Kosovo: Geschichte, Hintergründe, Folgen“, mit dem Sie vielen neuzeitlichen Geschichtsmythen, die sich um den Kosovo-Krieg ranken, entgegentreten. Warum dieses Buch? Was war, was ist Ihre Intention?
Ich beschäftige mich seit 1999 als Historiker mit diesem Konflikt. Das vorliegende Buch enthält die Quintessenz dieser Forschung. Ich habe darin einerseits Texte vereint, die zuvor in Fachzeitschriften und Massenmedien erschienen sind, und andererseits die gesamte Thematik nochmals aktualisiert und letztlich auch in den breiteren Kontext von NATO-Osterweiterung sowie Ukraine- und Syrien-Konflikt gestellt. Denn das, was wir seit einigen Jahren erleben, ist eine Folge der NATO-Wandlung von Verteidigung zu Intervention, und das ist mit dem Kosovo-Krieg geschehen.
Sie schreiben im Buch, dass die Feuilletondiskussionen in FAZ, Süddeutscher, Zeit und Spiegel damals in hohem Ausmaß gesteuert waren, es also gezielte Bemühungen gab, Kriegszustimmung zu erheischen. Können Sie das denn belegen?
Ich habe dazu einerseits die Konfliktberichterstattung von FAZ, Süddeutscher, Zeit, Spiegel und taz im Krisenjahr 1998 bis vor Kriegsbeginn im März 1999 punktuell analysiert. Punktuell heißt, dass ich besonders wichtige Anlässe untersucht habe, wie zum Beispiel das Holbrooke-Milosevic-Abkommen sowie das mutmaßliche Massaker von Račak.
Andererseits habe ich die Feuilleton-Debatte in den fünf Zeitungen vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 quantitativ und qualitativ ausgewertet.
Und zu welchen Ergebnissen gelangten Sie dabei? Was fiel Ihnen auf?
Auffallend war, dass alle fünf untersuchten Zeitungen zu keinem Zeitpunkt deeskalierend berichtet haben, wie dies beispielsweise die UNESCO-Mediendeklaration von 1978 verlangt, sondern stattdessen ein militärisches Eingreifen der NATO forderten.
Dazu wurde offenbar sehr gezielt ein jugoslawisch-serbisches Feindbild aufgebaut, indem man an das negative Jugoslawien-Bild aus dem „Bosnien-Krieg“ anknüpfte.
So wurde Belgrad etwa unterstellt, im Kosovo würde mit einer „ethnischen Säuberung“ begonnen. Dazu wurde der von der PR-Agentur Ruder Finn bereits 1992 lancierte Vergleich Serben=Nazis aus dem Bosnien-Krieg reaktiviert, der schließlich in der Analogie Milosevic=Hitler kulminierte. Dieser Vergleich wurde dann vor allem 1999 während der Luftangriffe verwendet.
Die These der einseitigen serbischen „ethnischen Säuberung“ stammte damals ja von der NATO. UNO-Generalsekretär Kofi Annan vertrat sie nicht…
Das ist richtig. Annan hat von einem Bürgerkrieg gesprochen und nicht von einem einseitigen „serbischen Vertreibungs- und Vernichtungsprogramm“. Er hat auch wiederholt betont, dass Kosovo ein politisches Problem sei, das einer politischen Lösung bedürfe.
Aber die von mir untersuchten Medien sind auf diese Darstellung, die Annan auch mit Fakten belegte, entweder gar nicht erst eingegangen oder sie haben sie als unrealistisch dargestellt.
So wurde die UNO diskreditiert und die NATO als effizientere Lösungsorganisation porträtiert.
Diese Geringschätzung gegenüber der UNO stammt aus den USA, war damals unter den Transatlantikern weit verbreitet und speiste sich aus Ereignissen wie Ruanda oder Srebrenica, freilich ohne zu erwähnen, dass bestimmte Mitgliedsstaaten die UNO damals zuerst im Stich gelassen hatten.
So wurde die UNO ironischerweise schließlich gerade von den Medien jener Staaten, die zuvor ihre Autorität untergraben hatten, als impotent dargestellt.
