Jugendliche im Transit
Interview mit Pascal Helle, Lehrer im Berufsbildungszentrum Neuenburg
Der Zugang zur Schule oder zur beruflichen Ausbildung ist in der Schweiz zahlreichen Jugendlichen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung verwehrt. Das Recht auf Bildung ist – im Unterschied zum Recht auf Niederlassung – ein Grundrecht. Es ist denn auch grundfalsch, Schule und Ausbildung engagierten Jugendlichen aus formalen Gründen zu verbieten.
Pascal Helle*, Sie sind Lehrer im Berufsbildungszentrum in Neuenburg und Sie unterrichten in etwas besonderen Schulklassen.
Pascal Helle: Vor 12 Jahren habe ich Klassen für die „Jugend im Transit“ (JT) hier im Berufsbildungszentrum eingerichtet. Das ist eine Integrationsmöglichkeit für Jugendliche, die eben in der Schweiz angekommen sind und deren Muttersprache eine andere ist als das Französische. In diesen Klassen gibt es zwei Grundausrichtungen: eine für die Sprachen, die andere für die Integration. Diese Jugendlichen sind zwischen 16 und 20 Jahre alt. Die Zulassung zur Schule geschieht unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Schülerinnen und Schüler, egal ob legal oder illegal. Die Ausbildung umfasst nicht nur normale Schulfächer wie Mathematik, Französisch oder Informatik, sondern auch einen Sozialkunde-Unterricht, der über die sozialen Institutionen mit ihren Beratungs- und Hilfsangeboten wie Familienplanung, gesundheitliche Prävention und Behandlung, Suchtprävention usw. aufklärt. Dafür gehen wir mit ganzen Klassen vor Ort oder Vertreterinnen und Vertreter von Beratungsstellen besuchen die Klassen hier im Zentrum. Unter diesen Vertretern gibt es auch Migrantinnen und Migranten welche ihrerseits Beispiele erfolgreicher Integration sind, was natürlich auf die Schülerinnen und Schüler motivierend wirkt.
Wie und aus welchem Grund kommen denn diese Jugendlichen überhaupt darauf, diese JT-Klassen zu besuchen?
Die meisten Jugendlichen, welche die JT-Klassen besuchen, kennen diese vom Hörensagen. Als wir mit „Jugend im Transit“ begannen, waren es die städtischen Sozialdienste, das Protestantische Sozialzentrum oder auch Caritas, welche den jungen Migrantinnen und Migranten diese Ausbildung empfahlen. Heute kommen die Schüler von selbst.
Unter diesen Jugendlichen sind doch auch sog. „sans papiers“, solche ohne Aufenthaltsgenehmigung …
Ja, es gibt junge Migranten und Migrantinnen ohne reguläre Aufenthaltspapiere: sie sind im Rahmen einer Familienzusammenführung in die Schweiz gekommen oder sie besitzen noch eine – abgelaufene - provisorische Genehmigung.
Welches sind die grössten Schwierigkeiten, denen diese Jugendlichen hier bei uns begegnen?
Das Schlimmste für sie ist die Angst vor der Polizei, vor deren Identitätskontrollen und die Angst vor der Ausweisung und Rückschaffung. Infolge ihrer schwierigen und unstabilen Situation sind diese Jugendlichen in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Sie können beispielsweise eine Reise ihrer Klasse ins Ausland nicht mitmachen. Die Unsicherheit trifft aber vor allem ihr Gemüt, ihre Psyche, denn der Zugang zu einer normalen beruflichen Ausbildung ist ihnen verwehrt. Jene, die den Eintritt ins Gymnasium schaffen, erhalten eine zusätzliche Aufenthaltsfrist von drei Jahren, jene die nicht reüssieren und denen diese Perspektive verwehrt bleibt, stehen unter zusätzlichem Druck.
Was empfinden Sie gegenüber diesen Jungen? Gibt es eine Person die Sie besonders beeindruckt hat?
Die Studentinnen und Studenten sind für uns eine grosse Bereicherung. Sie bringen viel guten Willen mit und viele Talente – von allem würde gerade unsere Gesellschaft profitieren. Ich erinnere mich besonders an eine junge Frau aus Afrika, sie war 18-jährig, die bei uns ein Jahr lang eine JT-Klasse besucht hatte. Weil sie begabt war, hatte sie darauf eine wirtschaftliche Ausbildung von drei Jahren erhalten. Weil ihre Familie nicht hier war, lebte sie allein in einem kleinen Studio. Alle 6 Monate ungefähr wurde sie von der Polizei ohne Anmeldung „besucht“, um 6 Uhr morgens. Sie solle verreisen, sagte man ihr. Die junge Frau hatte einen Freund, der eine Aufenthaltsbewilligung C besass und bereit war, sie zu heiraten. Sie aber verweigerte eine Heirat nur um irgendwelcher Papiere willen. Ich versuchte bei den zuständigen Stellen zu ihren Gunsten zu intervenieren, aber die Aufenthaltsbewilligung wurde ihr trotzdem verweigert. Diese Umstände hatten sie aber nicht daran gehindert, ihre Ausbildung erfolgreich mit dem Diplom abzuschliessen. Erst danach hat sie geheiratet und sie ist heute eine perfekt dreisprachige Sekretärin. Der Weg dieser jungen Frau ist umso bemerkenswerter, als sie seinerzeit auf der Flucht vor einem italienischen Prostituierten-Netzwerk in die Schweiz geflüchtet war. Und das alles unter behördlichen Verdächtigungen und getrübten Beziehungen zur Polizei.
