Kein Platz für Kleinlichkeiten
Zwanglos und unkompliziert ist das Zusammenleben auf dem Wagenplatz in Freienstein. Es ist früher Sonntagnachmittag, eine Gruppe der Nachbarschaft sitzt draussen beim Kaffee. Irgendwo auf dem Areal spielt ein Bewohner auf seinem Musikinstrument...
Es ist ein romantisches Bild: Hinter der stillgelegten Spinnerei Blumer, am Ufer der Töss, stehen ein knappes Dutzend umgebauter Zirkuswagen, dazwischen knorrige Bäume, Katzen, die sich in der Sonne räkeln. Die angrenzende Wiese wird von einem natürlichen Bachlauf durchzogen. «Wenn einer kommt», so Thorsten Meito «und meint, in einem Wagen zu leben sei einfach nur toll, dann weiss ich, dass er keine Ahnung hat.» Ein solches Leben könne man nicht planen – es entstehe einfach. Und die Nächte zwischen November und März seien rau, wer dann vergesse einzuheizen, könne gerade so gut im Freien schlafen. Thorsten Meito muss es wissen, denn bereits den fünfzehnten Winter hat er im Wagen verbracht – Holz geschleppt, Schnee geschippt. Mit einer Gruppe von Zirkusleuten, die nach dem Leben auf Achse ohne festen Wohnsitz waren, fand er hier auf dem Blumer-Areal vor sechs Jahren diesen idealen Platz. Mit dem ehemaligen Fabrik-Besitzer handelte er 2500 Franken Monatsmiete aus, das macht zwischen 250 und 300 Franken für jeden Bewohner. Mehr dürfte es nicht sein, denn viele dieser kreativen Menschen (sieben Männer und drei Frauen) sind ganz oder teilweise selbstständig. Sie verdienen ihr Geld als Schauspielerinnen, Clowns und Strassenkünstlerinnen oder als Suppenkoch, so wie Oskar Henkel. Er nimmt sich nur kurz Zeit für einen Kaffee, um dann wieder hämmernd und schleifend an seiner Werkbank zu arbeiten. Unter der Woche schwingt er den Suppenlöffel für «Suppen und Pedale», einen kleinen Bio-Suppen-Velokurier, dessen Team die vollen Töpfe mit dem Drahtesel ausliefert.
Ein ökologischer Lebensstil ergibt sich auf dem Wagenplatz wie von selbst. Alle Anwesenden pflichten dem bei, denn wer Trink- und Abwasser hin und her trägt, der verbraucht ziemlich bald nur noch das Minimum. Und mehr als eine Lampe pro Raum und Nase ist auch nicht nötig. In einem Winter verbrauchen sie gemeinsam lediglich 13 Ster Holz. Das sei etwa so viel, wie ein altes Bauernhaus verschlinge. Selbstverständlich achteten sie alle bewusst auf den Ressourcenverbrauch, doch für Dogmatismus oder Verhaltenszwang ist auf dem Gelände kein Platz. Die Nachbarschaft ist keine Glaubensgemeinschaft. Und obwohl sie sich ein Brünneli und eine Toilette im Gemeinschaftsraum der alten Fabrik teilen, stehen sie sich gegenseitig nicht auf den Füssen herum und lassen einander Platz für ihren individuellen Lebensstil. Wer seinen ganzen Haushalt auf wenigen Quadratmetern unterbringen muss, kann es sich nicht leisten, kompliziert zu werden oder unnützen Kram anzuhäufen. Die Wohnsituation prägt das Verhältnis unter den Nachbarn, die ihre Wagen recht dicht aneinander gestellt haben: Sie helfen sich gegenseitig, mischen sich aber nicht in persönliche Angelegenheiten ein. Der dreissigjährige Amir Ali ist seit fünf Jahren Wagenbewohner und beschreibt das Gemeinsame so: «Wir heizen einander auch mal den Wagen ein oder kochen und essen bei Gelegenheit zusammen», so wie heute: Bärlauchspaghetti für alle. Die Blätter vom Wald, die Nudeln von Aldi.
