Humanität besser abschaffen

Das Menschliche als Grundlage für seine Entscheidungen heranzuziehen, ist aus der Mode geraten. Stattdessen liegen das Ökonomische und Populistische nahe, in deren Hintergrund sich das Unmenschliche aus seinem historisch kurzen Schlaf seit 1945 wieder aufrappelt und im Begriff ist, das Humane zu verschlingen. Letzteres wird dann eben flugs umdefiniert. Brecht: «Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.»

Ach, es begann ja schon viel früher, sehr viel früher. Damals nämlich, als wir uns von Mutter Erde so konsequent verabschiedeten, dass die meisten von uns diesen Begriff gar nicht oder nur noch spöttisch in den Mund nehmen; als wir uns von unseren Geschwistern, den Tieren, trennten und uns Fleischfabriken selbstverständlich wurden, keines Gewissensbisses wert; als wir uns zum Herrenvolk der Erde aufschwangen und zwölf kurze Jährchen lang sogar uns Deutsche als den arischen Höhepunkt menschlicher Entwicklung begriffen.

Heute sind wir zukunftsskeptisch, eher sehnen wir uns zurück; die einen nach der verlorenen Verwandtschaft, die anderen nach dem arischen Gipfel der Unbarmherzigkeit. 

Schluss mit der abstrakten Herzlosigkeit

Das Thema der Umdefinierung des Menschlichen («Waffen für den Frieden») ist in letzter Zeit vielfach behandelt worden. Ich möchte den Begriff des Menschlichen gerne aus seiner abstrakten Herzlosigkeit herauslösen. Auch meine ich, über das, was «menschlich sein» bedeutet, lässt sich trefflich streiten, weniger übers Unmenschlichsein, für das wir nicht nur ein Händchen, sondern auch – und überraschenderweise – ein Gefühl haben. 

Beispielhaft beginnen möchte ich mit einem Thema, das mir seit Urzeiten an den Nerven nagt, der «Abtreibung». In der Diskussion, ob frau nun abtreiben dürfe oder nicht, wird munter und vermutlich noch in hundert Jahren darum gestritten, ob denn der Embryo schon Mensch sei oder noch nicht. Abgesehen davon, dass sich in dieser Diskussion biologisch Faktisches und Weltanschauliches vermengen und verknoten, scheint mir die Diskussion an einer entscheidenden Fragestellung vorbeizugehen: Wie können wir der potenziellen Mutter seelisch, moralisch, sozial und wirtschaftlich so helfen, dass sie die Frage nach einer Abtreibung möglichst aus ihrem Herzen heraus ungezwungen beantworten kann? Alles andere erscheint mir wie «Thema verfehlt», letztlich unmenschlich. Ich könnte auch sagen: zynisch. In vorchristlichen, sprich vorpatriarchalen, Kulturen hatte man mit Schwangerschaftsabbrüchen keine grossen Probleme. Auch die alten Ägypter und Griechen waren davon unbelastet.

Humanität als Propagandabegriff

Und noch ein Argument spricht dafür, diese existenzielle Frage den Frauen zu überlassen: Mit gesetzlichen Normen scheren wir alle Schwangeren über einen Kamm. Doch weder Frauen noch irgendjemand sonst sind keine statistischen Nummern, auch wenn uns das so mancher Wahrheitsapostel glauben machen will. Es gibt weder die Frau noch denMann, den Deutschen noch den Amerikaner, ja nicht einmal den Russen und schon gar nicht den Ukrainer, Juden oder Palästinenser. Es gibt nur (selbst gesponnene oder fremdauferlegte) Glaubenssysteme, die sie zu diesen Rollen verurteilen.

Aber ich schweife aus naheliegendem Grund ab. Zurück also zum Thema: Humanität und Inhumanität sind keine klar abgrenzbaren Begriffe. Wer so tut, als wären sie es, bezweckt etwas damit. Meistens handelt es sich um Fälle von Propaganda. 

Solche Spielchen mögen wir nicht – eigentlich

Sich selbst etwas anzutun, das erscheint uns nicht als unmenschlich. Slasher (also Menschen, die sich «freiwillig» selbst verletzen) würden wir nicht als inhuman bezeichnen, sehr wohl aber, wenn sie dasselbe anderen antun. Wenn ein Kind einen Käfer in seine Einzelteile zerlegt, weil es sehen möchte, wie er funktioniert, dann werden wir diesem Kind beizubringen versuchen, dass man «das nicht tut». Warum eigentlich nicht? Was juckt uns ein Käfer mehr oder weniger? Dennoch schreiten wir ein, weil wir intuitiv wissen, dass alles Lebende ein Ganzes bildet, dem seine Ganzheit vom Leben selbst geschenkt ist. Töten wir, dann zerstören wir diese Ganzheit unwiederbringlich. Lebendes lässt sich nicht wieder zusammensetzen; das unterscheidet es ganz grundsätzlich vom Mechanischen. 

Interpolieren wir nun das Verhalten des Kleinkinds zum Zehnjährigen, zum 18-Jährigen und zum 30-Jährigen. Beim Dreijährigen schütteln wir noch den Kopf, beim Zehnjährigen sind wir schon erschrocken, beim 18-Jährigen vermuten wir eine psychische Störung und dem 30-Jährigen gehen wir lieber aus dem Weg; am Ende sucht er uns als nächste Testperson für seine Spielchen aus. 

Inhuman heisst: verächtlich zu allem Leben 

Natürlich spielt bei alldem noch eine Rolle, welcher Lebenswert dem Lebendigen zukommt. Ein Käfer oder Wurm oder eine Fliege oder Spinne – na ja, nicht okay, aber auch nicht schlimm; und so geht es die Leiter des unwerten bzw. werten Lebens immer mehr nach oben, über den Fisch, den Vogel, die Maus, die Katze, das Pferd bis eben zum Menschen. Wer sie zerlegt oder für seine persönlichen Zwecke tötet, den verurteilen wir intuitiv. Interessanterweise gelten für Kopfschlächter, Henker und Soldaten weltweit Ausnahmeregelungen; aber sie berufen sich ja auch auf «höhere Zwecke».

Doch das ist hier nicht Thema. Spannend an den bisherigen Überlegungen finde ich die Tatsache, dass sich unser Gefühl für menschliches oder unmenschliches Verhalten gar nicht nur auf Untaten gegenüber Menschen bezieht, sondern gegenüber allem Leben. Human benimmt sich also, wer Leben respektiert, inhuman, wer verächtlich damit umgeht bzw. es zerstört. Wenn wir uns nun fragen, weshalb es unmenschlicher sei, einen Hund bei lebendigem Leib zu zerlegen als einen Fisch oder einen Wurm, dann landen wir unweigerlich bei dem Argument: weil der Hund dem Menschen ähnlicher ist. (Wären die Wale keine Säugetiere, sondern Fische, würde man längst nicht so viel Aufhebens um sie machen.) In diese Argumentationskette heimlich eingebaut ist die Hierarchie: der Mensch als die Krone der Schöpfung. Oder andersherum betrachtet: Das Ende der Geschwisterlichkeit mit allem Lebendigen ist der Anfang der Humanität.

Humanität als Ergebnis kulturellen Trainings

Weil Humanität kein natürliches Empfinden ist, sondern ein kulturell definiertes und uns beigebrachtes, lässt sich ihre Definition auch ohne grosse Mühe modifizieren. Das ist schon beim Status quo so. Stellen Sie sich folgende Hilfskonstruktion vor: Sie sind mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin in einer Berliner Fussgängerzone unterwegs und bleiben vor einer sehr verwahrlosten Bettlerin stehen. Nun stellt sich heraus, dass diese Bettlerin ausgerechnet die Mutter Ihres Partners/Ihrer Partnerin ist. Wäre Ihnen das jetzt egal, ja würde er oder sie nicht einmal einen Euro zücken und in die Bettelschale der Mutter werfen, dann würden wir ein solches Verhalten vermutlich als inhuman bezeichnen. Human angemessen wären jetzt offenes Entsetzen und eine spontane Hilfsbereitschaft, mag man sich einst auch noch so zerstritten haben. Hingegen erschiene es uns völlig normal, an einer Standard-Bettlerin achtlos vorbeizugehen (wie wir dies regelmässig tun), definitiv empfinden wir dies nicht als inhuman. Steigerbar wäre unsere Achtlosigkeit sogar noch, wenn wir die Bettlerin schmutzig sein lassen, sie vielleicht sogar unangenehm riecht; wenn sie dann obendrein noch eine Rumänin wäre … Was wir als human empfinden und was nicht, ist uns nun einmal kulturell antrainiert. 

Wie schnell sich solche Inhalte verändern lassen, zeigte sich während der Corona-Epidemie. Jahrhundertelang hatte es als Gipfel inhumanen Verhaltens gegolten, seine Eltern alleine sterben zu lassen. Zwei Jahre staatlicher Propaganda hatten genügt, diesen Inhalt buchstäblich umzudrehen. Die Absurdität des Arguments, man dürfe einen Sterbenden auf keinen Fall «anstecken», fiel dabei nur wenigen auf. Interessant ist an dieser Stelle, dass dem Menschen als der Krone der Schöpfung noch eine Krone übergeordnet wurde und wird: der Staat, dem wir gestatten, die Inhalte humanen Verhaltens für uns zu definieren.

Biophilie – kann niemand ernstlich wollen

Humanität ist letztlich so relativ wie guter Geschmack, über den sich nicht streiten lässt. Für die Humanität gilt dies ebenso. Die kernige US-Weisheit «Only a dead indian is a good indian» lässt uns – ein wenig – zusammenzucken. Doch lässt sich diese Art der Wirklichkeitsbewältigung bis zum heutigen Tag als Grundhaltung auf alle kriegerischen Konflikte übertragen; ja sie beginnt sich, heimlich wie ein Bandwurm, als Normalzustand in unseren Gehirnen und Herzen einzunisten, Unmenschlichkeit als Normalzustand, ja als nationales Wohlgefühl, wie es sich über die Jahrhunderte immer eingestellt hat, wenn man einen Feind identifiziert hat. Da Humanität also so leicht zu missbrauchen ist, ergibt sich zugunsten ernst gemeinter Menschlichkeit keine geringere Forderung als die Abschaffung der Humanität. Was aber dann? Stehen wir dann ethisch im Regen? 

Das muss nicht sein, jedenfalls dann nicht, wenn wir «Humanität» durch «Geschwisterlichkeit mit allem Lebenden» ersetzen, also nicht nur mit Käfern und Hunden, sondern auch mit Menschen. Da aber eine solche Biophilie, die Liebe zum Leben, eine Revolution unseres Verhaltens erforderte und zur Veränderung oder Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Strukturen führen würde, kann das niemand ernstlich wollen. Oder etwa doch? Falls ja, bitte melden.

25. Januar 2025
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