Was halten Sie persönlich von der Situation der „illegalen“ Jugendlichen und was schlagen Sie vor?
Eine grosse Anzahl Jugendlicher, die in einer „illegalen“ Situation leben, arbeiten in der Schattenwirtschaft. Sie besuchen keine JT-Ausbildung. Die genaue Zahl dieser Jugendlichen kennen wir nicht.
Meiner Meinung nach müssen wir davon ausgehen, dass diese Jugendlichen hier bleiben und arbeiten. Es ist eine zutiefst scheinheilige Situation: wir sind zufrieden, dass diese Jugendlichen im grauen und schwarzen Markt arbeiten, denn sie bezahlen ja Steuern und Versicherungsprämien. Das Recht auf Bildung empfinde ich als Grundrecht, ähnlich wie die die Rechte auf Bewegungsfreiheit oder Meinungsäusserungsfreiheit. In den 90er Jahren hatten die Kantonsbehörden den Saisonnierkindern erlaubt, die Schulen zu besuchen, weil man das Aufenthaltsrecht vom Recht auf Bildung entkoppelt hatte. Zur Schule gehen bedeutete nicht, dass man in der Schweiz bleiben durfte, aber die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung enthielt kein Schulverbot. In der heutigen Situation müssen wir das Recht auf Bildung vom Aufenthaltsrecht trennen, nicht zuletzt um auf die Ängste gegenüber einem allzu starken Wachstum von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung zu antworten. Die Menschen sollen und müssen sich ausbilden, auch wenn sie nicht hier bleiben dürfen. Die schweizerische Investition in die Ausbildung dieser Leute kann in diesem Sinne als Entwicklungshilfe betrachtet werden.
* Pascal Helle, verheiratet und Vater von drei Kindern, ist 1951 in Frankreich geboren. Seit 1973 arbeitet er als Lehrer, zunächst in einem Heim für sozial benachteiligte Jugendliche, dann in Aufnahmeklassen. Er ist Mitglied des Generalrats (Legislative) der Stadt Neuenburg seit 2006 (Solidarités).
Quelle: Mediendienst «Hälfte» www.haelfte.ch
(Übersetzung: Oswald Sigg)
Pascal Helle*, Sie sind Lehrer im Berufsbildungszentrum in Neuenburg und Sie unterrichten in etwas besonderen Schulklassen.
Pascal Helle: Vor 12 Jahren habe ich Klassen für die „Jugend im Transit“ (JT) hier im Berufsbildungszentrum eingerichtet. Das ist eine Integrationsmöglichkeit für Jugendliche, die eben in der Schweiz angekommen sind und deren Muttersprache eine andere ist als das Französische. In diesen Klassen gibt es zwei Grundausrichtungen: eine für die Sprachen, die andere für die Integration. Diese Jugendlichen sind zwischen 16 und 20 Jahre alt. Die Zulassung zur Schule geschieht unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Schülerinnen und Schüler, egal ob legal oder illegal. Die Ausbildung umfasst nicht nur normale Schulfächer wie Mathematik, Französisch oder Informatik, sondern auch einen Sozialkunde-Unterricht, der über die sozialen Institutionen mit ihren Beratungs- und Hilfsangeboten wie Familienplanung, gesundheitliche Prävention und Behandlung, Suchtprävention usw. aufklärt. Dafür gehen wir mit ganzen Klassen vor Ort oder Vertreterinnen und Vertreter von Beratungsstellen besuchen die Klassen hier im Zentrum. Unter diesen Vertretern gibt es auch Migrantinnen und Migranten welche ihrerseits Beispiele erfolgreicher Integration sind, was natürlich auf die Schülerinnen und Schüler motivierend wirkt.
Wie und aus welchem Grund kommen denn diese Jugendlichen überhaupt darauf, diese JT-Klassen zu besuchen?
Die meisten Jugendlichen, welche die JT-Klassen besuchen, kennen diese vom Hörensagen. Als wir mit „Jugend im Transit“ begannen, waren es die städtischen Sozialdienste, das Protestantische Sozialzentrum oder auch Caritas, welche den jungen Migrantinnen und Migranten diese Ausbildung empfahlen. Heute kommen die Schüler von selbst.
Unter diesen Jugendlichen sind doch auch sog. „sans papiers“, solche ohne Aufenthaltsgenehmigung …
Ja, es gibt junge Migranten und Migrantinnen ohne reguläre Aufenthaltspapiere: sie sind im Rahmen einer Familienzusammenführung in die Schweiz gekommen oder sie besitzen noch eine – abgelaufene - provisorische Genehmigung.
