Als wir ankommen, ist es Nacht. Wir sind die Einzigen, die an der kleinen Bahnstation aussteigen, und der Zug setzt sich sogleich wieder in Bewegung. Seine Lichter entfernen sich; es kommt uns vor, als fahre er zurück in die Welt - in die heutige Welt. Auf der Tafel am Stationsgebäude steht:
Les Eyzies, Capitale de la Préhistoire. Wir befinden uns in der Hauptstadt der Steinzeit.
Vor uns beginnt eine schwach beleuchtete Allee mit grossen Bäumen, die wie alte Häuser der Strasse entlang aufgereiht sind. Wir stehen da mit unserem Reisegepäck, noch immer ein wenig verwirrt vom plötzlichen Verlassen des Zuges, und horchen in die uns umgebende Dunkelheit. Zu hören ist nichts als das Singen der Grillen und das gleichmässige leise Rauschen eines Flusses, das wie ein Teil der nächtlichen Stille erscheint. Über dem schwarzen Tal weitet sich die Heimat der Sterne. Es riecht nach Land und Sommer.
Als wir zum Dorf kommen, wird überraschend der Blick frei auf eine hellbeleuchtete Felswand, in deren Mitte wir eine Burg, ein Felsennest mit kleinen Erkern und einer schmalen Terrasse erkennen. Auf ihrer Brüstung steht eine einsame Gestalt, ein Mensch aus Stein, und auch ihm gilt das Scheinwerferlicht. Zu unserem Erstaunen wirkt die Beleuchtung aber nicht künstlich, vielmehr entsteht der Eindruck, als ob die Felsenburg aus sich selbst heraus strahle: Eine wundersame Erscheinung inmitten der Nacht - eine feierliche Begrüssung. Im Schatten der beleuchteten Burg sind die wenigen Häuser von Les Eyzies versammelt, der Strasse entlang einige Restaurants und Hotels. Hinter den Fenstern der Speisesäle sitzen die Gäste beim Abendessen; wir sehen sie unbekümmert reden und lachen, und ihr Anblick erinnert uns ernüchternd daran, dass wir nicht die ersten sind, welche die Kapitale der Steinzeit besuchen.
Wir nehmen ein Zimmer im «Hotel des siecles», dem Gasthaus der Jahrhunderte, geniessen exzellenten französischen Käse und loben den Wein und das Brot. Zu später Stunde dann - die anderen Gäste schlafen wohl schon - ein kleiner nächtlicher Spaziergang an den Fuss der beleuchteten Felsenburg. Was uns jetzt, aus der Nähe betrachtet, vor allem gefangen nimmt, ist die Gestalt oben auf der Terrasse. Der Mensch, der da steht, ist kein heutiger Mensch. Seine fliehende Stirn, die wulstigen Brauen, der breite Kiefer, die gedrungene, zusammengezogene Haltung des Körpers, dies alles gibt ihm etwas Tierhaftes, Dumpfes. Dennoch hält er sich aufrecht, mit schwerfälliger Würde, und sein Blick ist angestrengt in die Ferne gerichtet, in die unendliche Weite der Nacht hinaus: Als hoffe er dort eine Antwort zu finden.
Zu allen Zeiten, so lesen wir später, haben Menschen auf der natürlichen Felsenterrasse von Les Eyzies gehaust und gelebt. Feuerstellen hinterliessen bereits die Neandertaler. Aber das ist so lange her, dass man es gar nicht ermessen kann: 50 000 Jahre liegen dazwischen — 50 000 namenlose, versunkene Jahre. Die Burg wurde im elften Jahrhundert errichtet, von den Herren von Tayac. Mit ihnen begann für das kleine Tal eine Schreckensherrschaft, welche erst in der Zeit der Revolution überwunden wurde, als sich die Bauern erhoben und die verhasste Festung zerstörten.
Hundert Jahre später, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wurde die Felsenburg jedoch bereits wieder aufgebaut und zu einem vorgeschichtlichen Museum gemacht. Man hatte inzwischen erkannt, dass das Dorf, das ganze Tal ungezählte Schätze der Steinzeit barg. Kaum war die Vergangenheit überstanden, erwachte ein neues Interesse an ihr. Eine von Jahr zu Jahr grössere Zahl von Besuchern kam in die Hauptstadt der Steinzeit.
Der Neandertaler auf der Burgterrasse zeigte ihnen den Weg.
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Aus dem Tal wächst der Sommer herauf, dunkelgrün, gelb und blau, und wir stehen auf den Zinnen der Felsenburg von Les Eyzies und überblicken das Land, das sich vor uns auftut. Im Vordergrund, zu unseren Füssen, liegt das Dorf, und erst jetzt, bei Tageslicht, sehen wir, wie unangetastet es ist. Alles scheint noch wie früher - alte Gemäuer, schutzsuchend am Fusse des Felsens, verwinkelte Gässchen, bunt spriessende kleine Gärten; weiter unten, am Bach, wo einst wohl die Mühle stand, das vornehme «Hotel du Moulin», dann die Strasse, die Kirche, der Friedhof, ein Streifen Wiese, wucherndes Ufergebüsch und endlich der Fluss. In grossen Mäandern zieht er durchs Tal, schlankwüchsige Pappeln reihen sich am anderen Ufer, in seiner Biegung dehnt sich ein Kornfeld, zwischen Bäumen versteckt steht ein altes Gehöft; und dahinter, uns gegenüberliegend, erhebt sich die andere Talseite, ein schroffes Felsband, dichter, buschiger Wald.
Welche Schönheit, welche Fruchtbarkeit! Ich blicke auf den ungebändigten Lauf des Flusses, auf diese Wälder, die von allen Seiten in das Tal hineinwachsen und stelle mir vor: So hat es hier schon immer ausgesehen, seit Jahrhunderten, Jahrtausenden - seit dem Ende der kalten Zeiten, als die karge Vegetation endlich aufzublühen begann. Die Menschen der jüngeren Steinzeit, bereits Menschen wie wir, weilten hier oben im Schütze der Felsen und erlebten diese Landschaft in ihrer ersten grossen Blüte; die Gallier, viele Jahrtausende später, schauten dasselbe Bild; die Ritter von Tayac - auch sie bestaunten wohl das Werk der Natur; und wir Heutigen finden alles noch unverändert.
Sogar die Morgensonne ist noch dieselbe: Sie streut ihr Licht und ihre Schatten auf den zeitlosen Grund wie eh und je.
Habe ich die Autos nicht bemerkt, die unten auf der Strasse vorbeifahren? Ist mir nicht aufgefallen, dass einige der alten Häuser in Wirklichkeit bloss naturgetreu nachgebildete Neubauten sind? Und bin ich etwa nicht den Touristen mit ihren weissen Hütchen und Fotoapparaten begegnet? - Ich versuche über all das hinwegzusehen, es interessiert mich jetzt nicht. Wir begeben uns zur Strasse hinunter und mieten zwei Fahrräder.
Die Landschaft lockt uns.
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Am Ausgang des Dorfes erwartet uns zunächst ein grosses, stattliches Landhaus, dessen blütenweisse Fassade über und über mit Efeu bewachsen ist. Den Namenszug entdecken wir erst bei näherem Hinsehen:
Hotel Cro Magnon
Ein ungewöhnlicher Name für ein Hotel, ist unser erster Gedanke. Dann fällt uns ein, dass Cro-Magnon die Bezeichnung für eine bestimmte Art von Menschen der Steinzeit ist. Doch der archaische Name will zu dieser noblen Herberge nicht so recht passen. Wir betreten das Innere des Hotels, durchschreiten stilvoll eingerichtete Räume und begegnen zivilisierten, gutgekleideten Gästen, die mit Höhlenbewohnern von der Rasse der Crô-Magnon zumindest äusserlich eher wenig gemeinsam haben.
Aber wir sind hier in Crô-Magnon! Sie wussten das nicht?
Der ältere Herr an der Reception belächelt unsere Unkenntnis. Im Jahre 1868, so erfahren wir dann, hat man am Nordende des Hauses fünf menschliche Skelette gefunden, die dort seit über 20 000 Jahren begraben waren. Nach ihrem Fundort wurde der Menschentyp jener Epoche benannt, der Cro-Magnon-Mensch, der sich vom heutigen Homo sapiens eigentlich nur darin unterscheidet, dass er noch um einiges grösser und kräftiger war.
Der Herr an der Reception, der uns dies alles freundlicherweise erklärt, führt uns anschliessend um das Haus herum und zeigt uns die Stelle, wo die Gräber entdeckt worden sind. Sie befindet sich im Schutze eines Felsabbruchs; zu sehen ist aber nichts weiter als eine Vertiefung im Boden und eine schlichte Plakette, die darauf hinweist, was hier gefunden wurde.
Wir haben mehr erwartet, die Skelette selbst oder wenigstens Photographien davon, und eigentlich müssten wir ein wenig enttäuscht sein. Dennoch macht der unscheinbare Fundort Eindruck auf uns, vielleicht gerade, weil es so wenig zu besichtigen gibt. Das einzige, was wir zur Verfügung haben, ist unsere Vorstellungskraft, die sich leise zu rühren beginnt.
In seltsamer Andacht, ohne zu sprechen, stehen wir einen Augenblick vor dem einstigen Grab. Das alte, efeubewachsene Hotel wirft seine Schatten auf uns.