Und diese Einseitigkeit, oder sagen wir: Kriegspropaganda, unserer Leitmedien, über die nun ja neuerdings wegen der Ukraine-Krise viel Kritik zu hören ist, wie haben Sie diese denn gemessen; wie analysiert? Aktuell gibt es ja etwa eine sehr hilfreiche bereits aufmerksam gemacht…
Ich habe eine Diskursanalyse erstellt, indem ich die Berichterstattung über bestimmte Ereignisse einerseits mit den verfügbaren Quellen von UNO und OSZE verglichen habe und sie andererseits auf semantische Felder hin untersucht habe.
Dabei fällt zum einen auf, dass die Berichterstattung an das negative Jugoslawien-Bild anknüpft, infolge dessen Slobodan Milosevic zum neuen Hitler wird. Zum anderen geht es innerhalb der Berichte mehr um bundesdeutsche Diskurse wie etwa die Frage nach militärischer Zurückhaltung, die Lehren aus der deutschen Geschichte oder die transatlantische Verankerung. Bezeichnenderweise fanden Friedensforscher, die den Konflikt differenziert dargestellt haben, jedoch kaum Gehör.
Vor allem aber ist auffällig, dass viele Berichte nicht dem journalistischen Grundverständnis folgen, wonach es mindestens zwei unterschiedliche Quellen braucht. Häufig wurden Einschätzungen der UNO, von Kofi Annan oder dem UNHCR ignoriert. Und jugoslawische Quellen sucht man meist vergebens. Das fiel damals sogar der deutschen Botschaft in Belgrad negativ auf…
Hätten Sie denn vielleicht zwei, drei konkrete Beispiele parat: Aus welcher Wirklichkeit wurde im Rahmen dieser Meinungsmanipulationen schließlich ein Propagandaprodukt? Welche Lügen wurden wie und von wem verbreitet? Und wozu?
Es gibt zahlreiche Beispiele in meinem Buch. Ich möchte hier nur mal drei davon nennen: Erstens das angebliche serbische Massaker in Orahovac Anfang August 1998, dann die einseitige Berichterstattung zum mutmaßlichen Massaker in Račak Mitte Januar 1999 und schließlich der sogenannte Hufeisen-Plan zur angeblich systematischen Vertreibung aller Kosovo-Albaner während des Luftkriegs 1999.
Was geschah da genau?
Erich Rathfelder hat in der taz anfangs August 1998 behauptet, Serben hätten in Orahovac ein Massaker angerichtet und dabei 567 Menschen ermordet, davon 430 Kinder. Was für eine Horrormeldung! Wer würde da nicht empört Konsequenzen fordern. Das Problem war nur, dass die Nachricht nicht stimmte. Dafür hat Rathfelder 1998 auch eine Rüge des österreichischen Presserates erhalten. Das besonders Perfide an der Orahovac-Geschichte war, dass kurz zuvor in Klecka, Glodjane und Ratis Massengräber mit insgesamt 47 ermordeten Serben gefunden worden waren, was prozentuell hochgerechnet auf die ethnische Verteilung fast der erfundenen Rathfelder-Zahl entspricht. Anstatt über die echten Massaker der UÇK zu berichten, beherrschte allerdings Desinformation die Titelseiten.
Ganz anders die Reaktion der deutschen Medien auf den Tod von 45 Albanern in Račak Mitte Januar 1999. Dort wurde nicht nur auf der Titelseite darüber berichtet, man übernahm auch unkritisch die bis heute nicht verifizierte These, dass es sich um ein Massaker handele. Zu dem Zeitpunkt hatte es noch nicht einmal eine Untersuchung der Todesfälle gegeben, nur der US-amerikanische Leiter der KVM-Mission in Kosovo, William Walker, hatte den Begriff verwendet. Doch nicht genug damit, dass hier Walkers Version übernommen wurde – man hätte zumindest von einem mutmaßlichen Massaker sprechen müssen -, die meisten Medien verknüpften damit auch gleich noch eine Handlungsaufforderung an die NATO nach dem Motto: Jetzt haben wir lange genug zugesehen, nun ist es Zeit, die „serbische Mordmaschinerie“ zu stoppen.
