Krise als Aufruf zur Veränderung: eine andere Denkweise

In unserer Serie «Was denkst du über die Krise? Wie bereitest du dich vor?» kommt diesmal der Seelsorger, Biographiearbeiter, Erwachsenenbildner und Ethiker Michael Baumgartner zu Wort. Durch die Begleitung von Sterbenden hat er intensive Lebenskrisen kennen und begleiten gelernt. Einiges daraus können wir für die äusseren Krise lernen.

(C) Foto: Ivan Samkov

Krise

Wie definierst Du Krise?

Michael Baumgartner: Eine Krise ist ein zeitlich beschränkter, ausserordentlicher Umstand, ein Ereignis, welche die eigene Existenz, das eigene Leben bedroht oder in Frage stellt. Sie kann von aussen an uns herantreten, z.B. ein Arbeitsverlust, oder aus unserem Leben hervorgehen, z.B. eine Krankheit. Beiden ist gemein, dass sie mit herkömmlichen Strategien meist nicht zu bewältigen sind. Ihre Bewältigung fordert Entwicklung oder mindestens eine ausserordentliche Anstrengung. Dabei ist die eigene Interpretation der Krise den Schlüssel für ihre Bewältigung. Ist eine Krise vorüber, sollte eine Rückkehr zu Normalität möglich sein. Bei dem, was wir heute erleben – u.a. die Verknappung von Energie und Rohstoffen – bezweifle ich, dass es sich nur um eine Krise handelt. Für mich sind das Zerfallserscheinungen. Eine Krise können wir möglicherweise aussitzen oder überbrücken, Zerfall nicht. Da nützen weder ein Bunker noch Notvorräte; da braucht es mehr. Da braucht es Veränderung.

 

Kannst Du etwas über den Zerfall ausführen?

Michael Baumgartner: Wir brauchen keine besondere Begabung, um zu verstehen, dass jede Kultur zu Ende geht. Ein Blick in die Geschichte genügt. Kulturen entstehen, erblühen, schenken der Welt etwas, bevor sie vergehen. Es ist infantil zu meinen, dass unsere Kultur – der Materialismus – nur weil er weltumspannend scheint, nicht auch zu Ende geht.
Wir wissen seit Jahren, dass wir über unsere Verhältnisse leben und natürliche Grenzen ignorieren. Unser Reichtum beruht auf Ausbeutung, Nicht nur Ausbeutung von Rohstoffen, auf die wir besser verzichten sollten. Sondern - was noch viel schlimmer ist – auf Ausbeutung von Menschen. Wohlstand steht auf Armut. Jeder Mensch verbraucht Lebensgrundlagen; je mehr einer für sich beansprucht, desto weniger stehen andern zur Verfügung. Mahatma Gandhi soll einmal gesagt haben, die Welt bietet genug für alle, aber nicht für die Gier aller. Leere Regale – wie ich sie wegen der Corona-Massnahmen zum ersten Mal in unserem Dorf erlebt habe – können Zeichen einer momentanen Krise sein. Hält eine solche Verknappung an und führt sie zu Verteuerung, dann sind das Zerfallserscheinungen eines kranken Wirtschaftssystems mit Verknappung und Überschuss als ihm innewohnende Charakteristika.

Krise und Zerfall sind letztlich Hinweise auf verpasste Veränderungen.

Es braucht also Veränderungswillen statt Krisenstrategien?

Michael Baumgartner: Ich denke ja. Wir Menschen haben die Möglichkeit, uns zu verändern. Das unterscheidet uns ganz wesentlich von allen rein naturgebundenen Wesen. Tiere und Pflanzen können sich nur anpassen, nicht aber verändern. Wir Menschen schon. Wenn wir hier also den Begriff «Krise» verwenden wollen, dann sollten wir von Krisen (plural!), hervorgerufen durch lang versäumte Veränderungen, sprechen. Krise und Zerfall sind letztlich Hinweise auf verpasste Veränderungen.
Veränderung macht Angst. Angst ist eine starke und problematische Emotion, denn sie macht blind. Wir sind dann nicht in der Lage, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten. Hamsterkäufe nützen bei Veränderung ebensowenig wie Einbunkern. Mit Gier und Egoismus wird auf Gier und Egoismus reagiert. Das macht es vielen unmöglich, auch nur ihren Tagesbedarf zu decken. Das ist keine Krise, das ist die Grundlage unseres Wirtschaftssystems und schreit förmlich nach Veränderung.

 

Niemand gibt uns die Garantie, dass die getroffenen Massnahmen die richtigen sind.

Du arbeitest mit Menschen mit Krebs, wie erlebst Du da Krise?