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Crô-Magnon hinter uns lassend, besteigen wir unsere Räder und gleiten in die Landschaft hinein, durchfahren das Tal, dem Fluss entlang, durch Felder und Wälder, an abseits gelegenen Höfen und Hütten vorbei. Die Luft ist von Sommer erfüllt, von herben Gerüchen, von Wärme und Licht: Was für ein Tag!
Eine kleine Holztafel am Strassenrand - «Grotte de Saint-Cirq 1 km» - verführt uns wenig später auf eine Seitenstrasse und nach etlichen Windungen zu einem winzigen Dörfchen, das sich schutzsuchend unter ein Felsband drängt. Die paar wenigen Lebkuchenhäuser haben sich so klein wie möglich gemacht; sie sind direkt an den Fels gebaut, der vom Rauch ihrer Kamine russgeschwärzt ist. An unzugänglichen Stellen lassen Löcher im Fels kleine Höhlen vermuten, die vielleicht als Vorratskammern oder Schlupfwinkel dienten.
Aus der obersten Öffnung hängt das abgerissene Ende einer Strickleiter heraus. Seit wann hängt sie wohl da? Seit Jahren? Seit Jahrhunderten? Auch an diesem Ort müssen schon in alten Zeiten Menschen wohnhaft gewesen sein. Alles ist noch wie früher; die moderne Zeit scheint das Dörfchen unter der Fluh übersehen zu haben.
Das Klappern unserer Fahrräder unterbricht die schläfrige Stille. Ein Hund bellt, er hat uns kommen gehört, und aus dem hintersten Felsenhaus tritt ein kleingewachsener älterer Mann. Er stellt sich uns vor als der Verwalter der Grotte von Saint-Circ und bittet uns, nachdem wir den Wunsch geäussert haben, die Grotte zu sehen, zunächst ins Hausinnere.
Wir betreten ein kleines Museum mit mehreren Schaukästen, die eine Sammlung von Fundgegenständen aus der Steinzeit enthalten. Die Sammlung ist nicht sehr gross, aber behutsam angeordnet und mit liebevollen handschriftlichen Anmerkungen versehen. Die Fundstücke bezeugen, dass Steinzeitmenschen auch in Saint-Cirq hausten. Unzählige Generationen siedelten nach ihnen hier und stiessen unter den Felsen immer wieder auf werkzeugähnliche Gegenstände und Schmuckstücke.
Sie betrachteten das Gefundene vermutlich mit Neugier, ohne es aber gebrauchen zu können. Erst im 19. Jahrhundert kamen Forscher in die Gegend von Saint-Cirq, Steinzeitforscher, die sich für die Relikte aus der Vergangenheit sehr interessierten. Nun entwickelten auch die Einheimischen ein Interesse dafür. Sobald sie etwas fanden, übergaben sie es ihrem Herrn, dem Gutsbesitzer von Saint-Cirq, oder sie brachten es nach Les Eyzies, in das damals neu eröffnete Steinzeitmuseum.
Der Verwalter weist auf die Faustkeile in der Vitrine hin: Scharfkantige Werkzeuge aus Feuerstein, die als Messer oder Bohrer gedient haben mögen. «So etwas findet man heute noch», sagt der Mann. Er selber habe kürzlich in einer Schuttablagerung einen Faustkeil entdeckt. Er zeigt uns das kostbare Stück.
«Wissen Sie», verrät er uns lächelnd, «nicht alle Leute hier in der Gegend erstatten Meldung, wenn sie etwas gefunden haben. Sie wollen nicht, dass irgend ein Wissenschaftler aus Paris ihren Gemüsegarten durchwühlt.»
Dass der Verwalter der Grotte dies sagt, legt den Verdacht nahe, auch er habe Kostbarkeiten ausgegraben, die er für sich behält. Als archäologischer Laie wüsste er zwar nicht viel damit anzufangen. Aber ich bin sicher, er würde das Gefundene mit der gleichen Sorgfalt aufbewahren, wie wenn es ein Erbstück aus seiner Familie wäre. Er würde es nicht aus der Hand geben.
«Wir werden jetzt die Grotte besichtigen», sagt der Einheimische. Er spricht zu uns nun im routinierten Tonfall des Fremdenführers und bittet uns, mit ihm zu kommen. Hinter dem kleinen Museum befindet sich im Fels eine metallene Pforte, die uns vorher nicht auffiel. Der Verwalter, der eine Handlampe bei sich hat, öffnet das Schloss der Tür, und wir treten hinter ihm in die Dunkelheit ein.
Teil 2 folgt am 17. Juli: Die Grotte des Zauberers - Der Handwerker aus der Steinzeit
«Im Land der Vergangenheit» stammt aus dem Buch von Nicolas Lindt «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte und Dorfgeschichten» (4. Auflage 2019). Der Autor unternahm die Reise in die Steinzeit Ende der 80er-Jahre, aber alles, was er beschreibt, ist in der französischen Dordogne auch heute noch zu entdecken.