Über Massaker wurde also nur berichtet, wenn es sich um serbische Täter und albanische Opfer handelte? Warum diese Einseitigkeit?
Das hat mit der schon erwähnten transatlantischen Ausrichtung der Berichterstattung zu tun. Das verwendete Narrativ, das teilweise aus der Bosnien-Berichterstattung reaktiviert worden war, beschrieb „serbischen Staatsterrorismus“ zur Unterdrückung und Vertreibung der Albaner und die UÇK quasi als Selbstverteidigungsorganisation.
Matthias Rüb hat dazu in der FAZ Anfang März 1998 programmatisch und nicht ohne Häme geschrieben, die UÇK habe „den Menschen ihre Würde“ wiedergegeben und „den Serben die Angst, die sie über die Kosovo-Albaner brachten, wenigstens zum Teil und in gleicher Münze heimgezahlt“.
Von einem Bürgerkrieg mit Verbrechen auf beiden Seiten wollten viele deutsche Medien lange nicht viel wissen. Sonst hätten sie auch Scharpings Hufeisenplan nicht so unkritisch übernommen: Während des NATO-Angriffs präsentierte der deutsche Verteidigungsminister am 8. April den Medien einen angeblichen serbischen Plan, nach dem alle Albaner in einer hufeisenförmigen Operation aus dem Kosovo vertrieben werden sollten.
Aber es gab durchaus serbische Vertreibungen während des Kosovo-Krieges.
Ja, die gab es, die sind belegt und weder zu relativieren noch gar in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Aber die Vertreibungen sind als Folge des NATO-Angriffs zu sehen, nicht als Auslöser. Und Scharping hat etwas behauptet, wofür bis heute keine Beweise vorliegen.
Damals haben sich sogar die USA vom Hufeisen-Plan distanziert. Wesley Clark, immerhin NATO-Oberkommandierender in Europa und damit der höchste Militär im Kosovo-Krieg, hat zeitgleich zu Scharpings Behauptungen erklärt, von einem solchen Plan nichts zu wissen.
In Deutschland aber hat die Propagandalüge sogar bis ins Feuilleton hineingewirkt: Über die Hälfte aller Beiträge von Kriegsbefürwortern in allen fünf von mir untersuchten Zeitungen stammen aus der Zeit zwischen 8. April und 12. Mai, also aus den Folgewochen des „Hufeisenplans“.
Haben deutsche Medien nach Kriegsende denn jemals auf diese Einseitigkeit reagiert? Oder ging man einfach zur Tagesordnung über? Es handelt sich ja um teilweise schwere Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht…
Es gab einiges an Reflexion auf Journalistentagungen und vereinzelt wurde darüber auch berichtet. Aber eine weitreichende Aufarbeitung der teilweise strukturell und ideologisch bedingten Mängel in der Kosovo-Berichterstattung fehlt bis heute.
Zahlreiche Journalisten haben aber nach dem Kosovo-Krieg eingeräumt, dass es NATO-freundliche Berichte gegeben hat, darunter etwa Andreas Pawlouschek von der ARD, der verlauten ließ: „Ich bin immer wieder sehr überrascht, wie sehr wir uns haben missbrauchen lassen“. Ähnlich äußerten sich auch der Auslandschef beim Bayerischen Fernsehen, Peter Mezger, und Thomas von Mouillard, stellvertretender Chefredakteur der dpa. Mouillard etwa gab zu, durchaus manche Falschmeldung der Militärs übernommen zu haben. Man habe sich aber bereits nach wenigen Tagen von der Wortwahl distanziert – vom Inhalt sagte Mouillard jedoch nichts.
Bei diesen dreien handelt es sich aber doch um Einzelfälle – oder täuscht dieser Eindruck?
Er täuscht, das sind keineswegs Einzelfälle. Kritik an der journalistischen Arbeitsweise kam von vielen Seiten, zum Beispiel auch von Hermann Meyn, Bundesvorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes. Er hat schon wenige Tage nach Beginn der Bombardements die „Hetzsprache“ deutscher Zeitungen und fehlende Zurückhaltung in Bezug auf die Unsicherheit der Quellen kritisiert.