Michael Baumgartner: Krebs ist keine Krise. Es ist ein Zeichen, dass der menschliche Organismus überbelastet ist, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Also auch eine Zerfallserscheinung. Ich sehe da Parallelen zum «westlichen» Kulturzerfall. 
Menschen, die sich mit dem Label «Krebs» konfrontiert sehen, tun häufig das, was von Personen geraten wird, die sie als kompetenter erachten als sich selber. Ratschläge von Ärzten werden dann oft sehr gewissenhaft umgesetzt. Was aber, wenn alles befolgt wird und das trotzdem nichts hilft? Eine Klientin von mir, die an Krebs erkrankt war, tat alles, was ihr von der Medizin vorgeschlagen wurde. Sie starb viel früher, als selbst sie es erwartet hätte und zwar an den Folgen der Behandlung. Das wusste sie nicht nur selbst. Sie ist leider bei weitem keine Ausnahme im heutigen medizinisch-industriellen Komplex. 
Was für jede Behandlung gilt, gilt auch in der Krisenvorbereitung: Niemand gibt uns die Garantie, dass die getroffenen Massnahmen die richtigen sind. Das Schöne und vielleicht auch Grausame am Leben ist, dass es unberechenbar bleibt.
In der Arbeit mit Krebspatienten steht oft die Frage am Anfang: Was ist denn in meinem Leben «entartet»? Denn das physische Symptom von Krebs sind entartete Zellen. Wir fokussieren dann auf Veränderungen, die anstehen. Denn Zerfall ist immer auch Neubeginn. Wichtige zentrale Fragen sind: Was will leben? Wozu fordert mich mein Leben auf?
Energie fliesst dahin, wo unsere Aufmerksamkeit ist. Um heilend auf Krankheit zu wirken, muss die Kraft heilend sein. Dabei sollten wir verstehen, dass Krankheit eigentlich immer der Versuch eines Organismus ist, korrigierend auf (anhaltende) Störung zu reagieren. Krankheit ist ein Symptom, das darauf hinweist, dass etwas aus dem Ruder läuft. Genau so wie Verknappung ein Symptom eines bereits gestörten Wirtschaftssystems ist. 
Wir können den Ansatz der Salutogenese wählen und uns auf das konzentrieren, was noch gesund ist. Damit können wir positiv auf den gesamten Organismus wirken. Wir sollten nicht vergessen, solange wir nicht physisch tot sind, leben wir und können das Leben stärken! Auch während eines Krieges findet Leben statt. Die Frage ist: Womit verbinde ich mich: mit dem Lebendigen oder dem Zerfallenden? 
Veränderung IST Leben. Denn Leben IST Veränderung! Stillstand ist Tod. Fokus auf Zerfall wird zur Totengräberei. In Krankheit ist immer auch Leben vorhanden. Das können wir stärken. Für meine Klienten heisst das: Was ist auch weiterhin möglich in meinem Leben? Und auch: was wird jetzt erst möglich? Nicht weil es bisher nicht möglich war, sondern weil ich nicht darauf geachtet habe. Ich kann jederzeit aus meiner Alltäglichkeit heraustreten. Diese Möglichkeit habe ich immer. Nur tun wir es meist nicht, weil Leben nicht planbar ist; überlegen schon. Wir sollten uns einfach bewusst sein, planen ist etwas Künstliches und kann voll in die Hosen gehen. Die Wolken, die ich meine, am Horizontwahrzunehmen, kommen vielleicht nie bis zu mir. Während ich auf sie starre, verpasse ich das Leben. Und: irgendwo gibt es immer schwarze Wolken, auch wenn wir sie nicht sehen. 
Eine Krise ruft also geradezu nach Veränderung, und Veränderung beschwört Ängste. Unsere Kultur ist angstgeprägt. Wir nähren unsere Ängste und fördern so Krisen und Zerfall. Eine grosse Angst in unserer Kultur ist die Angst vor unserem physischen Ableben. Der Tod jedoch ist die Konsequenz unseres irdischen Lebens, er ist eine Realität. Wenn wir diese Realität akzeptieren, können wir auch lernen, mit Schmerzen zu leben. Denn genauso wie der Tod sind Schmerzen unausweichlich. Sie formen uns. Das Bild des Phönix, der aus der Asche geboren wird, immer aufs Neue, kommt mir in den Sinn. Es ist eine Metapher für den Menschen, der aus Schmerz geboren wird; immer wieder neu. Der Versuch, Schmerz von uns fern zu halten, ist eine vergebliche Mühe. Würde dieser Versuch gelingen, so hätten wir unserem Leben einen Lebensquell geraubt. Lernen wir also, mit Schmerzen umzugehen. Und lernen wir zu sterben, denn das werden wir alle.