Es gab auch schon Leute, die den ganzen Platz in eine Öko-Gemeinschaft umbauen wollten, erzählt Thorsten, «aber ausschliesslich Bio zu essen, ist auf Dauer einfach unbezahlbar. Ich habe zwei Kinder». Sein zehnjähriger Sohn Mikko spielt mit seinem Freund auf der Super-Nanny›. Damit meint Thorsten das Riesentrampolin neben der Baumhütte, das die Kinder vorerst beschäftigt. Der Ort ist mit seinen vielen Ecken, verlassenen Bauten, fliessenden Wassern und Tümpeln nicht nur für Kinder und Bastler ein wildes Traumland, sondern bietet auch ideale Lebensbedingungen für Tiere aller Art. Denn die von der Gemeinde bewilligte «Zone für mobile Bauten» ist nur ein kleiner Teil des ganzen Fabrikgeländes, auf dem sich die Natur auf beeindruckende Weise ihren Raum zurückeroberte: Öfters sind hier Eisvögel, Käuze, Graureiher und Kraniche zu beobachten. Der Algenteich bietet Heimat für Frösche sowie diverse Libellenarten, aber auch Ringelnattern und Dachse gehören zu den wiederkehrenden Besuchern des Areals, das innert den nächsten zehn Jahren komplett überbaut werden und modernen Häusern Platz machen soll. Das ungezähmte Leben müsste dann etwas Übersichtlicherem, Lukrativerem weichen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. In der Zwischenzeit, solange die Baumaschinen noch nicht aufgefahren sind, geht das ideenreiche Miteinander weiter. Bald wird in der Runde ein Plätzchen frei, und wer nicht bis zum jährlichen Sommernachtsfest warten will, geht die wilden Nachbarn schon vorher besuchen, am besten bei Regenwetter, damit man nicht zu neidisch wird.
Weitere spannenden Geschichten, Beispiele und interessante Essays zum Thema «Nachbarschaft» im nächsten Zeitpunkt Ende April.
Mit einem Schnupperabo (drei Ausgaben für Fr. 20.-) verpassen Sie dieses Heft garantiert nicht: http://www.zeitpunkt.ch/abonnements/schnupperabo.html
Es ist ein romantisches Bild: Hinter der stillgelegten Spinnerei Blumer, am Ufer der Töss, stehen ein knappes Dutzend umgebauter Zirkuswagen, dazwischen knorrige Bäume, Katzen, die sich in der Sonne räkeln. Die angrenzende Wiese wird von einem natürlichen Bachlauf durchzogen. «Wenn einer kommt», so Thorsten Meito «und meint, in einem Wagen zu leben sei einfach nur toll, dann weiss ich, dass er keine Ahnung hat.» Ein solches Leben könne man nicht planen – es entstehe einfach. Und die Nächte zwischen November und März seien rau, wer dann vergesse einzuheizen, könne gerade so gut im Freien schlafen. Thorsten Meito muss es wissen, denn bereits den fünfzehnten Winter hat er im Wagen verbracht – Holz geschleppt, Schnee geschippt. Mit einer Gruppe von Zirkusleuten, die nach dem Leben auf Achse ohne festen Wohnsitz waren, fand er hier auf dem Blumer-Areal vor sechs Jahren diesen idealen Platz. Mit dem ehemaligen Fabrik-Besitzer handelte er 2500 Franken Monatsmiete aus, das macht zwischen 250 und 300 Franken für jeden Bewohner. Mehr dürfte es nicht sein, denn viele dieser kreativen Menschen (sieben Männer und drei Frauen) sind ganz oder teilweise selbstständig. Sie verdienen ihr Geld als Schauspielerinnen, Clowns und Strassenkünstlerinnen oder als Suppenkoch, so wie Oskar Henkel. Er nimmt sich nur kurz Zeit für einen Kaffee, um dann wieder hämmernd und schleifend an seiner Werkbank zu arbeiten. Unter der Woche schwingt er den Suppenlöffel für «Suppen und Pedale», einen kleinen Bio-Suppen-Velokurier, dessen Team die vollen Töpfe mit dem Drahtesel ausliefert.