Und Franziska Hundseder, Bundesvorsitzende der Fachgruppe Journalismus der IG Medien, warf insbesondere den audiovisuellen Massenmedien schlampigen und unseriösen Journalismus vor. Völlig zu Recht wies sie darauf hin, dass während des Luftkrieges Aussagen von Flüchtlingen vielfach wie Tatsachen behandelt worden seien und erinnerte daran, dass jede Information mindestens zwei unterschiedliche Quellen haben muss.
Aber auch Ingolf-Wolfram Erler, Leiter der Auslandredaktion beim Südwestfunk, räumte Versäumnisse in der Kosovo-Berichterstattung ein, indem er auf die verschärften Arbeitsbedingungen des Journalismus hinwies, unter denen die Qualität leide.
Kuno Haberbusch, Redaktionsleiter des NDR-Magazins „Panorama“, hat dies ganz ähnlich gesehen und gefordert, weniger „Sprechblasen“ zu produzieren und stattdessen mehr Wert auf „sauberes Handwerk“ zu legen.
Und sogar Erich Follath vom Auslandsressort des Spiegels hat einseitige, NATO-freundliche Berichterstattung eingeräumt, auch wenn er diesen Umstand – den Fakten zum Trotz – für sein Magazin nicht gelten lassen wollte.
Und können Sie sagen, wie diese Einseitigkeit „organisiert“ worden ist? Wie gelangen Sie etwa zu jener Feststellung, die Sie dem Online-Magazin Telepolis im Interview kundgetan haben: „Im Nachrichtengeschäft geht es um Interessen, nicht um Wahrheit“?
Die NATO hat nicht aus humanitären Gründen oder gar aus Altruismus in den Kosovo-Konflikt eingegriffen. Letzteres sollte offensichtlich sein, wurde jedoch von vielen Kriegsbefürwortern ausgeblendet. Doch auch die behaupteten humanitären Motive waren nicht zutreffend. Mitte April 1999 sagte der NATO-Oberkommandierende Wesley Clark gegenüber der BBC, man habe die Operationen nach den Weisungen der politischen Führung ausgeführt, sie seien nicht geplant gewesen als Mittel, die ethnischen Säuberungen aufzuhalten.
Später hat Clark den wahren Grund für das Eingreifen genannt, indem er zugab, dass der Angriff ein entscheidender Präzedenzfall für das 21. Jahrhundert war: Die Out-of-Area-Strategie, die Wandlung der NATO vom Verteidigungsbündnis zur globalen Interventionsmacht, war bereits in den frühen 1990er Jahren vorbereitet und rechtzeitig zum 50. Geburtstag des Bündnisses umgesetzt worden.
Dazu haben auch Massenmedien ihren Beitrag geliefert, indem sie einerseits eine transatlantische Richtung verfolgten und dazu das negative Jugoslawien-Bild der frühen 1990er unkritisch reproduzierten, wobei sie einfach Bosnier als Opfer durch Albaner ersetzten.
Bezugnehmend auf muss man heute wohl annehmen, dass das von den Ressortleitern und Herausgebern kam, die in transatlantischen Think-Tanks saßen. Andererseits wurden die Medien aber auch von PR-Agenturen im Auftrag der herrschenden Eliten unterminiert.
Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Naja, NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark hat in seinem lesenswerten Buch „Waging Modern War. Bosnia, Kosovo, and the Future of Combat“ darauf hingewiesen, dass der NATO schon klar war, dass Berichterstatter „kontrolliert und notfalls korrigiert“ werden mussten. Und der Pressesprecher des Nordatlantischen Bündnisses, Jamie Shea, bekannte post bellum:
„Die Medienkampagne zu gewinnen, ist genauso wichtig, wie die militärische Kampagne für sich zu entscheiden.“
Entsprechend professionell war dann auch die Pressearbeit der NATO, insbesondere von Jamie Shea selbst, der erreichte, dass viele Medien NATO-Speak wie „Kollateralschaden“ – für nicht absichtsvoll getötete Menschen – ohne jeden Sinn für Sprach-, ja nicht einmal Fakten-Kritik übernommen haben. Als Kollateralschäden sind im Völkerrecht nämlich nur Dinge definiert, nicht Menschen, zum Beispiel, wenn eine Kaserne bombardiert wird und dabei unbeabsichtigt die Fenster des gegenüberliegenden Kaufhauses kaputt gehen.
