«Für mich war immer klar, dass mit Krieg nichts zu gewinnen ist»

Mutmachendes Treffen von FriedensarbeiterInnen beider Seiten des Nahostkriegs in Italien

Sie waren einen ganzen Tag lang unterwegs, weil die Flüge von Amman und Tel Aviv wegen des Krieges, der jetzt im Libanon wie in Gaza tobt, blockiert waren. Es war eine sehr schwierige Reise, bei der sie auf verschiedenen Flughäfen landeten und die Organisation der Initiative, allen voran Mao Valpiana, bis zum Schluss im Ungewissen liessen, bevor sie schliesslich Italien erreichten. Und so waren sie alle sichtlich erschöpft bei der Pressekonferenz am 16. Oktober morgens in der Cascina Nascosta in Mailand und noch mehr bei der Versammlung am späten Nachmittag in der vollbesetzten Acli-Zentrale.

Sie heissen Sofia Orr und Daniel Mizrahi, israelische Kriegsdienstverweigernde aus Gewissensgründen, und gehören dem Mesarvot-Unterstützungsnetzwerk an, über das wir in diesem Nachrichtenmedium schon mehrfach berichtet haben. Dem gleichen Netzwerk gehört auch die Palästinenserin Aisha Omar an, während Tarteel Al-Junaidi Mitglied der Community Peacemaker Teams ist. 

In Mailand erzählten sie vor einem sehr aufmerksamen Publikum ihre schwierigen Geschichten von Pazifismus in einer Region, die schon immer von Konflikten zerrissen war und jetzt irreparabel vergiftet ist durch Hass, durch methodischen Feindbildaufbau, durch die Gehirnwäsche, die schon bei der Geburt einsetzt und keine andere Perspektive als Waffen zulässt. So gut wie alle Israelis tragen ab dem 18. Lebensjahr den Helm für den obligatorischen zweijährigen Militärdienst, ohne den du in Israel ein Paria bist, ein Parasit, ein Verräter, ein Feind deines eigenen Volkes – und damit Vertreter eines Gedankens, der mit der Idee des Heimatlandes unvereinbar ist und deshalb mit Gefängnis bestraft werden muss.

Für mich war immer klar, dass mit Krieg nichts zu gewinnen ist.

Dies ist der Fall der jungen Sofia Orr, die LeserInnen von Pressenza kennen, seit sie im Februar dieses Jahres zum ersten Mal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil sie sich weigerte, in die Armee einzutreten. Diese Strafe erhielt sie erneut, als sie ihre Entscheidung bestätigte. Insgesamt sass sie 85 Tage im Gefängnis, bis ihr eine Ausnahmegenehmigung erteilt wurde. 

«Es war keine plötzliche Entscheidung, sondern ein Bewusstsein, das gereift war, seit ich 15 Jahre alt war. Und ich kann mich glücklich schätzen, dass ich eine Familie habe, die mich immer unterstützt hat, von der ich keinen Druck bekommen habe, die im Gegenteil meine Entscheidung mit all den schwierigen Konsequenzen mitgetragen hat – selbst angesichts der allgemeinen Ächtung, als mein Fall sogar in internationalen Zeitungen auftauchte. Für viele Gleichaltrige, die mir zustimmen würden, ist die Situation eine ganz andere und von grossem Leid geprägt», sagte sie und beschrieb den sehr starken psychischen Druck, dem alle im israelischen Bildungssystem von klein auf ausgesetzt sind. 

«Für mich war immer klar, dass mit Krieg nichts zu gewinnen ist, dass wir aber alle gewinnen können, wenn wir uns für den Frieden entscheiden», fügte sie unter Beifall hinzu. Und sie schloss mit der Bemerkung, dass wir aus der Ferne zwar die Möglichkeit haben, «alles, was passiert, in Echtzeit zu sehen; aber es persönlich zu erleben, ist etwas anderes: Wenn irgendwer von euch kommen möchte, um zu sehen, was dort passiert, wo wir leben, ist das nicht nur für diese Person wichtig, denn sie wird nicht umhin können, das zu erzählen und mitzuteilen, und wird vielleicht so Samen der Veränderung säen».

Ich weiss sehr wohl, dass das Gefängnis, das ich erlebt habe, nichts ist im Vergleich zu dem, was palästinensische Gefangene ertragen müssen.

Ganz anders der Fall von Daniel Mizrahi, der als Teenager im Rahmen eines «Eingliederungsprogramms im Heiligen Land» für in Lateinamerika lebende Juden, gemeint sind angehende SiedlerInnen, im besetzten Palästina landete. Er wuchs in einem Umfeld ständiger und «natürlicher» Spannungen auf, besuchte dann die Universität in Jerusalem und wurde sich langsam der Realität der Apartheid und der Verweigerung der elementarsten Rechte bewusst, welche die Ansiedlung so vieler Familien wie der seinen in den besetzten Gebieten verursacht. Als dann der Ruf zum Militärdienst kam, beschloss er, zu verweigern. Auch für ihn gab es Gefängnis, 50 Tage.

«Ich weiss sehr wohl, dass das Gefängnis, das ich erlebt habe, nichts ist im Vergleich zu dem, was palästinensische Gefangene ertragen müssen, aber auch für mich gab es harte Zeiten, zum Beispiel als mich die Leitung meiner Station vorlud, um mir folgendes mitzuteilen: ich würde Einzelhaft riskieren, wenn ich weiterhin meine antimilitaristische Haltung gegenüber meinen Zellengenossen, die keine Kriegsdienstverweigerer, sondern gewöhnliche Gefangene waren, frei äussern würde… Und selbst nachdem ich meine Zeit im Gefängnis verbüsst hatte, kehrte die Freiheit nie wieder zurück: In meinem Arbeitsumfeld vermeide ich zum Beispiel sorgfältig, zu sagen was ich denke, denn der psychologische Druck innerhalb der israelischen Gesellschaft ist selbst unter Menschen meines Alters sehr stark. Das Narrativ der ‚Sicherheit um jeden Preis‘, mit dem sich alle zufrieden geben, ist zu allgegenwärtig, und es ist schwierig, den Menschen klar zu machen, wie sehr genau dieses Regime der Unterdrückung unserer Nachbarn das ist, was sie zu gefährlichen Feinden macht.»

Wir dürfen die Hoffnung auf Versöhnung nicht verlieren.

Und dann ist da noch Aisha Omarebenfalls eine Mesarvot-Freiwillige, obwohl sie Palästinenserin ist, 1948 in den besetzten Gebieten geboren und aufgewachsen ist und schon vor ihrer Geburt von den Ressentiments durchdrungen war, die in der arabischen Welt natürlich die Oberhand gewonnen haben. Ihre Arbeit als Freiwillige bei Mesarvot begann vor zwei Jahren, «als das Leben mir erlaubte zu entdecken, dass nicht alle Israelis diese Monster in Uniform sind, die Palästina seit 75 Jahren unterdrücken und ausgrenzen. Viele von ihnen träumen von etwas ganz anderem und sind offen für die gegenseitige Anerkennung im Schmerz, die einen dringend denn je benötigten Friedensprozess einleiten könnte…». 

Eine Arbeit der Vermittlung, Übersetzung, Begleitung und des Knüpfens von Beziehungen, die schon vor zwei Jahren schwierig war und durch die Verschärfung des Konflikts noch komplizierter geworden ist. «Ich fühle mich oft wie eine weisse Fliege, die von ihren militanten Freunden des Defätismus bezichtigt wird, aber wir dürfen die Hoffnung auf eine Versöhnung nicht verlieren; jetzt bin ich noch mehr davon überzeugt, wie wichtig es ist, die beiden Seiten des Konflikts irgendwie zu verbinden…».

Eure Rolle ist nicht weniger grundlegend als unsere, in eurer öffentlichen Meinung, bei denen, die euch regieren, bei denen, die neben euch wohnen.

Und schliesslich war Tarteel Al-Junaidi da, eine gebürtige Hebronerin, «ein Ort, der praktisch von Checkpointsumgeben ist – überall wo wir uns bewegen, werden wir blockiert». Seit 2019 ist sie auch Menschenrechtsaktivistin bei einer «Schwesterorganisation» von Mesarvot, dem Community Peacemaker Team.

«Für mich ist es ein Privileg, heute hier zu sein. Ich fühle mich fast schuldig für dieses Privileg, wenn ich an so viele Gleichaltrige denke, die wohl nicht mehr unter uns sind, an die vielen Kinder, die Frauen, die nicht mehr leben… Aber es ist so wichtig, zu diesem Moment des Zusammenkommens beizutragen: Zu verstehen, dass alle von uns eine Rolle im Streben nach Frieden zu spielen haben… und eure Rolle ist nicht weniger grundlegend als unsere, in eurer öffentlichen Meinung, bei denen, die euch regieren, bei denen, die neben euch wohnen… Unsere Herzen zu reinigen, den Frieden gemeinsam zu denken, zu wissen, dass er möglich ist, heisst bereits, Veränderung zu bewirken und das ist das, was wir brauchen.»

Die von zahlreichen Verbänden unterstützte Italien-Tour von Sofia und Daniel, israelischen Kriegsdienstverweigernden, und den palästinensischen Pazifistinnen Tarteel und Aisha, soll auch eine Gelegenheit sein, Geld für die Rechtskosten zu sammeln, und wird bis am 26. Oktober dauern.


Alle Details zum Programm findest du unter diesem Link, und auf der Facebook-Seite des Movimento Nonviolento (Gewaltfreie Bewegung) kannst du die Live-Berichterstattung über alle Initiativen verfolgen.

Hier ist die Live-Berichterstattung von der Versammlung in der Acli-Zentrale in Mailand:https://www.facebook.com/MarzioGiovanniMarzorati/videos/3915325148751371

Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!