Flüchtlingshilfe für jeden

Die pensionierte Lehrerin Irène R. kümmert sich um
Schutzsuchende und Traumatisierte.

«Die Zustände in den Schweizer Asylunterkünften sind eine Zumutung für die Betroffenen und eine Schande für die Schweiz», findet Irène R. Seit über 50 Jahren arbeitet die mittlerweile pensionierte Schweizerin mit Flüchtlingen. Zuerst drei Jahre lang gegen Lohn, seitdem unentgeltlich. Sie sammelt Kleider und Schuhe, durchstöbert Brockenstuben nach hochwertigem Holzspielzeug und hängt Zettel bei Veranstaltungen auf, um aufzuklären und freiwillige Mitarbeitende zu finden. An ihrem Wohnort schlägt Irène wegen ihres eifrigen Engagements bisweilen harscher Gegenwind ins Gesicht. Sie bleibt deshalb für diesen Artikel anonym.


Zwei- bis dreimal pro Woche besucht sie ein Durchgangszentrum bei Bern und holt Flüchtlinge raus zum Spazieren, Werken und Deutschlernen. Dabei erhält sie Einblicke in weithin ungesehene Lebenswelten. Menschen wohnen dicht an dicht; Frauen, Männer und Kinder zusammen. Das einzige, was sie hätten, sei ein kleiner Fernseher, der rund um die Uhr laufe. Kinder schauten mit den Erwachsenen mit – «auch Sex- und Kriegsfilme», ärgert sich Irène. In den unterirdischen Zivilschutzanlagen, die als Asylunterkünfte genutzt werden, wüssten die Kleinen oft nicht einmal, ob gerade Tag oder Nacht sei.

Irène erlebt auch Rückschläge. Zum Beispiel, als ihre liebevoll eingerichtete Spielecke in einem Bunker beim nächsten Besuch verschwunden war. Alle Spielsachen seien entsorgt worden, weil niemand sie aufgeräumt hätte, erklärte die Aufsichtsperson. Als Irène veranlassen wollte, dass alle Kinder ab 20 Uhr nicht mehr fernsehen dürfen, erhielt sie Geländeverbot. Sie liess sich nicht beeindrucken und führte ihre Arbeit fort – dank diverser Handynummern der Flüchtlinge konnte sie diese per Anruf aus der Unterkunft holen.

Wenn Flüchtlinge tagsüber im Bett liegen, fragt Irène nach, was mit der Person los sei.  «Viele Leute sind psychisch ruiniert», erzählt sie. Von der Flucht, von Folterungen, vom ohnmächtigen Nichtstun immer am selben Ort ohne absehbares Ende. Viele plagen Sorgen um Verwandte und Freunde im Heimatland, bis hin zu Schuldgefühlen. Sie leiden unter Einsamkeit und Verlust von Selbstwertgefühl und sind oft zu kraftlos, um Deutsch zu lernen. Irène wünscht sich inständig, dass mehr Einheimische diese Menschen mit Kuchen, Kleidern, Spielzeug oder Bastelmaterial versorgen.


Helfen ist auf vielfältige Weise möglich. Am wichtigsten ist, den Leuten sinnvolle Beschäftigung und Abwechslung zu ermöglichen. Um nicht wegen Schwarzarbeit angezeigt zu werden, bietet sich ein Zeittausch an. Zum Beispiel «eine Stunde Deutschunterricht gegen eine Stunde Haus- oder Gartenarbeit», schlägt Irène vor.

Auch materielle Unterstützung ist wichtig. Seit drei Jahren sind Flüchtlinge auf Kleider- und Schuhspenden von aussen angewiesen. «Manche konnten den ganzen Winter kaum an die frische Luft gehen. Nur weil sie keine warmen Kleider besassen.» Irène besucht oft Brockenstuben mit Neuankömmlingen, meist können sie sich dort gratis einkleiden. Es fehlt an Freiwilligen, die dasselbe tun. Wer gerne etwas verschenken möchte, fragt am besten telefonisch beim nächsten Asylzentrum nach, welcher Bedarf dort herrscht. Auch Thermoskrüge, Taschenlampen, Koffer, Taschen und Rucksäcke werden dringend benötigt - letztere, damit Menschen auch bei den oft sehr rabiat verlaufenden Ausschaffungen ihre Habseligkeiten nicht verlieren.

Ihre Arbeit begann Irène in der Zeit, als Menschen aus Ungarn in die Schweiz flüchteten. «Es schmerzt mich, dass heute genau in diesem Land Zäune gegen Flüchtlinge errichtet werden und diese grundlos ins Gefängnis gesteckt werden», sagt Irène. Die Arbeit, die sie nur mit ihrer AHV finanziert, wächst ihr mittlerweile fast über den Kopf. Sie freut sich deshalb, wenn junge Menschen sich für Schutzsuchende einsetzen. Irène selbst möchte nicht als Gutmensch abgestempelt werden – «was ich gebe, erhalte ich in Hülle und Fülle zurück».


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06. November 2015
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