Daneben waren PR-Agenturen wie die berüchtigte Ruder Finn, von der die Serben=Nazis-Kampagne im Auftrag der bosnischen Regierung um Izetbegovic von 1992 stammte, für die Kosovo-Albaner um Ibrahim Rugova in Anzeigenkampagnen und in der „Beratung“ von Politikern mit dem Ziel eines positiven Image-Buildings aktiv.
Aber auch Versuche der Bestechung und Einbindung von Journalisten, Informationskontrolle sowie das Timing von Ereignissen unter Gesichtspunkten der Medienwirksamkeit gehören zu den Aufgabenbereichen von PR. Konkret angesprochen wurden zwischen 1992 und 2002 relevante Kongressabgeordnete und politische Entscheidungsträger der US-Regierung sowie von internationalen Organisationen wie der UNO oder OSZE, internationale Medien, gesellschaftliche Multiplikatoren wie Think Tanks oder Akademiker und NGOs. Dies führte zu verstärkter Kriegspropaganda, zur Ökonomisierung der Diplomatie und zu einer zunehmenden Privatisierung der Außenpolitik.
Jörg Becker und Mira Beham haben das in ihrem Buch „Operation Balkan“ treffend beschrieben:
„Mit Hilfe dieser PR-Aktivitäten entstanden sich selbst verstärkende Informationskreisläufe, self fulfilling prophecies: Die PR-Agenturen schufen Ereignisse, über die berichtet wurde, und sie platzierten vorformulierte oder redaktionell betreute Artikel mit den entsprechenden Kernbotschaften in den Medien, um diese Berichterstattung dann wiederum als Info-Material in Press-Clippings an Medien und andere Zielgruppen zu verteilen.“
Ging es also um eine gezielte Manipulation zuallererst der Intellektuellen durch ebensolche?
Ich denke schon. Schaut man sich die Essays im Feuilleton und die Interviews an, die ich in meiner Studie analysiert habe, so waren beispielsweise in der FAZ 58 Prozent der Geisteseliten für den Angriff, 32 Prozent dagegen und 10 Prozent unentschlossen. Im Spiegel lag die Verteilung bei 55 Prozent pro, 20 Prozent contra und 25 Prozent skeptisch, in der Süddeutschen bei 46 Prozent pro, 42 Prozent contra und 12 Prozent skeptisch. In der Zeit herrschte mit 36 Prozent pro, 32 Prozent contra und 32 Prozent Skeptikern eine ausgeglichene, wenngleich keinesfalls ausgewogene Verteilung der Meinungen vor. Feuilletonleser mussten somit den Eindruck gewinnen, die Mehrzahl der Intellektuellen stünde hinter der Militärintervention der NATO.
War das denn nicht auch so?
Nein, das stimmte eben nicht. Ich habe dann nämlich zusätzlich zur Auswertung der Feuilletondebatte noch alle Meldungen in der jeweiligen Zeitung gezählt, in welchen Intellektuelle und ihre Meinung zum Krieg nur erwähnt wurden. Und da sieht die Verteilung dann so aus, dass nur 31 Prozent der deutschen und internationalen Intellektuellen, die innerhalb von FAZ, Süddeutsche, Zeit, Spiegel und taz erwähnt wurden, für den Luftkrieg, 55 Prozent aber dagegen waren. Die Skeptiker lagen bei 14 Prozent. Selbst ergänzt um die in sozialistischen Medien wie Neues Deutschland oder Freitag genannten Intellektuellen verändert sich dieser Prozentsatz kaum mehr, auch wenn in ND oder Freitag fast ausschließlich Interventionskritiker zu Wort kamen.
Interventionsbefürworter waren also deutlich überrepräsentiert, während Kriegsgegner in den Feuilletons weit weniger zu Wort kamen?
Ganz genau. Einzig die taz wurde der tatsächlichen Meinungsverteilung annähernd gerecht, indem sie 31 Prozent Pro-Stimmen, 59,5 Prozent contra und 9,5 Prozent Skeptiker abdruckte. In der politischen Berichterstattung lag aber auch die taz auf NATO-Kurs.
