Der persische Mystiker Rumi (13. Jh.) sagte einmal: «Jenseits von Richtig und Falsch ist ein Ort. Dort treffen wir uns.» Wenn wir die Welt und die Menschen nicht mehr in richtig und falsch, in moralisch gut und verwerflich, in «wir» und «ihr» oder in «links» und «rechts» einteilen, dann sind neue, tiefere Verbindungen möglich, Brücken aus Verständnis und aus Achtung vor der Würde, gemeinsame Schnittmengen. Jenseits der Bewertungen in gängigen Narrativen liegt ein Feld, wo wir uns vorurteilsfrei begegnen können! Es gibt immer Gründe für Meinungen und Haltungen meines Gegenübers, sogar auch für die Abgründe der Menschen! Man muss diese nicht verstehen oder gar gutheissen. Manchmal reicht es schon, sie einfach nur anzuerkennen. Das wäre schon ein grosser Schritt zu mehr Frieden.
Derzeit wird die Rüstungslogik befeuert. Der Pazifismus hat schlechte Karten. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die modernen Gesellschaften als «Sorgen- und Erregungsgemeinschaften» beschrieben, die aus Gründen des Selbsterhaltes darauf angewiesen seien, sich eine permanente gemeinsame Unruhe zu bewahren. Es dominiert das Denken in Worst-Case-Szenarien, das Frontstellungen verstärkt und offen keinen anderen Gedanken mehr zulässt als den der massiven Aufrüstung (oder in den letzten Jahren: der massiven Ängste).
In ihrem Beitrag «In der Hysterie-Falle» beschreiben die beiden Sozialwissenschaftlicher Stephan Hensell und Klaus Schlichte, wie Politik, Medien und Wissenschaft nur noch enge Meinungskorridore bei diesem Thema zulassen. Deshalb müssten wir Abrüstung wieder völlig neu denken (zitiert nach: www.ipg-journal.de), statt uns mit immer mehr «Sondervermögen», sprich: Schulden für die kommenden Generationen, auf «Kriegstauglichkeit» umzurüsten.
Keine Angst vor dem Absturz
Ja, es scheint ein schmaler Grat zu sein, auf dem wir zur Zeit (welt-)politisch, wirtschaftlich, kulturell und bisweilen auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen stehen. Manchmal wäre es gut, einfach ein mutiger Seiltänzer zu sein – ohne Angst vor dem Absturz, dafür mit viel Offenheit für einen ehrlichen Diskurs von Mensch zu Mensch, jenseits von richtig und falsch…
Tauwetter und Erneuerung
Die Kälte ist vorbei. Das Tauwetter hat den Schnee längst schmelzen lassen. In der politischen Dimension umschreibt das Tauwetter einen Prozess der Versöhnung oder der neuen Annäherung.
Es muss also – endlich! – Frühling werden!
Der Frühling steht aber auch für Erneuerung. Alles erwacht aus dem Winterschlaf und beginnt neu zu blühen, weil das Abgestorbene von der Natur friedlich verabschiedet wurde. So kann der Frühling zu einer Zeit werden, in der alte Gewohnheiten, Überzeugungen und Muster losgelassen werden, um neue Horizonte und Resonanzen zu ermöglichen.
Neuanfang hat mit der Entscheidung zu tun, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun oder bisher gängige Narrative zu hinterfragen. So kann Raum geschaffen werden für neue Erkenntnisse oder Befindlichkeiten. Es geht um den Glauben an Entscheidungsfreiräume, die selbst in ausweglos scheinenden oder existenziell bedrohlichen Situationen möglich sind. Diese Erkenntnis verdanken wir dem Arzt und KZ-Überlebenden Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse.
Das Beispiel des Boyan Slat
Manchmal fängt es schon mit kleinen Dingen an, wie wir solche Entscheidungsfreiräume nutzen.
«Protestieren Sie nicht gegen Dinge, mit denen Sie nicht einverstanden sind, sondern arbeiten Sie auf eine Zukunft hin, mit der Sie einverstanden sind.»
So wird im Hintergrundartikel des Magazins des Tagesanzeiger Nr. 13 vom 29. März 2025 Boyan Slat zitiert. Slat ist der noch sehr junge und innovative «Plastikfänger» und Gründer von The Ocean Cleanup. Slat will die Meere von Plastikmüll befreien, eine schier unlösbare Aufgabe. Allein im Pazifik treiben auf einer Fläche dreimal so gross wie Frankreich 1.8 Billionen Plastikteile! Aber der Anfang ist gemacht.
Was sich 1941 die beiden britischen Chemiker Victor Yarsley und Edward Couzens als das kommende Plastikzeitalter in buntesten Farben ausgemalt hatten, ist seitdem zu einem toxischen Erbe geworden: jährlich produziert die Menschheit 400 Millionen Tonnen Plastik. Wohin damit?
Slat hat angefangen, diese Frage zu beantworten. Er sieht sich nicht als Umweltschützer, sondern als Problemlöser. Er wird sein Leben lang dafür brauchen, auf eine Zukunft hinzuarbeiten, mit der er einverstanden ist. Aber er ist glücklich dabei, so scheint es. Er lebt seine Bestimmung…
Der Frühling ruft
Es gibt viel zu tun: Aufräumen, vielleicht einige Probleme lösen, die Wintergarderobe verstauen, alten Müll entsorgen, neues Sonnenlicht durch frisch geputzte Fenster hereinlassen, Bärlauchpesto machen, seinen Liebsten einen Blumenstrauss vorbeibringen. Und sich einfach auf die schönen Aussichten des Sommers freuen.
Schöne Aussichten
Im Keimling die Pflanze
in der Eichel
den starken Baum
in den ersten Wolken
das kommende Gewitter
erahnen
Das Rudimentäre
Vorläufige
Unfertige
wertschätzen
Dich und mich
jetzt schon lieben
auch wenn wir noch immer
ganz am Anfang stehen.
Ich wünsche Dir, Euch und Ihnen mutige Schritte, wärmende Frühlingstage, inspirierende Begegnungen mit dem neuen Aufblühen überall – und immer wieder den «Zauber des Anfangs, der uns beschützt und der uns hilft zu leben», wie es Herman Hesse sagt.
Und auch das noch: immer wieder mal einen Blick hinüber auf den «Ort jenseits von richtig und falsch».