Glanz der Vampire

Nosferatu ist tot, es lebe Edward! Trotz blutleerer Drehbücher und blasser Darsteller rufen Vampirfilme heutzutage hysterische Begeisterung hervor. Es gibt Vampir-Serien, Vampir-Musical, Vampir-Werbung und mittlerweile sogar Vampir-Gummibärchen. Was fasziniert uns gerade heute wieder an den etwas angestaubten Mythos?

Eigentlich ist es keine große Sache: Eine Teenie-Göre mit gelangweiltem Gesichtsausdruck sieht sich hin- und her gerissen zwischen zwei Jungs. Der eine zeichnet sich durch ein hübsches, etwas blasses Gesicht aus, der andere glänzt mit einem eindrucksvoll trainierten Oberkörper. Für wen wirst du dich entscheiden, Bella? Aus dieser wenig originellen Grundidee wurde der größte Medienhype seit „Harry Potter“. Über 1,8 Millarden Dollar spülten die drei ersten „Twilight“-Filme in die Kinokassen. Die Romanvorlagen von Stephenie Meyer erreichten Rekord-Auflagen. Schulmädchen vermögen sich den beiden Hauptdarstellern nur kreischend zu nähern.



Ich vergaß ein Detail: Jacob (der mit dem Oberkörper) ist ein Werwolf; Edward (der Blasse) ein Vampir. Seitdem die beiden lieben und beißen, brandet die Vampir-Welle unaufhaltsam. Aber ist das eigentlich was Neues? Der erste Vampir-Film, „Nosferatu“ von F.W. Murnau, hat schon 88 Jahre auf dem Buckel. Als Francis Ford Coppola 1992 „Bram Stoker’s Dracula“ drehte, hatte er ernsthaften Selbstzweifeln, ob das Thema originell genug war – nachdem schon Max Schreck, Bela Lugosi, Christopher Lee, Klaus Kinski und Tom Cruise den Blut zuzelnden Grafen gegeben hatten. Die moderne Vampir-Vermarktungs-Industrie fechten solche Bedenken nicht an. Unverdrossen werden immer neue Machwerke auf den Markt geworfen, etwa die Teenie-Serie „Vampire Diaries“, die das Niveau des Vorbilds „Twilight“ noch unterbietet. Aber selbst in ihren trivialsten Ausformungen sind Vampirgeschichten oft noch doppelbödig und vieldeutig.



Historische Vorbilder von Dracula



Als historisches Vorbild Draculas gilt Vlad III., Fürst der Walachei im heutigen Rumänien (1431-1476). Er war extrem grausam gegen seine Feinde („Vlad der Pfähler“) und trug den Beinamen „Draculea“ (Sohn des Drachen). Dracula-Autor Abraham Bram Stoker stieß auf Vlad bei Gesprächen in der Loge „Golden Dawn of the Outer“, der er angehörte. Dies lässt aufhorchen. Floss in seinen „Dracula“ okkultes Geheimwissen ein? Ob es Vampire jemals „wirklich“ gab, muss bezweifelt werden, Sicher ist, dass es in einen verbreiteten Volksglauben über Vampire gab. In Rumänien war es in manchen Gegenden üblich, Tote nach einigen Jahren wieder auszugraben. Waren die Leichen außergewöhnlich gut erhalten, galt der Betreffende als Vampir. Man rammte ihn einen Pfahl in die Brust oder schnitt ihm das Herz heraus.


Im slawischen Kulturkreis gibt eine Fülle von Volkmythen über „Wiedergänger“ (Untote), die dem Grab entsteigen. Von ihnen wird erzählt, sie saugten den Lebenden ihre Lebenskraft aus. Manche sehen auch Lilith, die erste Frau Adams, als Ur-Vampirin der Kulturgeschichte an. In der patriarchalisch geprägten Bibel finden wir die Dame aus gutem Grund nicht. Lilith war in heutigen Begriffen eine „Emanze“, war ihrem Gatten ungehorsam und wurde von Gott aus dem Paradies vertrieben – dazu verurteilt als Nachtgeist herumzuirren.



Achtung, Energieräuber!



Vampirgeschichten haben immer mindestens zwei Aspekte: Das Opfer wird ausgesaugt, und es wird selbst zum Vampir. Einfach ausgedrückt geht es um Sucht und Ansteckung. Beides trifft sich in der Realität etwa im Symbol der Heroinnadel, die gleichzeitig zum Überträger von AIDS werden kann. Zunächst aber zum Aspekt „Aussaugen“: Jeder von uns kennt das Phänomen, dass er sich in Gegenwart bestimmter Menschen schnell „ausgelaugt“ fühlt. Er verliert an Kraft, während der andere über unerschöpfliche Energie zu verfügen scheint. Solche Energieräuber treten oft fordernd auf, manchmal dominieren sie durch aufdringlicher Hilflosigkeit. Über das Phänomen „Energievampirismus“ sind ganze Bücher geschrieben worden.



Den originellsten Beitrag lieferte James Redfield in seinem Bestseller „Die Prophezeiung von Celestine“. Er behauptet dort, bei jedem Rededuell würde der Sieger dem Verlierer buchstäblich einen Teil seiner Energie absaugen. Aurasichtige könnten dies sogar beobachten. Die Aura des Einen vergrößere sich auf Kosten des Anderen. Auf der Erde sei ein beständiger „Kampf um Energie“ in Gang. Jeder wolle seine Kraft auf Kosten des anderen vermehren. Diese These erscheint mir zumindest auf einer symbolischen Ebene plausibel.



Der Mensch als Blut-Ressource



Eine noch drastischere Vision zeichnet der neue Vampir-Film „Daybreakers“. Er stellt die Frage: Wie könnte die Erde aussehen, wenn fast jeder ein Vampir ist? Menschen werden dann zur wertvollsten Ressource. In „Daybreakers“ vegetieren sie zu Tausenden an technische Apparate gefesselt dahin, nur zu dem Zweck gezüchtet, als Blutquelle zu dienen. Wir erinnern uns: Es gab schon einmal eine ähnlich erschütternde filmische Vision in „The Matrix“. Die Menschen dienten dort den Maschinen als Batterien.



Menschen als Opfer böswilliger nicht-menschlicher Kreaturen, die sie auf ihre „Verwertbarkeit“ reduzieren. Das kann man durchaus als Kapitalismuskritik lesen. Das Thema ist heikel, hatte doch bereits die Nazi-Propaganda von „Blutsaugern“ gesprochen. Gemeint waren – man ahnt es – die Juden. Ich meine aber, dass die Symbolik des „Aussaugens“ unabhängig vom historischen Kontext auf die innere Logik des Ökonomismus verweist. Wo der Mensch Mittel zum Zweck wird, gezwungen, seine Energie zu geben, damit ein anderer gedeihen kann, greift der Vampirmythos. Nicht immer geht es dabei – wie im Zinssystem – um Geld. Oft um Macht, den eigentlichen Urtrieb des „Bösen“.



Das Böse ist ansteckend



Regisseur Roman Polanski wäre beinahe zum Holocaust-Opfer geworden und konnte aus dem Krakauer Ghetto nur um Haaresbreite vor den Nazis fliehen. Viele aus seiner Familie starben in Vernichtungslagern. So verwundert es nicht, dass seine Komödie „Tanz der Vampire“ als Faschismus-Parabel gedeutet wurde. Die Bedrohung ist in dem Film allgegenwärtig. Wer ist noch Mensch, wer schon Vampir? Wem kann ich vertrauen? Solche Fragen musste sich der für klaustrophobische Dramen bekannte Regisseur im von den Nazis besetzten Polen sicher oft stellen. Am Ende des Films wird die Geliebte von Hauptfigur Alfred zur Überträgerin des bösen Virus. Er wird gebissen, „und das Böse verbreitete sich über den ganzen Erdball“. Der Mensch im Kraftfeld des Bösen kann nicht einmal sich selbst vertrauen, denn auch er kann der nächste sein. Gerade, wer das Böse am verbissensten (!) bekämpft wie Alfred und Prof. Abronsius, läuft Gefahr, sich bei ihm anzustecken und den Virus weiter zu tragen.



Angelegt ist diese paranoide Dynamik schon in Bram Stokers Ur-„Dracula“ sowie in den ältesten Verfilmungen. Wer ist schon angesteckt? Der Dracula-Mythos markiert somit die zweite Stufe des Bösen. Vor Frankensteins Monster hat man Angst. Es kann jedoch nur unseren Leib töten; Dracula dagegen greift nach der Seele. Seine finsterste Drohung ist, dass wir das, was wir am meisten verabscheuen, selbst werden können. Mit dem Motiv der Ansteckung gleicht Dracula anderen populären Mythen, etwas den „Körperfressern“ oder „Zombies“ Alles Geschichten, in denen sich das Böse als ansteckende Krankheit in einer gesunden Population unaufhaltsam ausbreitet. Wie bei Pandemien. Oder im Faschismus.



Dracula – der gefallene Engel



Der überragende Vampirfilm der letzten 20 Jahre war “Bram Stokers Dracula” von Francis Ford Coppola. Der Regisseur hielt sich eng an die Romanvorlage, fügte ihr aber einen Prolog hinzu, der die Vorgeschichte des Vampirs deutlich machte: Dracula war ein rumänischer Adeliger zur Zeit der Kreuzzüge. Er verfluchte das Christentum, weil Priester seine Geliebte Elisabetha in die Hölle verdammt hatten. Er stieß sein Schwert in das große Holzkreuz, aus welchem darauf Blut austrat. Seither war er verflucht, als Untoter weiterleben zu müssen, gierig nach dem Blut der Menschen, die er dadurch mit ins Verderben riss. Nur die Liebe Elisabethas, die als Mina wiedergeboren wurde, konnte ihn erlösen, nachdem er einen „Ozean von Zeit“ überquert hatte, um sie zu finden.



Eine solche weit ausgreifende Vorgeschichte rückt Dracula in die Nähe anderer tiefgründiger Mythen, etwa des „Fliegenden Holländers“ von Richard Wagner. Oder der Figur Kundry in Wagerns „Parsifal“. Sie lästert den Heiland am Kreuz und wird verflucht, auch unschuldige Seelen auf den Pfad des Bösen zu locken. In dieser Tradition zeigt „Bram Stokers Dracula“ die Genese des Bösen, an der die Heuchelei der etablierten Religion ihren Anteil hat. Sie zeigen das „Monster“ als einen Getriebenen, nach Liebe und Erlösung Dürstenden, als gefallenen Engel. Mitgefühl und Grauen halten sich gegenüber einem solchen „Helden“ die Waage.



Erotik und Triebverzicht



In „Twilight“ wie in älteren Versionen des Stoffes wird Sexualität als gefährlich dargestellt. Schon in Murnaus „Nosferatus“ windet sich das weibliche Opfer erregt unter dem Halsbiss des Vampirs. Coppolas Film bringt mit Winona Ryder als Mina und Monica Belluci als Vampirlady noch mehr explizite Erotik ins Spiel. Bram Stokers Dracula-Roman kam 1897 im prüden viktorianischen England heraus. Die Verwandlung der Frauen in Vampire bringt deren unterdrückte Sexualität an die Oberfläche, macht aus verhuschten Jungfern sexuell aggressive Frauen. Die Verwandlung gleicht der von Stevensons „Dr. Jeckyl“. Es geht um den Durchbruch des Verdrängten, die Manifestation des Schattens.



Hinzu kommt die im Menschheitsgedächtnis tief eingeprägte Verbindung von Sex und Tod. In der Ära vor Erfindung der Pille konnte Geschlechtsverkehr zur Geburt eines Kindes, diese zum Tod der Mutter führen. Der Tod lag gleichsam immer mit im Bett. In „Dracula“ wird der Biss des Vampirs zum erotischen Symbol, der weiße Hals des Mädchens zum Fetisch. Wer dem Liebhaber seinen Hals hinstreckt, signalisiert dass er jeden Widerstand aufgibt. Die Hingabe an den erfahrenen Mann wird zur Initiation, die eine Frau in eine neue, gefährliche Wirklichkeit eintreten lässt. Es droht bzw. lockt das Sterben des Egos in der Liebe.



Dies gilt besonders aus der Perspektive der „Jungfrau“, weshalb es Sinn macht, dass auch neuere Vampir-Verfilmungen das Teenager-Milieu wählen. „Twilight“ thematisieren das Zögern der Liebenden vor dem ersten Geschlechtsverkehr. Bei Überschreiten der Schwelle droht eine unfassbare Verwandlung, die nicht umkehrbar ist. In vielen Beiträgen zum „Twilight“-Phänomen wird erwähnt, dass Autorin Stephenie Meyer Mormonin ist. Ihr wurde Prüderie und eine reaktionäre Weltsicht vorgeworfen. Will sie ernsthaft für „Keuschheit vor der Ehe“ werben? Ich glaube, die Geschichte geht psychologisch tiefer. Würde er mit Bella schlafen, sagt Edward, würde ihn unstillbarer Blutdurst überkommen. Er verlöre die Beherrschung und käme nicht umhin, Bella in einen „Vampir“ zu verwandeln: Will sagen: ein sexuelles Wesen voller Verlangen.



Mehr als menschlich



In „Twilight“ saugen Vampire kein menschliches Blut, werden durch Sonnenlicht nicht zerstört, schlafen nicht in Särgen, und fürchten nicht Kreuz noch Knoblauchknolle. Schaut man genauer hin, sind es eigentlich gar keine Vampire mehr. Was dann? Eine übermenschliche Spezies, die nach uns kommen wird. Sie haben erstaunliche Kräfte, klettern auf Bäume wie Eichhörnchen, bewegen sich im Zeitraffer-Tempo, schlafen nicht, essen keine feste Nahrung, sind unsterblich. Ihre Haut glitzert im Sonnenlicht wie mit Spiegelscherben übergossen. In mancher Hinsicht gleichen diese Wesen den „Indigo-“ oder „Kristallkindern“, von denen in esoterischen Bestsellern die Rede ist, höher schwingenden Seelen, die massenweise auf die Erde zuwandern. Sie leben unerkannt mitten unter uns und sind die Zukunft der Erde. Bella steht an der Schwelle zu einer neuen Phase der Menschheitsentwicklung. Sie muss wählen – und zwar nicht nur, wer ihr Herzblatt ist. Es geht um Tiermenschentum (Jacob) oder Gottmenschentum (Edward).



Der deutsche Frauen-Vampirfilm „Wir sind die Nacht“ (2010) lockt mit einem verheißungsvollen Slogan: „Du ahnst nicht, welche Wunder dich erwarten“. Wir ahnen nicht, welche Deutungen des Vampir-Mythos uns in Zukunft noch erwarten. Sicher ist, dass Vampir-Geschichten für uns eine Botschaft haben, wenn wir bereit sind, zuzuhören. Francis Ford Coppola erklärt im „Making of“ seines Films: „Bei Dracula geht es um unsere Verbindung mit der Schöpfung. Wir sind mit Gott wechselseitig verbunden. Der Mensch kann Gott jedoch entsagen. So viele von uns verleugnen ihr Band mit dem Geist des Schöpfers und werden zu Draculas – ohne Seele.“





27. Dezember 2010
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