Ein ökologischer Lebensstil ergibt sich auf dem Wagenplatz wie von selbst. Alle Anwesenden pflichten dem bei, denn wer Trink- und Abwasser hin und her trägt, der verbraucht ziemlich bald nur noch das Minimum. Und mehr als eine Lampe pro Raum und Nase ist auch nicht nötig. In einem Winter verbrauchen sie gemeinsam lediglich 13 Ster Holz. Das sei etwa so viel, wie ein altes Bauernhaus verschlinge. Selbstverständlich achteten sie alle bewusst auf den Ressourcenverbrauch, doch für Dogmatismus oder Verhaltenszwang ist auf dem Gelände kein Platz. Die Nachbarschaft ist keine Glaubensgemeinschaft. Und obwohl sie sich ein Brünneli und eine Toilette im Gemeinschaftsraum der alten Fabrik teilen, stehen sie sich gegenseitig nicht auf den Füssen herum und lassen einander Platz für ihren individuellen Lebensstil. Wer seinen ganzen Haushalt auf wenigen Quadratmetern unterbringen muss, kann es sich nicht leisten, kompliziert zu werden oder unnützen Kram anzuhäufen. Die Wohnsituation prägt das Verhältnis unter den Nachbarn, die ihre Wagen recht dicht aneinander gestellt haben: Sie helfen sich gegenseitig, mischen sich aber nicht in persönliche Angelegenheiten ein. Der dreissigjährige Amir Ali ist seit fünf Jahren Wagenbewohner und beschreibt das Gemeinsame so: «Wir heizen einander auch mal den Wagen ein oder kochen und essen bei Gelegenheit zusammen», so wie heute: Bärlauchspaghetti für alle. Die Blätter vom Wald, die Nudeln von Aldi.
Es gab auch schon Leute, die den ganzen Platz in eine Öko-Gemeinschaft umbauen wollten, erzählt Thorsten, «aber ausschliesslich Bio zu essen, ist auf Dauer einfach unbezahlbar. Ich habe zwei Kinder». Sein zehnjähriger Sohn Mikko spielt mit seinem Freund auf der Super-Nanny›. Damit meint Thorsten das Riesentrampolin neben der Baumhütte, das die Kinder vorerst beschäftigt. Der Ort ist mit seinen vielen Ecken, verlassenen Bauten, fliessenden Wassern und Tümpeln nicht nur für Kinder und Bastler ein wildes Traumland, sondern bietet auch ideale Lebensbedingungen für Tiere aller Art. Denn die von der Gemeinde bewilligte «Zone für mobile Bauten» ist nur ein kleiner Teil des ganzen Fabrikgeländes, auf dem sich die Natur auf beeindruckende Weise ihren Raum zurückeroberte: Öfters sind hier Eisvögel, Käuze, Graureiher und Kraniche zu beobachten. Der Algenteich bietet Heimat für Frösche sowie diverse Libellenarten, aber auch Ringelnattern und Dachse gehören zu den wiederkehrenden Besuchern des Areals, das innert den nächsten zehn Jahren komplett überbaut werden und modernen Häusern Platz machen soll. Das ungezähmte Leben müsste dann etwas Übersichtlicherem, Lukrativerem weichen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. In der Zwischenzeit, solange die Baumaschinen noch nicht aufgefahren sind, geht das ideenreiche Miteinander weiter. Bald wird in der Runde ein Plätzchen frei, und wer nicht bis zum jährlichen Sommernachtsfest warten will, geht die wilden Nachbarn schon vorher besuchen, am besten bei Regenwetter, damit man nicht zu neidisch wird.
Weitere spannenden Geschichten, Beispiele und interessante Essays zum Thema «Nachbarschaft» im nächsten Zeitpunkt Ende April.
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24. April 2011
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