 

Angst ist also der zentrale Punkt in der Bewältigung von Krisen und im Umgang mit Veränderungen? Kannst Du mehr dazu ausführen, wie Du der Angst begegnest?

Michael Baumgartner: Angst, eines unserer vier Grundgefühle, ist als Warnung lebenswichtig, als Lebensausrichtung jedoch macht sie krank. Statt AUS Angst zu reagieren können wir AUF Angst aufmerksam werden. Mit meinen Klienten sieht das ganz konkret so aus: Ich lade sie ein, ihre Angst einzuladen und sie dann auszuhalten, unter Befolgung meiner Anweisungen. Ich begleite sie durch ihre Angst. Und da stellen wir immer wieder fest, dass die Angst in der Tat verblasst, wenn wir das zulassen. Solche Erlebnisse sind Befreiung und Schlüssel, die Angst als Hinweis zu verstehen und sich dann wieder dem Leben zuzuwenden. Wir wenden uns dann Aufgabe stellen wie: Was fordert dieser Moment, dieser Tag? Bringen wir in Ordnung, was in Ordnung gebracht werden will, solange wir das noch können. Lassen wir uns nicht mit Überleben abspeisen!
Wenn wir uns mit einem «in Aussicht gestellten Tod» auf eine medizinische Reise einlassen, kommen wir fast nicht mehr zur Ruhe. Die Blutwerte werden analysiert und nach irgendwelchen «Markern» getestet. Dauernd wird irgendetwas angeschaut und in einen krampfhaften Zusammenhang mit möglichem Unheil gestellt, ohne wirklich zu verstehen, obsolche «surrogate Marker» klinisch wirklich relevant sind. Wissenschaft ist doch eigentlich immer der neuste Stand des Irrtums. Prognosen können irren, verursachen aber trotzdem unnötiges Leiden. Wir lassen uns fortführen von unseremLeben, uns in «medizinisch-wissenschaftliche» Trance versetzen. Unsere Selbstwahrnehmung verkümmert, weil wir ihr nicht mehr vertrauen. Das sollen wir auch nicht. Aber wenn wir unsere Sinne und unser Denken nicht brauchen,verkümmern sie und auch unser Leben. Lebende Tote – Zombies – und auf eine imaginäre Schlange fixierte «Mäuschen»gibt es viele. Gehören wir zu denen oder leben wir noch?
Wenn wir auch in kritischen Momenten auf das Leben fokussieren, verbinden wir uns mit Lebenskräften. Was dann geschieht, wird zu dem, was wir Schicksal nennen, nicht Zufall. Wir können dem Abgrund entgegen fantasieren oder erkennen, was schief gelaufen ist und unseren Sinn ändern. Das garantiert uns vielleicht nicht ein längeres Leben, aber ein menschlicheres. 

 

Es geht also darum, auch in schwierigen Zeiten Mensch zu bleiben.

Michael Baumgartner: Genau! Ich liebe die orientalische Weisheit «Insha´allah»: So Gott will. Viele Menschen leben auf der Welt danach, wohl weil sich die meisten von ihnen keine Vorsorge leisten können. Geplant wird höchstens für den Moment; dafür vielleicht umso bewusster. Solche Menschen leben nicht weniger, wenn auch vielleicht weniger lang. Ur- oder Gottvertrauen – wie ausgedrückt mit der Redewendung «Insha´allah» – kann auch damit zu tun haben, dass wir wach bleiben für den Moment.
Dieses Urvertrauen ist uns modernen Menschen verloren gegangen. Und es ist an uns, es neu zu erringen. Wir meinen, wir können das Leben vermessen, wägen, berechnen, planen und versichern und sind dann frustriert, wenn trotz Planen, Messen, Wägen, Berechnen und Versichern die Katastrophe eintrifft. Was wir dann tun, wenn wir tatsächlich von schweren Lebensumständen gepackt werden, wissen wir eigentlich erst in diesem Moment. Eine Versicherung kann helfen, Schaden erträglicher zu machen. Sie entbindet uns aber nicht, das Beste aus einer Situation zu machen,schicksalsgestaltend zu werden. Ich wünsche uns allen in solchen Situationen mehr Geistesgegenwart.
Ich erinnere mich an eine vierzigjährige Klientin von mir, bei der Krebs diagnostiziert wurde. Sie entschied sich für eine Weltreise und gegen das Fortführen der Behandlungen. Sie wollte das immer schon tun, hatte es aber immer aufgeschoben. Nach einer erfüllenden Weltreise ist sie zufrieden gestorben. Sie hat sich ihr Leben zurück geholt. Jedes Leben hier auf Erden ist endlich! Sie hat ihre Endlichkeit mit Leben gefüllt, statt dem Leben mehr Endlichkeit ab zu ringen.
Wir sollten uns davor hüten, auch in schwierigen Zeiten Un-Menschen zu werden! Ob Krieg oder Krise, die Tagesaufgaben bleiben die gleichen: das Tun des Richtigen! Wenn ich einen vollen Keller habe, lass ich meine Nachbarin hungern, damit meine Vorräte länger reichen? Mögen wir immer die menschliche Entscheidung ergreifen. Die werden wir auch in Krisen erkennen.

Elisabeth Kübler-Ross hat immer gesagt, jeder von uns hat eine Mutter Theresa und einen Hitler in sich.

Elisabeth Kübler-Ross hat immer gesagt, jeder von uns hat eine Mutter Theresa und einen Hitler in sich. Ich stimmte dem nie zu. Es gibt Menschen, für die ist Hitler selbst angesichts von Folter und Tod keine Option. Denken wir gerade an die Mitglieder der Weissen Rose, der deutschen Widerstandsbewegung gegen das Nazi-Regime, die gerade von jungen Menschen getragen wurde. Sie wussten um den Preis – ein gewaltsamer Tod – und haben sich trotzdem für das Menschsein entschieden, bis zuletzt und mit allen Konsequenzen. Zu welchen wollen wir zählen: zu denen, die sich ans Überleben klammern oder zu denen, die das Menschsein wählen, über alles andere?

Wir tun also gut daran, unseren inneren Egoisten zu konfrontieren.


Überlegen wir, wie wir wahrgenommen werden wollen und in Erinnerung bleiben sollen: als Mensch oder als Egoist? Es sollte uns nicht physisches Ableben schrecken – was letztlich eine Geistgeburt ist –, sondern falsches Leben oder Un-Leben. Ist es nicht besser, richtig zu sterben als falsch zu leben? Warum denn soll gerade ich den Krieg überleben? Warum nicht ein Kind an meiner statt? Was gibt mir das Recht, mehr als nötig zu wollen, wenn ich weiss, dass sogar in Zeiten ohne Krise Kinder Mangel leiden?
Wenn die Welt schwierig wird – und das wird sie in der Tat – welcher Kompass ist wichtiger: der in der Richtung möglichen Überlebens oder der, der mir hilft, mein Menschsein nicht zu verlieren? Ist Lebensdauer wirklich wichtiger als Lebensqualität, als Menschsein? Solche Fragen sollten wir uns im Leben stellen – und nicht unbeantwortbare wie die nach der Lebensdauer. Denn in jedes Menschen Leben kommt der Punkt, wo Überleben keine Option mehr ist. Ein egoistischer Entscheid kann unser Leben verlängern, aber zum Bumerang werden. Unmensch sein, wird unerträglich werden, nicht nur für andere. Wir tun also gut daran, unseren inneren Egoisten zu konfrontieren, BEVOR wir in einer vermeintlichen Krise als Menschen entgleisen.
Alles hat seine Zeit: Zeit zu leben und auch die Zeit zu sterben. An die Realität kurzer – deswegen jedoch nicht weniger wertvoller – Leben müssen wir uns – entgegen aller technologischen Versprechen – erst wieder gewöhnen. Mensch zu bleiben auch in Zeiten von Krise und Zerfall, mag unser Leben vielleicht nicht verlängern und garantiert auch keinen schmerzfreien Tod. Aber wenigstens sterben wir als Menschen. Ändern wir also unseren Sinn, statt uns mit Überleben abspeisen zu lassen. Füllen wir jeden Moment mit Leben, denn der Moment ist immer der unsere!

Vielen Dank für das Gespräch. 

Mehr über die Arbeit von Michael Baumgartner findet sich unter www.derentwickler.ch

 

Krise

Wie beurteilen Sie die Lage? Und vor allem: Wie bereiten Sie sich auf die Krise vor? Wofür würden Sie bei Ihrem Nachbarn klingeln? Am liebsten ist uns eine schriftliche Antwort per E-Mail an: [email protected], dann hat die fleissige Redaktion am wenigsten Arbeit.
Es darf auch ganz kurz sein!
Sie können uns auch eine Nachricht mit Ihrer Telefonnummer und ein paar Stichworten schicken. Wir nehmen dann Kontakt mit Ihnen auf und schreiben aus dem Gesprächsprotokoll einen Artikel.

19. Dezember 2022
von: