Hat die Linde als Strassenbaum ausgedient?

Was die Kettensäge nicht alles schafft: «Aufenthaltsqualität, Funktionalität, Sinnlichkeit und Ästhetik». Dies will die Zürcher Stadtverwaltung an der berühmten Bahnhofstrasse erreichen, indem sie 72 der 177 Linden fällt. Angeblich sind sie krank.


Die Zürcher Stadtverwaltung kennt die Bedürfnisse der Bevölkerung. Diese sehnt sich nach «integraler Stadtraumqualität». In vieljährigem Bemühen wurden Gestaltungsstandards, Umsetzungsgrundsätze sowie ein stattlicher «Elementenkatalog» samt Leitfaden geschaffen. Selbst die Marktstandmarkierungen gingen darin nicht vergessen. Damit wollen die Schöpfer «zur hohen Lebensqualität und dem guten Ruf der Stadt» beitragen. Gegenwärtig wird in der Bahnhofstrasse «Aufenthaltsqualität, Funktionalität, Sinnlichkeit und Ästhetik» befördert. Mit der Kettensäge. 38 Linden liegen bereits im Sägewerk. Ein Drittel davon war über vierzig Jahre alt, noch Lindenkinder zwar, aber eben jene mit den besten Überlebenschancen, da ihre Wurzeln schon weit ausgreifen. Insgesamt 72 von 177 Linden sollen dem behördlichen Gestaltungsdrang zum Opfer fallen. Die Einkaufs- und Flaniermeile von Weltrang ist entstellt, streckenweise eine Asphaltwüste. Ach ja: Ein Alleenkonzept hat die Stadt auch. Es hilft den bereits entsorgten und den todgeweihten Bäumen, dem Leben im Geäst und den Menschen darunter allerdings wenig, wenn sie als «primäres raumdefinierendes und raumgliederndes Element, raumprägend und mit hoher atmosphärischer Qualität, wichtige Schattenspender, Naturobjekt im Stadtraum, mit wichtiger ökologischer Funktion» gewürdigt werden.

Wenn Strassenbäume amtlichem Gestaltungseifer weichen müssen – von notwendigen Erneuerungsarbeiten sprechen wir hier nicht –, werden sie in der Regel vorher krankgeschrieben. Oft zu Unrecht, denn Hunger und Durst sind keine Krankheiten, weder bei Menschen noch bei Bäumen. Wenig vertrauenswürdig wirken stets Mehrfachbegründungen, amtliche ganz besonders. Wenn also galoppierende Designlust – die Luftschlitze der befahrbaren Gusseisenringe um die Baumstämme betonen neu die Strassenrichtung – mit nicht näher bezeichneten Baumkrankheiten, Sicherheits- und Haftungsbefürchtungen angereichert wird, müssten sich alle Augenbrauen heben. Und wenn obendrauf argumentiert wird, wegen behindertengerechter Anpassungen bei zwei Tramhaltestellen müssten zweiundsiebzig Bäume gefällt werden, dann muss man sich über Medien schon wundern, die solchen amtlichen Unfug unwidersprochen abdrucken. Die Beteuerung schliesslich, die neu gepflanzten Linden würden bessere Lebensbedingungen antreffen, als «jeder Baum an der Bahnhofstrasse» zuvor, erinnert an Adenauers berühmtes Diktum: «Was kümmert mich ming Jeschwätz von jestern?

Das Wintersalz lässt die Linden verdursten. Sie welken bereits im August. Bild: Andreas Diethelm

Doch zurück zum Hunger: Diese Bäume siechen dahin, weil das Streusalz die Nahrungsaufnahme abwürgt und die Blätter vergiftet. Statt abenteuerlicher Diagnosen braucht es eine Abkehr vom unsinnigen Winterdienstregime, der sogenannten Schwarzräumung. Sand reicht gegen Glatteis in der Innenstadt und auf Quartierstrassen der Ebene vollauf. Selbst mit Salz bei den zwei bis drei Glatteisereignissen pro Winter würden die Bäume notfalls fertig, wenn es denn bei diesen Einsätzen bliebe. Stattdessen wurden gerade wieder 230 000 Tonnen Salz über Stadt und Land verteilt, soviel wie noch nie zuvor, grösstenteils zum Schnee schmelzen, beziehungsweise um vereisenden Schneematsch zu produzieren. Dies mit nachweislich negativer Wirkung auf die Sicherheit. Erwähnen wir die (aus der Winterdienstrechnung ausgelagerten) Milliardenkosten für die Reparatur der Salzschäden an den Strassen hier nur am Rande. In wenigen Wochen werden die Salzschäden an den Strassenbäumen, Linden, Kastanien, Ahorn sichtbar: Die Blätter vergilben und verdorren von den Rändern her und fallen vorzeitig ab. Das versickernde Salz verbleibt teilweise im Boden und schädigt das vielfältige unterirdische Leben, mit dem der Baum auf Gedeih und Verderb verbunden ist. Jungbäume treiben teilweise gar nicht erst aus, ihre Wurzeln stecken im Salz.


Was ist ein Baum? Auch die Stadt Basel stellt sich die Frage: «Ein Investment!» verkündet die Website (inklusive Ausrufezeichen) und bleibt gleich im utilitaristischen Jargon: «Ein reicher Baumbestand ist für jede Stadt ein ökonomisch relevanter Standortfaktor. Die Bäume leisten Unbezahlbares, indem sie die Atemluft verbessern, schattigen Erholungsraum bieten und der Klimaerwärmung entgegenwirken.» CO2-Speicher, Luftbefeuchter, Staubfänger, Klimaanlage. Gestaltungs- und Ästhetikelement hatten wir schon. Fügen wir an: Verkehrshindernis. Was fehlt noch? Ach ja: ein Lebewesen ist er auch, der Baum.
Vielleicht haben die Regelwerkverfasser mit dem «Naturobjekt» an etwas in dieser Richtung gedacht. Mit allen andern Lebewesen teilt der Baum aber den Anspruch auf angemessene Lebensbedingungen. Bester Ingenieurlogik folgend, suchen sich die Grünämter nun nach salzabweisenden Substraten (für Laien: das Gekrümel, in dem der Baum steht, eine Art Erde also), sodass das Salz mit dem Frühlingsregen möglichst ins Grundwasser sickern kann. Und sie sehen sich nach salztolerantem Grünzeug um. Das Bild der vertrauten Alleen ist im Verschwinden begriffen.


Der Inbegriff des traditionellen Stadtbaums in unserer Gegend ist die Linde, im alemannischen und germanischen Kulturkreis von grosser Symbolkraft: als Dorflinde, Tanzlinde oder als tausendjährige Gerichtslinde. Nun droht sie aus dem Strassenbild der Städte zu verschwinden. Der freiheitsliebende Baum lässt sich nicht in ein vergiftetes Korsett zwängen. Etwas bessere Überlebenschancen hat die hybride Krimlinde. Gegen Salz aber zieht auch sie den Kürzeren. Auch die Rosskastanie und diverse Ahornarten werden allmählich aus dem Verkehr gezogen und durch hitze-, trocken- und salztolerantere Bäume ersetzt. So ist Celtis, der Zürgelbaum im Kommen, hier ein ökologisch wertloses Gewächs. Die Robinie oder Scheinakazie, braucht nicht mehr vorgestellt zu werden, der anspruchslose und durchaus attraktive Schmetterlingsblütler, auch er, wie die Linde eine Bienenweide, dominiert das Stadtbild bereits weitgehend, und längst nicht nur dieses. Die Wächter über der Reinheit der einheimischen Vegetation beklagen seine Abwanderung in die Trockenrasen. Man schätzt seine Dienste als Dreckfänger an der Strasse, aber bitte nicht hinaus ins Grüne!
Wenn wir den eingeschlagenen Problemlösungsansatz weiter verfolgen, wäre etwa an die Tamariske zu denken, die zwar kaum Schatten spendet, aber dafür einen Hauch Biarritz oder San Remo in unsere Städte zaubern würde. Oder wir holen uns gleich die noch genügsamere Schwester aus dem Sinai, die Manna-Tamariske in unsere innenstädtischen Salzwüsten. Ihr Name verrät es: vom Himmel, beziehungsweise aus ihren Zweigen fällt uns Manna zu. Der Haken dabei: Wahrscheinlich würde der himmlische Slowfood in der Geschäftswelt nicht angemessen geschätzt. Der von einer Schildlaus ausgeschiedene Honigtau tropft nicht nur in den Wüstensand, sondern auch auf frisch polierte Kühlerhauben. Bereits das «Manna» unserer Linden sorgt für Verdruss bei Parkierern.


Die Standortfaktoren, machen dem «Standortfaktor» Stadtbaum das Leben schwer. In den Kernbereichen unserer grösseren Städte herrscht im Sommer Steppenklima. Zusammen mit der schlechten Luftqualität bei Hochdrucklagen ist das für unsere traditionellen Strassenbäume auch ohne Streusalz eine Belastung. Wie können wir sie am Leben erhaltten? Eine angemessen grosse vermittelnde Grenzfläche zwischen ober- und unterirdischem Lebensraum, zwischen Atmosphäre und Erdreich, zwischen Krone und Wurzelraum, ist erforderlich für ausreichende/n Wasserversorgung- und Gasaustausch. Ein noch so teures Deckelsystem um den Stamm herum taugt dazu nicht, baumgerecht ist eine bewachsene Rabatte, ein Lebensraum wiederum.,  Ausserdem benötigt der Baum viel Wurzelraum, weit mehr, als ihm die städtischen Normen zubilligen. Idealerweise entspricht er etwa dem Umfang seiner Krone.


Der Baum ist wie jeder grössere Organismus auch ein Biotop, ein Lebensraum für Dutzende bis Hunderte von Tierarten, grösstenteils Insekten. Eine Linde beispielsweise lebt unter artgerechten Bedingungen allein schon im oberirdischen Bereich in Gemeinschaft mit rund 30 Insektenarten, neben andern Kleintieren, Vögeln und Fledermäusen. Sie ist Weide für Bienen, Hummeln und Schwebfliegen. Eine von Auge kaum sichtbare Milbe gehört zu dieser vielfältigen Lebensgemeinschaft, aber auch eine Vielzahl ihrer Verfolger: Marienkäfer- und Florfliegenlarven, Schlupfwespen, Wanzen, Spinnen oder Ohrwürmer... In manchen Köpfen aber herrscht die Vorstellung, ausser den sichtbaren Spuren der «Schädlinge» und herabsch… Tauben tue sich nichts im Geäst. Das Gewusel verorten sie in der Masoala-Halle und nicht im Business District.
Für seine ökologischen Funktionen ist es entscheidend, ob der Lebensraum Baum eine einsame Insel oder Teil eines Archipels Stadtnatur ist. Je öder und je spärlicher die Inseln, desto eher verhungert oder ertrinkt die Kreatur in der Verkehrsflut.

Der Autor ist Ökologe und Publizist in Zürich.
Kontakt: era_consulting, Umweltberatung, Badenerstr. 18, 8004 Zürich, Tel. 079 224 55 23

Zum Thema dieses Artikels hat er eine Wanderausstellung gestaltet:

«Stirbt die Linde»
Der Schnee ist weg – das Salz bleibt – der Baum verhungert.
Wir ermitteln: Spurensicherung – Ortstermin – Verhandlung.
1. Station: SBB-REMISE, Lagerstrasse 98, (neben Unterführung Langstrasse) 21.6. bis 27.6. 2013, Vernissage: Fr., 21.6. 18-20 Uhr
Öffnungszeiten: Sa 11-15 Uhr, So 13-15 Uhr, Mo-Mi 17-19 Uhr
24. Juni 2013
von: