Ich bin ich
Individuation ist eine Reise, auf der wir im Bewusstsein der Zugehörigkeit aus dem Kollektiv heraustreten wie der Tropfen aus dem Meer. Die Samstagskolumne.
Wie der Tropfen im Meer. Foto: Array Jain
Wie der Tropfen im Meer. Foto: Array Jain
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Ich bin ich – so lautete der Titel eines in den 1980er Jahren erschienenen Buches von Judith Jannberg, in dem es um den Befreiungsprozess aus ihrer Ehe geht. «Du bist ein Nichts und Niemand. Alles, was du bist, bist du nur durch mich,» hatte ihr Mann zur ihr gesagt.

Ich bin ich. Doch wer bin ich? fragte ich mich als junge Frau. Lange suchte ich meine Identität in dem Gefühl der Zugehörigkeit: zur Familie, zur Dorfgemeinschaft, zum Freundeskreis, zu den Kommilitonen, den Kollegen. Doch meistens fühlte ich mich nicht richtig zugehörig, immer ein wenig aussen vor, immer ein wenig fremd.

Diesen Faden webte ich weiter. Ich ging ins Ausland, dorthin, wo ich tatsächlich fremd war. Ein freies Teilchen im Raum. Daran haben auch zwei Ehen nur wenig geändert. Ich bin ich. Ich habe gelernt, nein zu sagen, wenn andere ja sagen, und ja, wenn andere nein sagen. Wohl erlebe ich es weiterhin als schmerzhaft, wenn ich mich ausgeschlossen fühle – doch gleichzeitig ist mir das Gefühl vertraut genug, um mich von kollektiven Bewegungen nur schwer anstecken zu lassen.

Ich lerne, mich als Individuum zu erfahren: als unteilbaren Teil eines Ganzen, dem ich angehöre, ohne mich von ihm einverleiben zu lassen. Während der Corona-Jahre habe ich mich als Individuum nicht gegen das Kollektiv ausspielen lassen. Auch die aktuellen Ereignisse helfen mir, mich weiter zu individualisieren. Nicht, um immer egoistischer und eigenbrötlerischer zu werden, sondern immer bereiter, ein eigenverantwortliches und selbstwirksames Mitglied der Menschheitsfamilie zu sein.

 

Individualisierung

Der Begriff der Individualisierung bezeichnet in der Soziologie eine mit der Renaissance und der Aufklärung einsetzende Entwicklung von der Fremd- zur Selbstbestimmung. In der Kunst setzten sich Einzelporträts durch und in der Literatur Autobiografien Durch den Protestantismus wurde auch die Beziehung zu Gott personalisiert. Mit der Industrialisierung und der Modernisierung der westlichen Gesellschaften wurde die Individualisierung zunehmend auch als Machttechnik benutzt, die die Menschen immer mehr in Prekarität, Isolation und Vereinsamung treibt.

Mit dem Kapitalismus verstärkten sich auch die narzisstischen Tendenzen. Ein auf Profit ausgerichtetes System braucht Menschen, die sich empathielos über die Interessen anderer hinwegsetzen. Zwei Weltkriege hatten für die massenhafte Traumatisierung von Kindern und ihre frühe Entfremdung von den Eltern gesorgt, schwarze Pädagogik hatte verhindert, dass die Kinder sich nach eigenen Möglichkeiten entwickeln. So entstanden Generationen, die auf das Gefühl programmiert waren, nicht gut zu sein, so wie man ist.

Damit war das Fundament für eine narzisstische Gesellschaft gelegt. Der Psychiater Hans-Joachim Maaz unterscheidet hierbei Grössenselbst und Grössenklein. Das Grössenselbst drängt sich vor und stellt sich als grösser dar, als es ist. Das Grössenklein manipuliert seine Umwelt, indem es sich als kleiner darstellt, als es ist. In der Kindheit hat es erfahren, dass es dann Aufmerksamkeit bekommt, wenn es sich schwach und unsicher gibt und Probleme hat. In beiden Fällen sind die Menschen nicht sie selbst, in beiden Fällen leben sie nach äusseren Kriterien und nicht nach ihren inneren Möglichkeiten.

Nicht nur unsere Art zu produzieren und zu konsumieren nährt sich von dieser individuellen und kollektiven Erkrankung. Auch unsere Politik profitiert davon. In einem narzisstischen Parteienwesen gibt jeder vor, der Beste zu sein. Da es nicht um Kooperation und gegenseitiges Verständnis geht, sondern darum, wer sich am besten verkauft und die stärkste Lobby hat, ist diese Entwicklung eine zunehmende Belastung und Bedrohung für die Demokratie.

 

Individuation

Anders als die Individualisierung ist Individuation ein Prozess, bei dem sich der Mensch als Individuum vervollständigt, indem er seine eigenen Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten entfaltet. Ziel des Prozesses ist die schrittweise Bewusstwerdung, sich als etwas Eigenes und Einmaliges zu erkennen und zu verwirklichen. Über die Erfahrung, andere zu enttäuschen, Verbote zu übertreten und ungesunde Anpassung zu überwinden lernt der Mensch, sich über die Normen und Wertvorstellungen anderer hinwegzusetzen und zu eigenen Werten zu finden.

Für den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung ist ein Individuationsprozess unerlässlich, um sich von dem Zwang zu befreien, so zu sein und zu handeln, wie man selber nicht ist. Erlösung findet dann statt, wenn wir so handeln, wie wir fühlen, dass wir sind. Dieses Gefühl zu stärken ist Voraussetzung dafür, zu wahrhaftig unteilbaren Wesen zu werden, in denen die Gegensätze sich nicht bekämpfen, sondern gewisserweise umarmen.

Individuation ist eine Reise, auf der wir im Bewusstsein der Zugehörigkeit aus dem Kollektiv heraustreten wie der Tropfen aus dem Meer. Nicht um uns der Gruppe entgegenzustellen, sondern um sie aus Zwängen, Unterdrückung und Gewalt herauszuführen und zu einer echten Familie zusammenzuwachsen, der Familie der Menschheit, in der jeder sich seiner Einzigartigkeit bewusst ist. Ich bin ich. Du bist du. Gemeinsam kommen wir weiter.

Kerstin Chavent

Kerstin Chavent

Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung,  In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.

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