«Jugendliche, die nicht weiterdenken, sind die Ja-Sager von morgen.»

April 1973. Wie der Pestalozzi-Kalender, an dem ich kein gutes Haar liess, die Jugend erziehen wollte - und wie er es heute immer noch tut. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE - Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #57

Der Pestalozzi-Kalender - «Gouvernementale Marschrichtung» seit 115 Jahren. / Collage Nicolas Lindt

Nach meiner Hymne auf Joni Mitchell und ihr Leben jenseits der Konvention holte mich der Tages-Anzeiger unsanft zurück in die brave Schweiz zurück mit einem Thema, das mich zunächst nicht begeisterte: Ob ich nicht ein Porträt des Pestalozzi-Kalenders verfassen könne?

Der «Kalender» für 13- bis 16-jährige Jugendliche, 1908 zum ersten Mal publiziert, war eine nationale Institution und das perfekte Weihnachtsgeschenk von der Grossmutter oder vom Götti. Herausgegeben wurde er von der «Pro Juventute», deren Zielsetzung darin bestand, für die Schweizer Jugend tätig zu sein. Diesen Auftrag erfüllte das jährlich erscheinende Büchlein geradezu vorbildlich. Mindestens aus erwachsener Sicht.

Zunächst etwas widerwillig, wie immer, wenn die Idee nicht von mir kam, erklärte ich mich bereit, über den Kalender zu schreiben, mit dem ich selber als Jugendlicher nie beglückt worden war. Offenbar hatte ihn mir das Christkind in weiser Voraussicht ersparen wollen. Denn kaum vertiefte ich mich nun in die neueste Ausgabe, erwies sich das staatlich subventionierte Machwerk als gefundenes Fressen für meine weltanschauliche Überzeugung.

«Ein rechter Schweizerbub» begann ich meinen Befund, «hat nicht nur ein Sackmesser im Hosensack, sondern auch einen Pestalozzi-Kalender bei sich. Oder hat sich da etwas geändert? Wohl kaum, denn beide gelten als Symbole helvetischer Qualität, die sich bewährt hat und deshalb keiner kritischen Begutachtung mehr bedarf.»

Die kritische Begutachtung meinerseits lag bereits auf der Lauer – doch zunächst beschrieb ich den Inhalt des Qualitätsprodukts, das in züchtiger Weise aufgeteilt war in eine Fassung für Buben und eine für Mädchen. 

«Der Kalender» – der noch immer eine Auflage von 60’000 Exemplaren erreichte – «bietet einen Querschnitt durch verschiedenste Themen unserer Zeit, damit auch wirklich alle Leser auf ihre Rechnung kommen: Bastler, Experimentierfreudige, technisch Interessierte, Pop- und Mode-Fans, Reiselustige, werdende Patrioten und Strebernaturen.»

Unter den jährlich wiederkehrenden Schwerpunkten interessierten mich zunächst die «Probleme der Schweiz». Doch die Oberflächlichkeit, mit der sie behandelt wurden, störte mich. «Im Abschnitt ‹Sorge für das Alter› zum Beispiel steht: ‹Seit dem Jahr 1948 besitzt die Schweiz eine ausgezeichnete Altersversicherung, die vielen Menschen hilft, das Altsein eine sorglose Zeit werden zu lassen. › Keine Rede von der vermehrten Isolierung der alten Leute in Heimen, sondern nur die Schlussfolgerung, dass noch mehr ‹schöne und heimelige Unterkünfte› geschaffen werden müssten.»

Keine Rede auch davon, würde ich heute hinzufügen, dass 13- bis 16-Jährige möglicherweise noch keine «Sorge für das Alter» aufbringen wollen. Der Abschnitt «Berufliche Ausbildung» hätte da schon interessanter sein können. «Doch auch hier zeigt sich, wie die Kalender-Autoren an der eigentlichen Problematik vorbeisteuern. Kein Wort über die veralteten Lehrverhältnisse, die oft ungerechten Arbeitsbedingungen in der Lehre, kein Wort über die Diskrepanz zwischen privilegierten Kantonsschülern und ihren werktätigen Altersgenossen. Dafür Gemeinplätze wie: ‹Jeder Jugendliche soll recht viel Bildung erhalten, jedem sollen alle Türen der Ausbildung offenstehen. Eine schöne Aufgabe ist hier zu erfüllen.›»

«Zwangsläufig», fuhr ich fort, «muss beim Leser der Eindruck entstehen, es sei doch alles in Ordnung und Kritik daher fehl am Platz. Die tendenziöse Darstellung gipfelt in der Zitierung eines passenden Slogans: ‹Weiter aufwärts alle! Auf dem rechten Bildungsweg zum richtigen Berufsziel. Den Kindern zuliebe, der Wirtschaft zunutze und zum Wohle der Heimat.›»

Wen erstaunt es, denke ich heute, dass wir den Erwachsenen damals kein Wort  mehr glaubten? «Einem jungen Leser, der auf seine Fragen nach Antworten sucht, ist nicht geholfen mit solchen Phrasen.»