Welches sind die grössten Schwierigkeiten, denen diese Jugendlichen hier bei uns begegnen?
Das Schlimmste für sie ist die Angst vor der Polizei, vor deren Identitätskontrollen und die Angst vor der Ausweisung und Rückschaffung. Infolge ihrer schwierigen und unstabilen Situation sind diese Jugendlichen in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Sie können beispielsweise eine Reise ihrer Klasse ins Ausland nicht mitmachen. Die Unsicherheit trifft aber vor allem ihr Gemüt, ihre Psyche, denn der Zugang zu einer normalen beruflichen Ausbildung ist ihnen verwehrt. Jene, die den Eintritt ins Gymnasium schaffen, erhalten eine zusätzliche Aufenthaltsfrist von drei Jahren, jene die nicht reüssieren und denen diese Perspektive verwehrt bleibt, stehen unter zusätzlichem Druck.
Was empfinden Sie gegenüber diesen Jungen? Gibt es eine Person die Sie besonders beeindruckt hat?
Die Studentinnen und Studenten sind für uns eine grosse Bereicherung. Sie bringen viel guten Willen mit und viele Talente – von allem würde gerade unsere Gesellschaft profitieren. Ich erinnere mich besonders an eine junge Frau aus Afrika, sie war 18-jährig, die bei uns ein Jahr lang eine JT-Klasse besucht hatte. Weil sie begabt war, hatte sie darauf eine wirtschaftliche Ausbildung von drei Jahren erhalten. Weil ihre Familie nicht hier war, lebte sie allein in einem kleinen Studio. Alle 6 Monate ungefähr wurde sie von der Polizei ohne Anmeldung „besucht“, um 6 Uhr morgens. Sie solle verreisen, sagte man ihr. Die junge Frau hatte einen Freund, der eine Aufenthaltsbewilligung C besass und bereit war, sie zu heiraten. Sie aber verweigerte eine Heirat nur um irgendwelcher Papiere willen. Ich versuchte bei den zuständigen Stellen zu ihren Gunsten zu intervenieren, aber die Aufenthaltsbewilligung wurde ihr trotzdem verweigert. Diese Umstände hatten sie aber nicht daran gehindert, ihre Ausbildung erfolgreich mit dem Diplom abzuschliessen. Erst danach hat sie geheiratet und sie ist heute eine perfekt dreisprachige Sekretärin. Der Weg dieser jungen Frau ist umso bemerkenswerter, als sie seinerzeit auf der Flucht vor einem italienischen Prostituierten-Netzwerk in die Schweiz geflüchtet war. Und das alles unter behördlichen Verdächtigungen und getrübten Beziehungen zur Polizei.
Was halten Sie persönlich von der Situation der „illegalen“ Jugendlichen und was schlagen Sie vor?
Eine grosse Anzahl Jugendlicher, die in einer „illegalen“ Situation leben, arbeiten in der Schattenwirtschaft. Sie besuchen keine JT-Ausbildung. Die genaue Zahl dieser Jugendlichen kennen wir nicht.
Meiner Meinung nach müssen wir davon ausgehen, dass diese Jugendlichen hier bleiben und arbeiten. Es ist eine zutiefst scheinheilige Situation: wir sind zufrieden, dass diese Jugendlichen im grauen und schwarzen Markt arbeiten, denn sie bezahlen ja Steuern und Versicherungsprämien. Das Recht auf Bildung empfinde ich als Grundrecht, ähnlich wie die die Rechte auf Bewegungsfreiheit oder Meinungsäusserungsfreiheit. In den 90er Jahren hatten die Kantonsbehörden den Saisonnierkindern erlaubt, die Schulen zu besuchen, weil man das Aufenthaltsrecht vom Recht auf Bildung entkoppelt hatte. Zur Schule gehen bedeutete nicht, dass man in der Schweiz bleiben durfte, aber die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung enthielt kein Schulverbot. In der heutigen Situation müssen wir das Recht auf Bildung vom Aufenthaltsrecht trennen, nicht zuletzt um auf die Ängste gegenüber einem allzu starken Wachstum von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung zu antworten. Die Menschen sollen und müssen sich ausbilden, auch wenn sie nicht hier bleiben dürfen. Die schweizerische Investition in die Ausbildung dieser Leute kann in diesem Sinne als Entwicklungshilfe betrachtet werden.
* Pascal Helle, verheiratet und Vater von drei Kindern, ist 1951 in Frankreich geboren. Seit 1973 arbeitet er als Lehrer, zunächst in einem Heim für sozial benachteiligte Jugendliche, dann in Aufnahmeklassen. Er ist Mitglied des Generalrats (Legislative) der Stadt Neuenburg seit 2006 (Solidarités).
Quelle: Mediendienst «Hälfte» www.haelfte.ch
(Übersetzung: Oswald Sigg)
01. Mai 2010
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