Wer „steuerte“ Ihrer Meinung nach denn da dieses kriegsheischende Zerrbild der sozialen Realität? Und wie genau fand das statt?
Naja, damals war die Analyse von Uwe Krüger noch nicht entstanden. Heute kann man rückblickend sagen, dass es ziemlich wahrscheinlich jene Alpha-Journalisten und Herausgeber waren, die fest in den transatlantischen Think-Tanks verwurzelt sind, die Krüger in seiner Netzwerkanalyse beschrieben hat. Die meisten waren ja schon in den 1990er Jahren in diesem Umfeld tätig.
Außenminister Joschka Fischer unterstrich damals seine Zustimmung zum ersten deutschen Krieg seit 1945 mit der Begründung, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg“, sondern auch „Nie wieder Auschwitz“ gelernt. Damit spielte er auf vermeintliche „Konzentrationslager“ und einen „neuen Hitler“, den man dank dieses Krieges zu besiegen glaubte, an. Diese Argumentation hat sich bis heute tief ins Mark, insbesondere der Grünen, aber auch anderer Friedensbewegter, eingeschrieben. Ist es so etwas, mit dem wir manipuliert wurden und werden? Ist das, wie man so sagt, ein sogenannter „Spin“, den die Kriegstreiber und PR-Agenturen lanciert haben, um uns moralisch zu „überwältigen“?
Ja, das kann man so sagen. Die Fakten zeigen, dass von einem solchen Vergleich nicht die Rede sein konnte. Kofi Annan hat sich auf westliche Quellen bezogen, als er von einem Bürgerkrieg sprach, für den beide Seiten verantwortlich seien. Aber auch Schröder, Fischer und Scharping wussten, dass Kosovo nichts mit dem Holocaust zu tun hatte. Das geht aus den Lageberichten hervor, welche von den deutschen Nachrichtenoffizieren erstellt wurden. Und auch aus Berichten der deutschen Botschaft in Belgrad.
Die deutsche Regierung hat hier absichtsvoll ein Ereignis anders dargestellt. Wir dürfen nicht vergessen, dass es die erste Kriegsbeteiligung seit 1945 war. Für “normale“ Interessen in den Krieg zu ziehen, dazu war die deutsche Öffentlichkeit nicht zu gewinnen. Da musste schon das moralisch stärkste Geschütz her, das zu haben war: der postume Kampf gegen Hitler und den Faschismus.
Und warum das alles? Was war so wichtig an diesem Krieg? Daran, dass er zustande kam?
Es ging den verantwortlichen Eliten nicht nur um die Vertiefung der West-Verankerung nach dem Ende des Kalten Krieges, sondern auch um die durch die Wandlung der NATO von Verteidigung auf Intervention sich abzeichnenden neuen Möglichkeiten in der Weltpolitik. Und da wollte Deutschland auf jeden Fall mitmachen.
Insofern war Kosovo eine hervorragende Möglichkeit, nicht nur bestehende Fesseln abzulegen, sondern nebenbei auch endlich noch das lästige Hitler-Gespenst loszuwerden. Mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg habe Deutschland, so die Darstellung der Interventionsbefürworter, „Verantwortung übernommen“ und sich postum in die Riege der Anti-Hitler-Koalition eingereiht.
Das ist wichtig für die Eliten im Lande, die endlich wieder Großmacht sein wollen.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Kurt Gritsch, geboren 1976, lebt im Engadin (Schweiz). Der promovierte Zeithistoriker und Konfliktforscher bietet in seinem Buch „Krieg um Kosovo: Geschichte, Hintergründe, Folgen“ (Innsbruck University Press 2016, 296 Seiten) eine kritische Gesamtdarstellung der Geschichte des Kosovo-Krieges und beleuchtet dabei insbesondere den bundesdeutschen Diskurs und die Rolle der Medien bei der Rechtfertigung der NATO-Intervention von 1999. Gritsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck sowie Lehrbeauftragter an der Academia Engiadina in Samedan.
Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.
11. Mai 2016
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