Von Kapitel zu Kapitel voranschreitend, bestätigte sich mein Vorurteil immer mehr. «Interessiert sich ein Jugendlicher wohl dafür, was ‹Türen erzählen›?» fragte ich kopfschüttelnd. «Unter diesem Titel beschäftigt sich ein weiterer Beitrag mit der Herkunft von Schnitzereien in alten Türen. Ein paar Seiten weiter geht es um ‹Burgen und Schlösser›, ‹Pestalozzi als Dichter›, ‹Taubentürme in Ägypten› oder ‹Wohnungen gestern›. Und fast alle Texte sind ähnlich sachlich, trocken, beinahe wissenschaftlich verfasst. Haben ihre Verfasser auch nur einmal daran gedacht, dass ihre Aufgabe darin bestand, für Jugendliche zu schreiben?»

Sie hatten daran gedacht. Doch die Jugend musste erzogen werden. Junge Menschen mussten lernen, interessant zu finden, was die Erwachsenen interessant fanden. Sie sollten sogar die Sprache der Erwachsenen schlucken, wie eine bittere Pille, ohne die es keinen Platz in der erwachsenen Welt gab. Die Protestbewegung der Jahre davor war an den Pädagogen des Pestalozzikalenders spurlos vorübergegangen. Mein Bericht war vermutlich der erste, der an der Unbeweglichkeit des Kalenders rüttelte. Und ich liess kein gutes Haar an der verstaubten Institution.

«Auch das Zeitgeschehen – mit dem durch das Fernsehen heute bereits Primarschüler konfrontiert sind – kommt im ganzen Kalender nur in wenigen Beiträgen vor. ‹Der rote Mann grollt› zum Beispiel ist ein sicherlich gut gemeinter Artikel über das Indianerproblem in den USA, aber mir scheint bezeichnend, wie lobend betont wird, dass der besorgte amerikanische Staat in den Indianerreservaten Industrie ansiedeln wolle: ‹Im Südwesten des Landes›, weiss der Pestalozzikalender, ‹gibt es zum Beispiel Stämme, die für die Herstellung von Silberschmuck bekannt waren. Dort werden heute elektronische Apparate für Flugzeuge fabriziert. ›»

«Der junge, unvoreingenommene Leser soll glauben, die Regierung sei menschenfreundlich», kommentierte ich. «Kein Wort davon, dass die Indianer auf diese Weise bewusst in ein neues Abhängigkeitsverhältnis zu den ‹Weissen› geraten und ihre Entfremdung noch grösser wird.»

Ein Beitrag über Uhren wurde nicht einmal von einem Redaktor verfasst, sondern gleich von der PR-Abteilung der Uhrenindustrie selbst. «Der Artikel geht von der Annahme aus, alle Uhren der Welt würden ganz plötzlich verschwinden. Dann heisst es wörtlich: ‹Ihr werdet denken: Zum Schlafen geht’s auch ohne Uhr. Aber für alle andern Tätigkeiten, welche Katastrophe! Wie kann in diesem Fall gearbeitet, getrunken, gegessen, kurz: Wie kann ohne  Uhren gelebt werden?›»

«Ohne Uhren geht es nicht, wird der Leserschaft beigebracht – und das in so überzeugender Form, dass die Uhrenindustrie unter den jungen Lesern des Pestalozzi-Kalenders mit Sicherheit neue Kunden gewinnen wird.»

Heute wird der Jugend ein anderes kleines Produkt angeboten, ohne dessen permanente Präsenz Jugendliche nicht leben könnten. Vor 50 Jahren war es die Armbanduhr – von der noch lange nicht jeder junge Mensch glaubte, sie tragen zu müssen. Auch ich gehörte zu diesen Verweigerern. Doch Werbung im redaktionellen Teil war schon damals eine raffinierte Form der Verführung. Und viele Jugendliche, so glaubte ich, besassen nicht die Fähigkeit, wahre Absichten zu durchschauen. Elaborate wie den Pestalozzi-Kalender machte ich dafür mitverantwortlich. 

«Bei der Lektüre des Kalenders lernt ein junger Mensch kaum, seine Kritik zu formulieren oder gar Bestehendes in Frage zu stellen. Doch gerade in diesem Alter kann sich erstmals kritisches Bewusstsein bilden. Im Pestalozzi-Kalender wird dieser natürliche Prozess nach meiner Ansicht verhindert. Und Jugendliche, die nicht gelernt haben, weiterzudenken, werden die Ja-Sager von morgen sein.»

***

Als ich im weltweiten Netz herausfinden wollte, wie lange nach meinem Verriss den braven Pestalozzi-Kalender noch weiterlebte, entdeckte ich zu meiner nicht geringen Verwunderung: Es gibt ihn noch heute. Alle Zeitgeiststürme, alle Verlagswechsel und alle Redaktoren, die kamen und gingen, hat der Kalender heil überstanden. Inzwischen nennt er sich Schüleragenda, tritt in zeitgemässem Design auf und ist jedes Jahr einem übergeordneten Thema gewidmet. 2020 ging es um «Zukunft», 2021 um «Mode» und 2022/23 um «Kindheit».

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der letzten «Agenda» genügt, um festzustellen, dass der Pestalozzi-Kalender auch nach einem weiteren halben Jahrhundert noch immer derselbe geblieben ist. Das beginnt schon gleich auf der ersten Seite. Eröffnet wird der redaktionelle Teil mit der offiziellen Fotografie der aktuellen Schweizer Landesregierung, ergänzt durch ein Interview mit Bundesrätin Viola Amherd. Damit stellt der Kalender klar, dass er auch 115 Jahre nach seiner Gründung noch immer eine gouvernementale Marschrichtung hat, indem er nicht das Volk, den Souverän in der Schweiz an den Anfang stellt, sondern die Vertreter des Staates.

Dieser Staat jedoch hat heute nicht mehr dieselbe Grundhaltung wie vor Jahrzehnten. Das widerspiegelt sich auch in der Schüleragenda. Ihr Inhalt teilt sich in Stichworte auf, und das erste Stichwort ist die «Familie». Vor 50 Jahren hätte der staatskonforme Kalender die traditionelle Familie gelobt. Heute hingegen, wo die Obrigkeit nicht mehr bürgerlich, sondern links denkt, sind andere Perspektiven erwünscht: «Aufwachsen mit vier Vätern» und «Wenn die Eltern sich trennen» lauten die Beiträge. Damit die jungen Leser von heute nicht etwa glauben, eine intakte Familie hätte noch eine Zukunft.

Unter dem Stichwort «Politik» fragt der Kalender ganz im Sinne der Linken und Grünen: «Sollen wir mit 16 Stimmen gehen dürfen?» Und ein weiterer Beitrag bringt unmissverständlich zum Ausdruck, welche Jugend heute als vorbildlich gilt: «Jung und politisch – die Klimajugend». Dass es auch junge Menschen gibt, die von der Hysterie um den Klimawandel nicht so viel halten, ist der Kalender-Redaktion keine Zeile wert.

Das hochaktuelle Kapitel «Pandemie» schliesslich könnte davon berichten, wie schwierig und trostlos es für die Jungen war, sich monatelang in Gruppen nicht treffen zu können, wie ungesund und bedrückend das Tragen der Masken war, wie Jugendliche ausgegrenzt wurden, wenn sie die Maske verweigerten und wie viele junge Leute psychologische Hilfe brauchten, weil sie die Massnahmen nicht ertrugen. Doch kein Wort der Kritik, was den Jungen angetan wurde. Stattdessen ein Beitrag, dessen Titel schon alles sagt: «Mich beeindruckt, wie die Jungen die Massnahmen mittragen».

Ich gebe zu, dass ich mir die Mühe kein zweites Mal machte, den Pestalozzi-Kalender im Detail zu lesen. Das Bild, das ich vom Inhaltsverzeichnis gewonnen habe, genügt mir. Ich stelle fest, dass ich auch 50 Jahre danach dieselben Vorbehalte empfinde wie seinerzeit. So wie der Kalender den Jungen damals das bürgerliche Denken verabreichte, so füttert er sie ein halbes Jahrhundert später mit linkem Denken – und damals wie heute ist es ein Denken von oben. Das vom Staat erwünschte, «richtige» Denken. Kein kritisches Denken. Denn kritisches Denken kommt immer von unten. Kritisches Denken sagt immer zuerst einmal nein.

Fortsetzung folgt am 17. September